Kapitel 20

An der Marne, Frankreich,
September 1914

»Der Pilot hat bestätigt, dass Taxis Soldaten transportiert haben!« Bubi lachte kopfschüttelnd. Nachdem er sich wieder beruhigt hatte, nahm er die Zunge zu Hilfe, um die letzten Reste der undefinierbaren Pampe, die heute ihre Mahlzeit darstellen sollte, aus seinem verbeulten Blechnapf zu lecken.

Hannes verzog das Gesicht. Er litt seit Wochen Hunger. Zu Beginn ihres Feldzugs hatte er sich noch davor gescheut, sich an den unreifen Früchten auf den Feldern der belgischen Bauern zu vergreifen. Die Armee hatte durch diese Art der Essenbeschaffung unzählige Pferde und auch Soldaten durch Koliken und Vergiftungen verloren. Inzwischen waren die Äcker und Obstbäume abgeerntet, verwüstet oder geplündert.

Die Taxis blieben unter seinen Männern das größte Gesprächsthema. Vermutlich tat es ihnen gut, über einen amüsanten Streich zu sprechen, selbst wenn dieser dem Gegner gelungen war. Hannes hingegen fragte sich, ob diese ungewöhnliche Nachschubbeförderung der Grund für Kluck gewesen war, die 1. Armee entgegen des Schlieffen-Plans erneut umschwenken zu lassen. Wie ein Melder ihm vor ein paar Minuten mitgeteilt hatte, hatte die 2. Armee den Kontakt zur 1. vollständig verloren. Somit lag ihr rechter Flügel gefährlich offen da. Sobald die Franzosen dies von ihren Aufklärungsfliegern gemeldet bekamen, würden sie versuchen, einen Keil zwischen diese beiden Armeeteile zu treiben.

Hannes nahm seine Schirmmütze ab, kratzte sich am Kopf, setzte die Kopfbedeckung wieder auf und warf einen Blick auf seine Männer, die sich in einem Bauernhaus am Rande eines winzigen besetzten Dorfes ausruhten. Stühle und Tische waren an die Wand geschoben, vom Ofenrohr, über eine primitive Deckenlampe bis zu einem Fenster verlief eine Wäscheleine, auf der Unterwäsche und Uniformteile trockneten. Die kreuz und quer neben der Tür liegenden Stiefel verströmten einen üblen Geruch. Dennoch versuchte Hannes sich auf seine Überlegungen zu konzentrieren. Die französischen Befehlshaber waren nicht dumm. Die breite Lücke zwischen ihrer 2. und der 1. Armee könnte für sie alle schlimm enden, vielleicht sogar für die gesamten Kriegsbemühungen des Deutschen Reiches.

Unwillig runzelte Hannes die Stirn. Er war nicht gewillt aufzugeben. Nicht so! Nicht mit einer so schmählichen Niederlage! Nicht ohne sich und anderen sein Können bewiesen zu haben!

Ob sie sich alle zu wenig angestrengt hatten? Sähe die Lage besser aus, wenn sie aggressiver auf den Feind losgegangen wären? Womöglich rührte die gefährliche Situation, in der sie sich nun befanden, aber vielmehr daher, dass die drei Befehlshaber der 1., 2. und 3. Armee – Kluck, Bülow und Hausen – nicht gut aufeinander zu sprechen waren und ihre Kommunikation dementsprechend mager ausfiel. Hinzu kam, dass die Armeen frühzeitig den Kontakt zur Kavallerie, ihren »Augen«, verloren hatten. Dankenswerterweise waren die Piloten in ihren Beobachterflugzeugen in die Bresche gesprungen. Es fehlte zudem an Fachleuten, die die zerstörten Telefon- und Funkverbindungen ebenso wie die Schienenwege wieder auf Vordermann brachten.

Der rasante Vormarsch der Deutschen mochte die Belgier und Franzosen überrascht haben, doch jetzt hingen die deutschen Armeen ohne Kontakt und Nachschub und deshalb unbeweglich fest.

Der Lärm vom Frontabschnitt nahm an Intensität zu. Die Artillerien der Franzosen und Engländer beharkten sich mit der der Deutschen. Der wachsende Geräuschpegel verbreitete zunehmende Unruhe unter seinen Männern. Gemurmel erhob sich. Diejenigen, die sich hingelegt hatten, regten sich, manch einer richtete sich auf seinem provisorischen Lager auf. Obwohl die Soldaten schon seit etwa sechs Wochen im Feld standen, gelang es ihnen noch immer nicht, in ihren Ruhestellungen tief zu schlafen, zumal das Kampfgeschehen ihnen an diesem Tag bedenklich nahe rückte. Bei jeder Detonation eines feindlichen Geschosses klirrte das schmutzige Geschirr auf dem Tisch und feiner Staub rieselte von den roh gezimmerten Deckenbalken auf sie herunter. Befürchteten seine Männer eine erneute Rückwärtsverschiebung des Kampfabschnitts in Richtung ihrer Ruhestellung? Hannes konnte ihnen diese Überlegungen nicht verübeln. Sein in den letzten beiden Wochen zaghaft erwachtes Verantwortungsgefühl für die ihm noch verbliebenen Soldaten ließ ihn schließlich aufstehen. Bubi hob fragend den Kopf, aber nachdem Hannes ihn vor dem gesamten Zug zusammengestaucht hatte, dass er sehr wohl zum Pissen gehen könne, ohne dass er zuvor die zusammengeschlagenen Hacken und den militärischen Gruß von Bubi bräuchte, hatte er begriffen, dass er nicht bei jeder Regung von Hannes aufspringen musste.

»Waldmann?«

Der Feldwebel, der Hannes nach Tassas Tod zugewiesen worden war, erhob sich und trat zu ihm. Unter jedem seiner Schritte knarrten die Dielenbretter protestierend. Der bärtige Ostpreuße mit der Gemütsruhe eines Ochsen und einer durchaus vergleichbaren Statur ging bereits auf die 40 zu.

Hannes raunte ihm zu: »Ich sehe mich mal um.«

»Ich kümmere mich schon um die Jungs, Herr Leutnant.«

Wie so oft hatte Hannes den Eindruck, als spräche der Spieß wie ein besorgter Vater, wobei er den angemessenen Respekt nicht vermissen ließ. Er mochte Otto Waldmann. Selbst wenn dieser ihn mit seiner Behäbigkeit gelegentlich aufregte, war er froh, den bedachten Mann an seiner Seite zu wissen. Waldmann strahlte Ruhe und Gelassenheit aus, eine seltene Gabe in dem Chaos, in dem sie sich momentan befanden. Die Soldaten, vor allem die jüngeren unter ihnen, vertrauten dieser Mutter der Kompanie inzwischen bedingungslos, obwohl er erst später zu ihnen gestoßen war.

Hannes stapfte die staubige Straße entlang, vorbei an den geräumten Häusern in Richtung des größeren Bauernhofes, in dem das Offizierskasino eingerichtet worden war. Die in Reih und Glied marschierenden Soldaten eines abrückenden Zuges hielten ihn auf. Kurzentschlossen folgte er ihnen, um sich erst einmal selbst ein Bild von der Lage zu machen. Die Front war ohnehin nicht mehr weit entfernt, wie ihm die Lautstärke der Detonationen verriet.

Über die mit Sträuchern und schlanken Birken bewachsenen Hügel näherte er sich einer größeren Erderhebung. Während der Zug weitermarschierte, blieb er auf dem Hügelrücken stehen und hob seinen Feldstecher an die Augen. Sofort ließ er ihn wieder sinken. Sein Herz raste, sein Atem dagegen war ins Stocken geraten. Pulverdampf stand in grauschwarzen Wolken knapp oberhalb der sumpfigen Landschaft. Über ihm knatterte ein Flugzeug, dessen leinwandbespannte Flügel, von der noch heißen Septembersonne angestrahlt, hell aufleuchteten. Die Luft roch nach Feuer, Pulver und versengtem Fleisch.

Hannes zwang sich, den Feldstecher zurück an die Augen zu führen. Er musste sich vergewissern, ob das, was er gesehen hatte, der Realität entsprach, selbst wenn sich der Anblick in sein Gehirn zu fressen drohte wie Säure.

Unterhalb des Hügels stand kein Baum und kein größerer Strauch mehr. Alles war niedergemäht, glatt gebügelt, dem Erdboden gleichgemacht. Überall lagen tote Soldaten; Deutsche, wie unschwer zu erkennen war. Sie lagen nebeneinander, übereinander. Der Boden war übersät von Körpern, so weit das Auge reichte.

Langsam hob Hannes die Hände an, mit denen er das Fernglas krampfhaft umklammert hielt. Er überblickte immer mehr des vor ihm liegenden Schlachtfelds, doch das Bild änderte sich nicht. Zwischen rauchenden Einschlagkratern und aufgeworfenen Erdhügeln lag Soldat neben Soldat. Der über die Kraterlandschaft wabernde graue Rauch war nicht dicht genug, um die Leichen vor seinem Blick zu verbergen, so sehr Hannes es auch wünschte.

Weiter hinten mischten sich französische und britische Uniformen unter die deutschen, und dahinter waren es fast ausschließlich die Toten des Gegners, die Hannes ins Auge fielen. Sie verschwammen auf die Entfernung zu unkenntlichen Schatten, schließlich zu schmalen Strichen, da er keine Einzelheiten mehr erkennen konnte. Aber selbst diese Striche blieben grauenhaft anzusehen, waren es ihrer doch unendlich viele!

Die Ernte einer furchtbaren Saat. Gab es auf beiden Seiten überhaupt noch einen Überlebenden oder lagen sie alle auf dem Feld vor ihm, umgemäht wie ein Wald nach einem Wirbelsturm?

Weitere Detonationen und das Stakkato von Gewehrsalven belehrten ihn eines Besseren. Es mussten noch Männer hüben wie drüben am Leben sein. Und sie schossen weiterhin aufeinander; vermehrten die Ernte von Gevatter Tod.

Hannes wandte sich ab. Torkelnd wie ein Betrunkener trat er den Rückweg an. Was habe ich getan?, fuhr es ihm durch den Kopf. Wie hatte er diese Hölle befürworten können, sich für sie einsetzen, sie verteidigen, herbeisehnen?

Verwundert betrachtete er die Birken, die ihre zarten, silbergrünen Blätter der Sonne entgegenreckten. Ihre dünnen Zweige schaukelten friedlich im sanften Wind. Jenseits des Hügels stand kein Baum mehr. Dort war alles braun, karg, leblos. Benommen von dem grauenvollen Anblick betrat Hannes die Ortschaft und bemerkte die dort herrschende Unruhe. Truppenteile marschierten ab, Marketender18 schafften ihre Waren fort, Sanitäter stürmten an ihm vorbei.

Es wäre besser, Totengräber zu schicken, wollte Hannes ihnen zurufen, doch ein Blick in die verhärmten Gesichter des Sanitätstrupps zeigte ihm, dass sie heute nicht das erste Mal zum Frontabschnitt liefen.

Sein Zug, zumindest die Männer, die er am Morgen zurück in diese Unterkunft geführt hatte, stand unordentlich aufgereiht und mit geschultertem Marschgepäck vor dem Bauernhaus. Der Feldwebel trat zu Hannes, grüßte vorschriftsmäßig und meldete, dass sie zurückverlegt wurden. Britische und französische Infanterie- und Kavalleriedivisionen hatten wie erwartet zügig die Lücke zwischen der 1. und der 2. Armee entdeckt und drangen in diese ein. Sie überschritten inzwischen die Marne und bedrohten damit nicht nur die rechte Flanke von Bülows 2. Armee, sondern auch den Rücken der 1. Armee. Es galt einen Durchbruch mit katastrophalen Folgen zu verhindern, und daher brach die deutsche Führung die Schlacht ab.

»Danke, Herr Feldwebel«, brachte Hannes mit rauer Stimme hervor.

Waldmanns forschender Blick verriet ihm, dass zumindest er seinen geschockten Zustand bemerkte. Tief einatmend wandte Hannes sich seinen Soldaten zu und ließ den Blick über sie gleiten. Sie lebten noch. Für sie war er verantwortlich! Und für sein eigenes Leben, das er um Ediths und seiner Töchter willen erhalten musste. Er reckte sich, straffte die Schultern und bellte seine Befehle. Gemeinsam setzten sie sich in Bewegung.

Der Spieß beobachtete den Abmarsch und reihte sich als Letzter ein, während Hannes von einem Meldereiter seine schriftlichen Anweisungen entgegennahm. Darin hieß es, dass sie sich über einen weiteren Fluss, die Aisne, zurückziehen mussten. Erschrocken machte er sich klar, dass sie beinahe bis an die Tore von Paris vorgerückt waren und nun bis fast an die Grenze zurückbeordert wurden. Frankreich hatte mit dem Rücken an der Wand gestanden, da die deutschen Armeen nahezu alle wichtigen Industriezentren überrollt hatten, und die Regierung, so hieß es, nach Bordeaux evakuiert worden war. Alles, wofür sie gekämpft und geblutet hatten, zerrann ihnen wie Sand zwischen den Fingern.

Hannes trat zur Seite und ließ seinen Zug vorbeimarschieren. Die Männer waren dreckig und wirkten ausgezehrt, ihr Gepäck hing schwer auf ihren gebeugten Rücken und klapperte scheinbar zynisch. Für was galt es jetzt noch zu kämpfen? War mit ihrem Rückzug sein Ziel, große Erfolge und einen Art Heldenstatus zu erreichen, nicht schlichtweg gestorben?

18 Der Begriff Marketender stammt aus dem Mittelalter und steht für einen Händler, der einen Kriegstross begleitete und diesen mit Lebensmitteln, sonstigem alltäglichen Bedarf, aber auch mit medizinischer Hilfe versorgte. Frauen koppelten dieses Berufsbild oft an Prostitution.