Kapitel 39

Bei Riga, russisches Gouvernement Livland,
August 1915

Ein Kavallerieregiment donnerte an Robert vorbei und wirbelte die trockene Erde auf wie tanzende Dämonen, ehe der frische Ostseewind sie mit sich davontrug. Scharf gebrüllte Befehle erfüllten die Luft, und schwarz glänzende Raben flatterten auf, um sich nur Sekunden später an derselben Stelle wieder niederzulassen. Robert schaute lieber nicht so genau hin, über was die Vögel sich so gierig hermachten.

Er war kein grüner Junge mehr, weder was seine Tätigkeit als Arzt betraf, denn Übung bekam er in diesem Krieg genug, noch was seine Erfahrungen mit sich verschiebenden Frontabschnitten, dem ständigen Gebrüll der Waffen und dem Leiden und Sterben Abertausender Männer anging.

Robert hatte den Vormarsch der deutschen und k.u. k. Truppen in Richtung der Flüsse San und Dnjester miterlebt, ebenso wie die Wiedereinnahme Lembergs. Die Mittelmächte32 hatten Galizien von den Russen befreit und die russische Armee nach nur sieben Wochen in ihre Ausgangsstellungen zurückgedrängt; damit entbrannte der Kampf um Polen. Mehrere Hunderttausend Mann waren bis dahin auf beiden Seiten gefallen.

In dieser Zeit war Robert befördert und versetzt worden, sodass er sich nun vor den Toren der von vielen Deutschen bewohnten Stadt Riga wiederfand – allerdings noch immer in Begleitung der deutsch-polnischen Rotkreuzschwester Rosalie. Diese rief gerade mit ihrer schneidenden Stimme nach ihm, während er sich viel lieber der Überlegung hingegeben hätte, dass er Anki so nah wie nie in den vergangenen Monaten war. Nur etwa 600 Kilometer lagen zwischen ihnen.

Als die Kavallerie vorüber war, reihten sich die Flüchtlingswagen wieder auf der Straße ein. Einen Augenblick lang sah der deutsche Arzt zu, wie die nicht enden wollende Kolonne mit ihren klapprigen Wagen, Ochsen und Pferden, den müden Kindern und abgehärmten Frauen und älteren Männern an ihm vorüberzog. Wie sie flohen in allen Gegenden, in die der Krieg seine Klauen grub, die heimatlosen Menschen von einem Ort zum nächsten. Das war in Polen und Russland nicht anders als in Frankreich oder auf dem Balkan.

»Kommen Sie jetzt endlich!«, fauchte Rosalie ihn an. Sie trat direkt vor ihn, blickte herausfordernd zu ihm auf und schenkte ihm zu seiner Verwunderung plötzlich ein kokettes Lächeln. »Wenn Ihnen die Träumereien nicht mehr ausreichen: Ich stelle mich zur Verfügung. Nur müssten wir dazu in Ihre Unterkunft, wir Schwestern sind mal wieder zu dritt untergebracht.«

Robert starrte irritiert in das Gesicht der Krankenschwester und benötigte einen Moment, ehe er begriff, welche Bedeutung ihren Worten beizumessen war. »Ich bin verlobt!«, gab er barsch zurück.

Die Frau reagierte mit einem gleichgültigen Schulterzucken. »Na und? Sie ist weit weg und braucht es nie zu erfahren. Wer weiß, vielleicht vergnügt sie sich auch anderweitig. So eine Verlobung bedeutet heute doch nichts mehr.« Mit diesen Worten lehnte sie sich einladend an ihn.

Robert packte sie an den Schultern und stieß sie grob von sich, sodass sie ein paar Schritte rückwärtstaumelte. Er vermisste Anki sehnsüchtig. Rosalies Angebot und ihre Berührung ließen ihn nicht kalt, doch er wollte keinesfalls zulassen, dass sich eine derartige Idee auch nur in seine Gedanken schlich.

»He, es reicht völlig, wenn Sie einfach nur Nein sagen«, zürnte sie, drehte sich um und stapfte wütend über die Demütigung davon.

Robert folgte ihr langsamer, stieg über die Füße der noch nicht behandelten Verletzten hinweg, die auf dem blanken Boden lagen, und betrat nach ihr das Lazarettzelt. Die Außenplanen blähten sich im Wind und brachten das Gestänge und ein paar aufgehängte medizinische Instrumente und Getränkebehälter zum Klappern.

Von nun an sprach Rosalie nur noch das Nötigste mit ihm und das in einem Tonfall, der noch beißender und unfreundlicher war, als es ohnehin ihrem Wesen entsprach.

Wenig später sah er sie im Gespräch mit dem Oberarzt und einem anderen Sanitätsoffizier, wobei die drei in seine Richtung blickten.

Rosalie entfernte sich – mit einer obszönen Geste an seine Adresse, über die er genervt den Kopf schüttelte. Hatte er nicht schon genug mit den Anforderungen des Krieges, der mangelhaften Versorgung der Verletzten und seinem privaten Kummer zu tun? Robert kam nicht dazu, länger diesen Überlegungen nachzuhängen. Noch während er sich über seinen ersten Patienten an diesem Tag beugte, näherte sich ihm der Oberarzt, ein schneidig auftretender Mann in den Vierzigern, mit dem er bis jetzt kaum zu tun gehabt hatte.

»Busch?«

Robert behielt sowohl die Pinzette als auch die gebogene Schere knapp oberhalb des aufgeschnittenen Hosenbeins des Soldaten in den Händen, drehte aber den Kopf.

»Legen Sie das beiseite, Sie bekommen vorübergehend ein neues Einsatzfeld.« Robert gehorchte und legte das blank glänzende Besteck in die dafür vorgesehene Metallschale des Holzkoffers. »Die Russen haben ein paar Verbandsplätze beschossen, sodass wir jetzt an der Front Mangel an Ärzten haben. Ich will Ihnen nichts vormachen. Für diesen Einsatz sind Sie als Assistenzarzt überqualifiziert, aber wenn die uns die Jungs ohne Erstversorgung schicken, verlieren wir noch mehr Männer als ohnehin schon. Schwester Rosalie wies mich darauf hin, dass Sie bereits Fronterfahrung haben, sich also wohl in der unmittelbaren Nähe detonierender Geschosse geschickter anstellen als die frischen Hilfsärzte, die wir kürzlich zugeteilt bekamen. Packen Sie Ihre Sachen, in zehn Minuten kommen ein paar Mineure vorbei. Die nehmen Sie mit.«

Nach dieser Erklärung drehte der Oberarzt sich um und schritt über das niedergetretene Gras davon. Zurück blieben ein perplexer Robert und eine boshaft grinsende Rotkreuzschwester.

***

Obwohl der Verbandsplatz als solcher ausgeflaggt war, explodierten auf diesem knapp hintereinander zwei Granaten. Die Druckwelle schleuderte einige Männer zu Boden, unter ihnen auch Robert. Die Holztragen, sein Verbandskoffer, eine Waschschüssel und bereitgelegtes Verbandszeug prasselte auf ihn herab. Diesen Geschossen folgten Erdbrocken, Steine und schließlich ein Helm. Der Arzt blieb flach auf den sumpfigen Boden gepresst liegen, die Hände schützend über seinen Kopf verschränkt, und hörte nichts als ein schreckliches Pfeifen in seinen Ohren.

Als der erste Tumult sich gelegt hatte und auch sein Gehör wieder mehr aufnahm als nur dieses quälende Kreischen, schob er sich auf die Knie. Dort, wo zuvor noch drei Reihen Verletzter gelegen hatten, klafften zwei tiefe Löcher in der Erde, in denen sich sofort Wasser sammelte. Über ihm wallte eine grauschwarze Wolke in Richtung Riga davon.

»Sind Sie verletzt, Herr Assistenzarzt?«, schrie ihn ein Sanitäter an. Offenbar hatte er noch stärkere Probleme mit seinem Gehör als Robert. Dieser schüttelte den Kopf, erhob sich und prüfte, ob er irgendwelche Verletzungen davongetragen hatte. Seine Uniform war schmutz- und rauchgeschwärzt, sein Gesicht sah vermutlich nicht besser aus, doch bis auf ein paar Prellungen war er heil geblieben.

»Welcher Idiot von russischem Artilleristen ignoriert unsere Beflaggung?«, wütete ein Träger, der gehofft hatte, hier auf dem Verbandsplatz ein paar Minuten ausruhen zu können. Die Krankenträger galten als bevorzugte Beute von Scharfschützen. Ihr Leben an der Front kam einem endlosen Spießrutenlauf gleich.

Robert überprüfte, ob die Flaggen noch an den Holzmasten wehten, selbst wenn ihm inzwischen klar war, dass auch sie keinen Schutz bedeuteten.

»Der Frontverlauf rückt näher. Ich habe den Eindruck, die Russen wehren sich wie wild dagegen, uns Riga so billig in den Schoß fallen zu lassen wie Lemberg, Warschau oder die anderen größeren Städte.« Der Sanitäter streckte Robert ein Stück nicht eben sauberen Verbandsmull entgegen und beugte auffordernd den Nacken. Blut lief ihm aus einer gut acht Zentimeter langen, aber oberflächlichen Wunde unterhalb seines Haaransatzes und Robert versorgte sie.

»Ob wir den Verbandsplatz räumen sollten?«

»Das liegt in Ihrem Ermessen, Herr Assistenzarzt. Sie sind der Ranghöchste.«

Robert sah sich um. Die Anzahl der Verletzten hatte sich nach dem Beschuss dramatisch verkleinert. Der Tod war ohne Vorwarnung und schnell über sie gekommen. Zwischen den Hügeln hindurch rannten zwei schlammbespritzte Träger mit einem vor Schmerzen brüllenden Verletzten auf einer Bahre auf ihn zu.

»Fragen Sie die Jungs nach der Lage an der Front«, wies er den Sanitäter an, der dem Auftrag sofort nachkam, während Robert über den Platz eilte und schockiert feststellte, dass sie neben rund fünfzig Verletzten auch etliche Sanitäter, Träger, zwei Kutscher und ein Zugpferd eingebüßt hatten.

»Achtung!«, brüllte ein am Boden liegender, leicht verletzter Soldat und presste die Augen zu, als könne ihn dies vor dem Tod retten. Nun hörte Robert es auch: ein stetig lauter werdendes Pfeifen, das zu einem Jaulen anschwoll. Geistesgegenwärtig warf er sich kopfüber in den nächstgelegenen Granattrichter. Als er auf dessen Grund ankam und gegen einen anderen Mann fiel, detonierten um ihn her nacheinander sieben Geschosse. Der Lärm und die Feuerblitze waren infernalisch. Steine und Dreck spritzten zischend über ihn hinweg. Ein Schuh, in dem noch ein Fuß steckte, traf Robert im Gesicht. Erneut prasselten zerfetzte Gegenstände und Körperteile auf ihn herab. In einem fort detonierten die feindlichen Granaten, rissen Wunden in die Erde, brachten Lärm, Feuer, Hitze, Gestank, Chaos, Tod und Verderben. Irgendwann verebbte der Lärm und es fielen auch keine Gegenstände mehr herab, die von der Wucht der Explosionen aufgewirbelt worden waren.

Aus Sekunden wurden Minuten. Robert rührte sich nicht. Auch der Mann neben ihm verharrte reglos, nur sein hart gehender Atem streifte Roberts Arm und verriet ihm, dass er noch am Leben war.

Schließlich rappelte Robert sich auf und warf einen Blick auf den Soldaten. Es war ein Leutnant, dem ein Bein fehlte. Das Sickerwasser im Trichter war inzwischen rot verfärbt.

»Ich helfe Ihnen sofort, Herr Leutnant«, stammelte er und stemmte sich ein Stück nach oben. Was er sah, verschlug ihm den Atem. Mehrere kleine Brandherde rauchten heftig. Der Verbandsplatz bestand nur noch aus tiefen Löchern, morastiger Erde, zerstörtem Equipment und verstümmelten Leichen. Einzig ein Fahnenmast stand noch aufrecht und an ihm flatterte beinahe höhnisch munter die weiße Flagge mit dem roten Kreuz im Wind.

Einige Augenblicke lang wusste Robert nicht, was er tun sollte. Schließlich besann er sich auf das Nächstliegende. Er rutschte in den Trichter zurück und kniete sich neben den Leutnant, außer ihm der einzige Überlebende. Die Augenlider des Mannes flatterten. Er hatte viel Blut verloren. Robert schob das zerfetzte Hosenbein nach oben und betrachtete die noch nicht versorgte Verletzung. Ob dies der Mann war, der Sekunden vor der zweiten Angriffswelle herbeigetragen worden war?

Ein metallisches Klicken in seinem Rücken und die aufgerissenen Augen seines Patienten ließen Robert den Kopf drehen. Oberhalb des Kraters stand breitbeinig ein russischer Soldat, das Gewehr unmissverständlich auf den Kopf des Arztes gerichtet.

»Hände hinter den Kopf«, lautete der russische Befehl.

Robert gehorchte sofort. Er brachte es sogar fertig, dem Mann in dessen Muttersprache zu antworten: »Ich bin Arzt. Dieser Leutnant hier ist schwer verletzt.«

Die Augenbrauen des Russen zuckten hoch, wohl verwundert darüber, dass ein Deutscher seine Sprache nahezu akzentfrei beherrschte. Dann schwenkte er seine Waffe ein Stück zur Seite und unter seinen Schüssen bäumte sich der Verletzte auf, ehe er tot zurücksackte.

Robert schloss resigniert die Augen. Anscheinend machten die Russen keine Gefangenen mehr. Demnach würde er als Nächster sterben. Seine Gedanken wanderten zu Anki, bevor ein tief in seinem Gehirn und seinem Herzen verwurzeltes Gebet, das ihn selbst in diesen Sekunden nicht verließ, leise über seine Lippen kam: »Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln33 …«

32 Gegner der Entente. Militärbündnis aus Deutschem Reich, Österreich-Ungarn, Osmanischem Reich und Bulgarien. Auch als Zentralmächte oder Vierbund bekannt.

33 Psalm 23