Kapitel 13

Bei Lüttich, Belgien,
August 1914

Der Halbmond klebte wie ein schiefes Lächeln am Himmel und beleuchtete mit seinem fahlen Licht die Szenerie, die sich Hannes bot.

Auf der gepflasterten Straße, rechts von der Infanterie, rollten unter mächtigem Getöse die Kanonen und Munitionswagen, gezogen von kräftigen, schwitzenden Rössern, auf einem gekiesten Fußweg ritt die Kavallerie. Inzwischen zeigten nicht mehr nur die Uniformen der Soldaten und die Geschirre, Gewehre und Wagen ein einheitliches Grau, sogar die Pferde nahmen durch den aufgewirbelten Straßenstaub mittlerweile diese düstere Einheitsfarbe an. Die Tritte der genagelten Stiefel hallten hohl zwischen den Häusern wider, mischten sich mit dem Hufschlag der Pferde und dem Knirschen der Wagenräder auf den Pflastersteinen.

Hannes Meindorff rückte sich den schweren Tornister, dessen Schulterriemen ihm schmerzhaft in die Schultern schnitt, und das Mauser-Gewehr zurecht, während er zügig weitermarschierte. Die Anforderungen der Heeresleitung waren enorm, denn ganze Armeen sollten rund 32 Kilometer pro Tag zurücklegen und das, obwohl sich ihnen die Belgier bereits entgegengeworfen hatten. Ihren Widerstand galt es schnellstmöglich beiseitezufegen, damit die Umklammerung der französischen Truppen innerhalb der gesetzten Frist erreicht werden konnte, ganz so, wie der Schlieffen-Plan es vorsah.

Hannes machten diese Gewaltmärsche nichts aus, peitschte ihn doch sein Enthusiasmus für diesen Krieg voran. Er wollte von Schlacht zu Schlacht eilen, sich seine Sporen verdienen und die ihm anvertrauten Soldaten zur Höchstleistung anfeuern. Gern war er bereit, den Franzosen eins auf die Schnauze zu geben, wie es schon auf der Militärschule thematisiert worden war.

Im November – wenn der Krieg vorbei war – würde er als gefeierter Held und strahlender Sieger zu Edith und ihren beiden Töchtern zurückkehren. Vielleicht lud ihn dann sogar sein Vater zu sich ein, sprach ihm seine Anerkennung aus und begriff endlich, wie hinreißend seine Schwiegertochter und seine beiden Enkelkinder waren. Bei dem Gedanken an seine Familie erfüllte liebevolle Fröhlichkeit Hannes’ Herz. Gegen den Willen seines Vaters hatte er die Liebe seines Lebens geheiratet. Obwohl Edith ein paar Jahre älter war als Hannes, harmonierten sie hervorragend miteinander. Er fühlte sich durch seine Frau und seine Kinder reich beschenkt. Was machte es da schon, dass er die Achtung seines Vaters – die er nie wirklich besessen zu haben glaubte – gänzlich verloren hatte, ebenso wie sein Zuhause und seinen Anteil an Meindorff-Elektrik? Hannes beschloss, das weiterhin einfach zu akzeptieren, wenngleich es ihm gelegentlich schwerfiel. Immerhin durfte er sich glücklich schätzen, dass er von drei wunderbaren Menschen geliebt wurde. Sein Vater dagegen war seit Jahren verwitwet, wurde von seinen Geschäftspartnern zwar respektiert, aber nicht gemocht, und von den Konkurrenten gehasst. Im Grunde war er ein zutiefst bemitleidenswerter Mann.

Hannes’ Bruder Joseph hatte sich bei der Wahl seiner Ehefrau den Wünschen des Vaters gebeugt und war damit nicht weniger einsam geworden als der Rittmeister selbst, obwohl sich seine Gattin bester Gesundheit erfreute. Und Philippe hatte seine Verlobte bei einem Feuergefecht in Afrika verloren. Umso dankbarer war Hannes für seine Familie, die er sich so hart erkämpft hatte!

Zwei Schüsse hallten dröhnend von den dicht nebeneinanderstehenden Gebäudefassaden wider. Hannes schrak aus seinen Gedanken auf. In der Dunkelheit konnte er zwischen den Gebäuden nicht viel erkennen, hörte aber über die entstehende Unruhe hinweg, wie sich ein paar Soldaten gewaltsam Zugang zu einem Haus verschafften. Wieder peitschten Schüsse und übertönten das Getrampel der Soldatenstiefel.

Die Division marschierte scheinbar unbeeindruckt voran und somit gelangte auch er an den Ort des Geschehens. Hinter einer eingetretenen Tür lagen zwei Leichen. Wütend presste Hannes die Lippen zusammen. Was fiel der Stadtbevölkerung ein, sich den Anweisungen zu widersetzen, die lauteten, dass Türen und Fenster geschlossen bleiben sollten? Dieser feige Angriff aus dem Hinterhalt hatte vermutlich einen ihrer deutschen Soldaten verletzt und …

Er erstarrte. Der Lichtschein einer im Haus flackernden Kerze fiel auf die zerschossenen Gesichter der beiden Toten. Hannes blieb trotz des entsetzlichen Anblicks nicht stehen. Sein Körper marschierte wie von selbst vorwärts, nur vorwärts. Er hatte nicht etwa gegen eine in ihm aufsteigende Übelkeit anzukämpfen, sondern gegen eine ihm unerklärliche, plötzlich aufgetretene Furcht vor dem grauen Ungetüm, von dem er ein unbedeutender Teil geworden war.

Und während sich die 2. Armee Kilometer für Kilometer vorwärtsschob, behielt er immerzu das Bild der erschossenen Frau und ihrer noch minderjährigen Tochter vor Augen. War das der Krieg, in den er mit viel Patriotismus zog? Waren diese Frau und ihre Tochter der Feind?