Kapitel 44

Schwerin, Deutsches Reich,
Dezember 1916

Verdun und Somme hieß das Grauen der Soldaten an der Westfront, Menschenschlangen und die ersten Hungertoten das der Menschen in den Städten. Da waren Helden und ihre Mythen willkommen, so wie die Fokkerplage34, die allerdings mit Max Immelmanns Tod und der Tatsache, dass den Franzosen eines der Fokkerflugzeuge in die Hände fiel, ein jähes Ende fanden. Mit Oswald Boelckes Absturz verloren die Deutschen noch im gleichen Jahr ihren zweiten Helden der Lüfte. Nun arbeitete man bei Fokker mit Hochdruck an Verbesserungen, denn die Flugzeuge der Entente waren schneller, stabiler und wendiger geworden.

Fokker, der einzige Flugzeugbauer, der mit den Frontpiloten lange Gespräche führte und sie nach den Mängeln der Jagdflieger wie auch nach ihren Wünschen befragte, trieb seinen neuen Chefkonstrukteur Reinhold Platz und dessen Team zu immer neuen Höchstleistungen an. Platz, der ursprünglich Schweißer gewesen war, hatte nach dem Absturz von Martin Kreutzer dessen Aufgaben übernommen.

»Der Alte hat wieder Verbesserungsvorschläge eingebracht«, sagte Reinhold zu Philippe, der gerade unter dem Rohbau eines Versuchsmodells hervorgekrochen war und sich Staub und Holzspäne von der Hose klopfte.

»Schriftlich?«

Reinhold lachte. »Du weißt doch, wie das bei uns läuft: Erst nach der Abnahme der Flugzeuge durch die Prüfkommission erstellen wir noch schnell die Konstruktionszeichnungen.«

»Na, dann erzähl mal«, ermunterte Philippe seinen Vorgesetzten, doch der kam nicht mehr dazu. Zu ihnen trat ein Leutnant, der seine vor Kälte klammen Hände kräftig rieb und dabei ordnungsgemäß die Hacken zusammenschlug.

Reinhold warf Philippe einen auffordernden Blick zu, da dieser Gruß wohl eher dem Oberleutnant als ihm galt. Philippe verdrehte daraufhin die Augen und wandte sich dem Offizier zu.

»Albert?!«, entfuhr es ihm, als er den jüngsten Meindorff-Sohn erkannte.

Der grinste breit, streckte ihm die Rechte entgegen und schüttelte seine kräftig. »Grüß dich, Bruder.«

»Was tust du hier?«

»Ich durfte dich als Fluglehrer aussuchen.«

»Wozu brauchst du einen Fluglehrer? Wolltest du nicht immer zur Artillerie? Aber ich kann den Meister ja fragen, ob wir demnächst auch Mörser und Granatwerfer in die Luft schicken.«

»Ich werde Jagdpilot.«

»Nicht, wenn ich dich ausbilde.«

»Du bringst mir das Fliegen bei, in Metz erhalte ich den letzten Schliff als Feldpilot und dann möchte ich unbedingt in Boelckes ehemalige Staffel. Ich habe bei von Richthofen vorgesprochen. Er meinte, die Jasta 2 könne gut ausgebildete Piloten gebrauchen, und er sprach sehr anerkennend von dir.«

»Richthofen?« Philippe runzelte die Stirn. Der Freiherr hatte das Fliegen bei Anthony erlernt, für seine offizielle Flugerlaubnis allerdings drei Anläufe gebraucht. Allerdings war er ein hervorragender Schütze. Inzwischen trug von Richthofen immer neue Wünsche an Fokker heran, welche Eigenschaften seine Flugzeuge haben sollten.

»Komm schon, Philippe. Er hat immerhin bereits ein Dutzend Luftsiege errungen und wurde von Boelcke eigens für seine Staffel ausgewählt. Es wäre eine große Ehre für mich, unter seinem Kommando zu fliegen!«

»Ja, eine schöne Ehre – die sterben da wie die Fliegen«, brummte Philippe.

»Jetzt sieht mich nicht an, als hättest du vor, mir den Kopf abzureißen. Mich schüchterst du mit diesem düsteren Blick nicht ein, Bruder. Außerdem habe ich mir nicht ohne Grund dich als Lehrer ausgesucht. Du bist damals sogar Immelmann davongeflogen.«

Diese Aussage ließ Philippe die Augenbrauen heben. Woher wusste Albert von seinem Zusammentreffen mit Immelmann über dem umkämpften Luftraum in Belgien von vor über einem Jahr? Seine Reaktion entlockte Albert ein lautes Auflachen, wobei er ihm kräftig gegen den Oberarm boxte.

»Immelmann muss diese Geschichte immer wieder zum Besten gegeben haben. Das Fliegerlatein mit dem wahren Kern, du verstehst schon?«

»Ich verstehe sehr gut. Aber bestimmt hat er dabei nicht unerwähnt gelassen, dass er mich schließlich als deutschen Piloten erkannt und bis zum Flugfeld eskortiert hat?«

»Sicher hat er das erzählt. Aber er lobte mit dieser Geschichte Fokkers Flugzeuge in den Himmel. Übrigens müsst ihr euch ranhalten. Die Albatrosse sind schwer im Aufwind und um einiges schneller als die Fokker.«

»Albatros bekam die gesamte Lieferung neuer 160-PS-Mercedes-Motoren. Fokker ging leer aus und muss sich mit einem leistungsschwächeren Motor herumschlagen. Glaub mir, mit diesem Mercedes-Motor wäre die aktuelle Fokker der Albatros überlegen! Aber wir arbeiten am nächsten Modell, das, je nachdem, welchen Motor Anthony ergattern kann, in jedem Fall wendiger und aggressiver im Steilflug und in der Kurve reagieren wird.«

»Nicht zu verachtende Eigenschaften im Luftkampf!«, nickte Albert und signalisierte Philippe dadurch, dass er ein paar Vorkenntnisse besaß, wenn auch nur theoretischer Natur. Dennoch gefiel Philippe die Aussicht nicht, Albert für den zwar bewunderten, aber äußerst gefährlichen Luftkrieg ausbilden zu müssen.

»Dann lass uns das Maschinchen endlich bauen!«, erinnerte Reinhold Philippe daran, dass er seine Zeit nicht mit einem angehenden Flugschüler vertrödeln sollte.

»Wir sehen uns heute Nachmittag, Albert. Bist du in der Baracke untergebracht?«

»Ja, mit den anderen Schülern.«

Philippe nickte Albert, der sich zumindest äußerlich zu einer jüngeren Ausgabe von Hannes entwickelt hatte, zum Abschied zu und schenkte dem Chefkonstrukteur wieder seine ungeteilte Aufmerksamkeit.

»Wo wirst du Weihnachten verbringen? Bei deiner Verlobten?«, erkundigte Reinhold sich und führte ihn um das Flugzeug herum.

Philippe stutzte. Er war noch nie auf den Gedanken gekommen, Weihnachten oder eine andere Festlichkeit in Demys Nähe zu begehen. Tatsächlich wusste er nicht einmal, wann sie Geburtstag hatte. Tiefe Furchen bildeten sich auf seiner Stirn, verbunden mit einem Funken Schuldgefühl. Auch wenn er dieses widersprüchliche Geschöpf nicht liebte, konnte er ihr doch zumindest ein paar freundschaftliche Gesten entgegenbringen. Immerhin rieb sie sich seit Kriegsbeginn für den Haushalt Meindorff auf, ohne jemals irgendeine Form der Anerkennung zu erhalten.

»Ja, das werde ich wohl«, erwiderte er gewohnt knapp und ließ sich endlich die von Anthony gewünschten Neuerungen erklären.

34 Nach Einbau des Synchronisationsgewehrs in Fokkers Eindecker und dem Ausmerzen der Kinderkrankheiten gewannen die eigens zusammengestellten Fokkergeschwader über Monate die Lufthoheit. »Fokker fodder« (Fokkerfutter) nannten die feindlichen Piloten sich selbst.