Kapitel 40

Berlin, Deutsches Reich,
August 1915

»Herr Müller, was denken Sie?« Demy blickte über die kleinen Felder, die zwischen Rosenhecken, Zierbüschen und der rückwärtigen Mauer des Grundstücks lagen, wo sich früher Blumenrabatten und eine Wiese befunden hatten.

»Ich empfehle, nachts einen Wächter aufstellen. Die Ernte steht gut, könnte aber hungrige Gesellen dazu verleiten, sich zu bedienen.«

»Aus diesem Grund haben wir das Gemüse eigens hinter dem Haus angepflanzt.«

»Es sind so viele Menschen auf Streifzügen nach etwas Essbarem unterwegs, die kommen auch hinters Haus.«

»Ich kann hier draußen schlafen und Wache halten«, schlug Feddo vor. Nachdenklich schaute Demy ihren Bruder an. Er war jetzt vierzehn, alt genug, um eine verantwortungsvolle Aufgabe zu übernehmen. Der Schulunterricht fand ohnehin nur noch sporadisch statt, sodass es niemanden stören würde, wenn Feddo die noch warmen Nächte vor dem Herbst im Freien verbrachte.

»Meinetwegen. Sprich mit Bruno. Er soll dir helfen, einen Unterstand zu bauen oder eine Kutsche in den Garten stellen, in der du dir ein Lager einrichten kannst.«

Feddo strahlte vor Begeisterung und wollte davonstürmen, doch Demy hielt ihn am Arm zurück. »Keine Eskapaden und Abenteuer! Falls sich jemand nähert, wirst du versuchen, ihn zu vertreiben, dich aber nicht auf eine Auseinandersetzung einlassen. Wenn es mehrere Personen sind, versteckst du dich.«

»Wo soll ich mich denn verstecken?«, fragte Feddo, nicht begeistert über die Einschränkungen, die Demy ihm auferlegte.

»Ich zeige dir nachher eine Stelle, an der man unbemerkt die Außenmauer übersteigen kann.«

Ihr Bruder musterte sie mit einem zugekniffenen Auge und grinste dann verstehend. Zu Recht nahm er an, dass sie diesen Weg in ihren ersten Jahren in Berlin öfter genutzt hatte, um dem streng geführten Meindorff-Regime zu entkommen.

Pauline, Irma und Monika, die sich bei allen anstehenden Aufgaben meist reichlich ungeschickt anstellte, kehrten aus der Mittagspause zurück und rückten bereitwillig dem wuchernden Unkraut zu Leibe. Luisa und Leni, die Töchter von Hannes und Edith, die sich nach einem kurzen Besuch in Berlin wieder in einem Lazarett an der französischen Front befand, kamen ebenfalls in den Garten gelaufen, gefolgt von Nathanael. Daraufhin trat Demy schnell an die Glasfront des Wintergartens, spähte durch die Scheibe und vergewisserte sich, dass der Rittmeister sich nicht in seinem Kontor aufhielt. Der Raum lag verlassen im Halbdunkel, also gestattete sie den Kindern, im nun nur noch recht kleinen ungenutzten Teil des Gartens zu spielen.

Zuletzt tauchten Willi und Peter auf. Demy betrachtete die Zwillinge und wandte sich an Willi, der sie mit aufmerksamen Augen anblickte. »Feddo soll ab sofort nachts über die Anpflanzung wachen«, sagte sie und konnte ein begeistertes Leuchten über Willis Gesicht huschen sehen.

»Peter und ich könnten mit von der Partie sein.«

»Ein guter Vorschlag. Drei sehen mehr als einer.« Zufrieden schmunzelnd klopfte Demy Willi auf die Schulter und schenkte dem mürrisch dreinblickenden Peter ein aufmunterndes Lächeln. Dieser übersah ihre Zuneigungsbekundung jedoch. Die Hände in den Taschen seiner mittlerweile zu kurzen Hose vergraben folgte er mit hängenden Schultern und schlurfenden Schritten seinem Zwillingsbruder zu Feddo. Willi und Feddo begannen aufgeregt Pläne zu schmieden, in die sie Peter wie selbstverständlich mit einbezogen, obwohl der sich mit keinem Wort an der Unterhaltung beteiligte.

Demy, die die Jungen beobachtete, registrierte bedrückt, wie unnahbar Peter nach wie vor wirkte. Da entdeckte sie am Hinterausgang des Seitenflügels die leicht gebeugt dastehende Tilla. Sie klammerte sich mit beiden Händen am Türrahmen fest. Ihre Gesichtsfarbe war noch blasser als sonst, und zudem wirkte sie ungewohnt zerzaust und nachlässig gekleidet. Erschrocken über ihren Anblick raffte Demy den Rock und rannte zu ihr.

Bei ihr angekommen sah sie, dass Tilla sich übergeben hatte. Sanft fasste sie ihre Schwester am Arm und führte sie zu einer hölzernen Gartenbank einige Schritte neben der Tür. Tilla ließ sich auf der knarzenden Sitzfläche nieder und lehnte den Hinterkopf an die von der Sonne aufgewärmte Hauswand.

»Hast du dir den Magen verdorben?«, erkundigte Demy sich mitfühlend, doch Tilla winkte mit einer knappen Handbewegung ab. Sie atmete mehrmals tief durch, ehe sie sich wieder aufrichtete.

»Hast du Philippe das Geld für das Saatgut gegeben?«, begann sie schließlich ein Gespräch, das Demy bereits vor Wochen erwartet hatte. Doch noch immer war Tilla unablässig unterwegs, wenngleich der Krieg ihren Radius beträchtlich eingeschränkte.

»Er wollte das Geld nicht und sagte, das Saatgut sei sein Verlobungsgeschenk an mich. Immerhin wolle er, wenn wir heiraten, keinen abgemagerten Stock im Arm halten.« Demy ärgerte sich heute noch über die unmögliche Begründung, mit der Philippe ihr das Geld zurückgeschickt hatte.

»Was hast du dann mit dem Geld getan?«

Mit gerümpfter Nase schaute Demy ihre Schwester prüfend an. Tilla war zu diesem Zeitpunkt mal wieder verreist gewesen, während Demy dringend ein paar Anschaffungen hatte tätigen müssen. Dazu gehörten die Gerätschaften zur Pflege der Felder. Viktor Müller, der in jungen Jahren in der Landwirtschaft gearbeitet hatte, hatte sie besorgt. Demy erklärte Tilla diesen Umstand, und zu ihrer Verwunderung nickte ihre Schwester nur abwesend. Ob es an ihrem schlechten Zustand lag, dass sie sich nicht beschwerte? Andererseits musste auch Tilla einsehen, dass sie das Saatgut schwerlich mit den bloßen Händen in den Boden bringen konnten.

»Ich denke, ich lege mich wieder hin. Die grelle Sonne bekommt mir nicht.«

»Soll ich dich hinaufbegleiten?« Obwohl Demys Frage völlig harmlos war, fing sie sich einen tadelnden Blick ein. Ihre Halbschwester erhob sich leicht schwankend und stakste mit unsicheren Schritten zurück in den Bedienstetentrakt. Erst jetzt wunderte sich Demy darüber, dass sie diesen Teil des Hauses betrat. Üblicherweise hielt Tilla sich vom Hauswirtschaftsbereich fern. Wünschte sie einen Angestellten zu sprechen, rief sie diesen für gewöhnlich zu sich.

Rika nahm Tillas Platz an Demys Seite ein und bemerkte im Plauderton: »Sie sieht seit ein paar Tagen unpässlich aus und wagt sich kaum aus ihren Räumen.«

»Hoffentlich hat sie sich nicht eine der grassierenden Infektionskrankheiten eingefangen.«

»Tilla? Die begibt sich doch nie unter das gemeine Volk.«

»Seit wann machen Krankheiten vor den Menschen der gehobenen Klasse halt?«

Rika kicherte und raunte dann: »Ich vermute ja, sie ist schwanger!«

Demys Nase überzogen kleine Falten, als sie sich ihr zuwandte. »Was sagst du da?«

»Schwanger! Du weißt doch, was das ist, oder?«, zog Rika sie auf.

»Also, hör mal!«

»Bei dir kann man ja nie wissen. Du bist mit einem umwerfend gut aussehenden, schneidigen Piloten verlobt und triffst dich nur alle paar Monate mit ihm. Und wenn er da ist, liefert ihr euch immer diese eigentümlichen Wortgefechte. Was soll ich davon halten?«

»Gar nichts sollst du davon halten, weil dich unser Umgang miteinander schlichtweg nichts angeht.«

»Der Herr Oberleutnant hat nicht unbedingt den Ruf, etwas anbrennen zu lassen, große Schwester. Wenn du ihn noch lange so auf Abstand hältst, könnte er vielleicht in Versuchung kommen …«

»Ich gehe jetzt zu Tilla«, entschied Demy laut und ließ eine feixende Rika zurück. In der Tür drehte Demy sich noch mal zu ihr um: »Und du nimmst eine Harke in die Hand und lässt die Mädchen nicht alle Arbeit bei den Kartoffeln allein machen!«

Das Gesicht der Achtzehnjährigen verzog sich, doch sie gehorchte. Inzwischen hatte sie gelernt, dass sie sich besser nicht mit Demy anlegte, was die Aufgabenteilung in Haus und Garten anging. Einmal hatte Rika Demy sogar unterstellt, sich dem alten Meindorff unangenehm angeglichen zu haben, was ihren Tonfall und die Forderungen anging.

Demy blieb im Flur stehen, da sich ihre Augen zuerst an die Dunkelheit drinnen gewöhnen mussten. Seit sie darum rang, das Leben in diesem Haus zu organisieren, konnte sie ein paar der Eigenheiten des Hausvorstands besser nachvollziehen. Tatsächlich fürchtete sie sich davor, ebenso unerbittlich hart zu werden wie der Rittmeister. Doch sowohl Maria und Henny als auch Lina und Margarete hatten sie gutmütig ausgelacht, als sie diese Bedenken nach einem lautstarken Streit mit ihren Geschwistern angesprochen hatte.

Das Klappern von Demys Absätzen hallte von den Flurwänden wider, als sie den Flur entlangeilte. Sie betrat über das Hauswirtschaftszimmer das Haupthaus, lief durch das Foyer und schließlich die Stufen hinauf in den ersten Stock. Die Tür zu Tillas Räumen stand offen, und als sie eintreten wollte, kam Henny mit einer Schüssel und einigen feuchten Tüchern heraus.

Die beiden Frauen sahen sich schweigend an, wobei Henny gekonnt die Augen verdrehte, bevor sie mit ihrer übel riechenden Fracht verschwand.

Demy trat ein und zog hinter sich die Tür fest ins Schloss. Für einen Moment kämpfte sie gegen das Gefühl der Überforderung an, das sie gelegentlich wie eine schwere, drückende Last auf ihrem Herzen empfand, dann schob sie es einmal mehr beiseite.

Tilla lag nur mit ihrer Unterwäsche bekleidet auf ihrem Himmelbett. Demy erschrak, als sie sah, wie abgemagert ihre Schwester war. »Ich mache mir ernsthaft Sorgen um deinen Gesundheitszustand, Tilla«, sagte sie, zog sich einen Hocker herbei und setzte sich neben das Kopfende. Dabei umfasste sie mit beiden Händen den gedrechselten Bettpfosten und legte ihrer rechte Wange an das angenehm kühle Holz.

»Das ist nichts, was nicht vorübergeht.«

»Rika meinte, du seist schwanger«, lachte Demy in dem Versuch, ihre Schwester aufzuheitern. Diese warf ihr einen Blick zu, den Demy weder deuten konnte noch wollte, ehe sie wieder den weißen Betthimmel über sich anstarrte.

Demys Magen krampfte sich zusammen, als ihr die Wahrheit bewusst wurde. »Aber …«, stotterte sie und klammerte sich noch fester an den Bettpfosten. »Joseph war doch seit Monaten nicht mehr hier!«

»Was bist du für ein naives Dummchen!«

Der Hocker stürzte mit einem dumpfen Geräusch um, als Demy auf die Füße sprang. »Du hast ihn betrogen? Du hast dich mit einem anderen Mann eingelassen?«

»Betrogen?« Tillas Lachen klang bitter. Demy wollte nur noch flüchten. Dieses Gefühl, für alles und jeden im Haus verantwortlich zu sein, lag wie ein schwerer Stein auf ihrem Herzen und überforderte sie zunehmend. Die Familie Meindorff brach auseinander, aber musste Tilla sich, vielleicht als Rache für Josephs zügelloses Verhalten, ihm denn anpassen? Wurde Demy nun noch die Fürsorge für eine schwangere Frau und ein weiteres Kind übertragen?

»Das ist allein meine Angelegenheit!«, bemerkte Tilla in gewohnt arrogantem Tonfall, doch ihre Stimme klang dabei eine Spur zu unsicher.

»Richtig! Das, was in diesem Haus momentan getan, probiert und ausgehalten wird, ist eigentlich deine Angelegenheit, gnädige Frau Meindorff. Aber die Verantwortung hast du einfach an mich abgegeben, dich Gott weiß wo herumgetrieben und bewiesen, dass du keinen Deut besser bist als Joseph!«, schrie Demy ihre Schwester an. Gleichzeitig glaubte sie, ihr Herz würde zerspringen.

»Du hättest sie ja nicht zu übernehmen brauchen, du dummes Ding.«

»Sollte ich Rika, Feddo und die anderen Menschen einfach ihrem Schicksal überlassen?«

»Du bist nicht für alles und jeden zuständig!«

»Nein?« Demy hatte das Gefühl, als habe jemand seine Hände um ihren Hals gelegt und drücke erbarmungslos zu. Tränen wollten ihr in die Augen steigen über so viel Ungerechtigkeit, aber sie schluckte sie hinunter und ballte die Hände zu Fäusten.

»Du hättest einfach Hannes heiraten können, Demy, dann würdest du jetzt in einem schmucken Haus wohnen und bräuchtest nur für eure Kinder verantwortlich zu sein. Oder du hättest längst Philippe ehelichen können. Der ist doch sehr erfolgreich in seiner Arbeit und wenn man den Gerüchten glaubt, ist er auch ein hervorragender Liebhaber! Aber du bleibst ja lieber die Unschuld vom Lande, ungeküsst und ungeliebt, und spielst die leidende Heldin.«

Demys Kopf fühlte sich eigentümlich leer an. Sie wollte sich gern verteidigen und Tilla mit Vorwürfen und Erklärungen überhäufen, war dazu jedoch nicht in der Lage. Zitternd und plötzlich maßlos erschöpft stand sie vor der Tür und hörte sich an, wie Tilla weitersprach: »Jeder muss seine eigenen Entscheidungen treffen und sein Leben so gestalten, wie er es für richtig hält. Du bist anscheinend gerne eine Märtyrerin. Darin wollte ich dich nicht stören. Und jetzt kommst du plötzlich und machst mir Vorschriften?«

»Ich habe dich bereits vor Jahren angefleht, nach Hause zurückkehren zu dürfen, und dich immer wieder um Hilfe gebeten, wenn ich Probleme mit dem Rittmeister und mit Joseph hatte. Und auch in jüngster Zeit, als hier alles zusammenbrach, habe ich mich an dich gewandt.«

Tilla schwieg und atmete schwer. Offenbar wurde sie von einer neuerlichen Welle der Übelkeit übermannt. Irgendwann schaute sie Demy direkt an. »Ich musste zusehen, dass ich mein Glück finde! Und du musst selbst schauen, wie du glücklich wirst.«

»Und ich dachte immer, du liebst mich«, flüsterte Demy und konnte die Tränen, die ihr in den Augen brannten, nicht länger aufhalten.

»Kleine, ich liebe dich doch auch. Du bist meine Schwester. Aber ich kann nur mein Leben leben, nicht auch noch deins oder das von Rika und Feddo. Ich habe für Anki und für dich getan, was ich tun konnte, und schließlich auch für Rika.«

Demy schüttelte wild den Kopf. Sie verstand Tilla nicht. Spielte sie darauf an, dass sie Anki und sie praktisch aus ihrem Zuhause vertrieben hatte? Was daran war eine Hilfe für sie gewesen? Oder für Rika? Sie und Feddo waren ihnen nach Berlin gefolgt, weil ihr Vater gestorben war und sie ihr Zuhause verloren hatten.

»Das Gespräch ist beendet, Demy. Geh zurück zu deinen Schützlingen, die du, aus welchem Grunde auch immer, in dieses Haus geschleppt hast.«

»Hast du gegen ihre Anwesenheit auch etwas einzuwenden?«

Ihre Schwester lachte spöttisch. »Du verstehst wirklich gar nichts! Ich finde ihre Anwesenheit großartig – vor allem die von Meindorffs Enkelinnen. Denkst du, er weiß nicht, dass sie hier sind?«

Demy, die das tatsächlich angenommen hatte, wurde es eiskalt. Wie hatte der Rittmeister erfahren, dass seine unerwünschten Enkeltöchter unter seinem Dach leben? Und warum duldete er ihre Anwesenheit und die der anderen Fremden dann hier?

»Ich habe es ihm gesagt, als er mal wieder schwach und hilflos in seinem Bett lag. Es war der reinste Genuss für mich, dabei sein Gesicht zu sehen!«

»Du bist grausam!«

»Nein«, erwiderte Tilla hart. »Ich musste ihm die Wahrheit sagen. Verstehst du das denn nicht? Er hätte die Kleinen und alle anderen aus dem Haus geworfen, sobald er auf anderem Wege von ihrer Anwesenheit erfahren hätte.«

»Und warum tat er das nicht, als er es von dir erfuhr?«

»Ich habe ihn in der Hand!«, entgegnete Tilla und schloss erschöpft die Augen.

»Du … du erpresst ihn? Womit?«

»Mit einigen anderen Informationen als denen, mit denen ich meinen geliebten Ehemann in Schach halte. In meinem Besitz befinden sich Unterlagen über geschäftliche Preisabsprachen konkurrierender Elektrowarenhersteller, die sehr brisant sind.«

»Wie bitte?«

»Demy, ich bin nicht so herzlos, wie du denkst. Ich liebe dich, Rika und Feddo. Was ich tat, tat ich auch für euch!«

Irritiert schüttelte Demy erneut den Kopf. »Ich verstehe es einfach nicht! Nichts von dem, was du sagst, ergibt für mich einen Sinn.«

»Eines Tages wirst du es durchschauen und mir dankbar sein.«

»Das hast du schon damals gesagt, als du mich gezwungen hast, mit dir nach Berlin zu ziehen. Was du mir damit für einen Gefallen erwiesen haben willst, begreife ich bis heute nicht.«

»Ich bin müde.« Tilla drehte ihr den Rücken zu, zog eine leichte Decke über ihre mageren Schultern und sprach kein Wort mehr.

Lange Zeit beobachtete Demy, wie sich die Decke mit ihren Atemzügen bewegte, dann griff sie nach der Türklinke. »Weißt du wenigstens, wer der Vater ist?«

»Natürlich. Der einzige Mann, der es geschafft hat, dass ich …« Tilla stockte. »Meinem Mann konnte ich mich nicht schenken. Dafür war zu viel in mir zerstört. Aber dieser Mann hat erreicht, dass …« Wieder hielt sie inne, konnte oder wollte nicht in Worte kleiden, was offenbar schwer zu erklären war. »Du hast ihn sicher kennengelernt. Martin Willmann.«

»Willmann? Der Ehemann der rosaroten Brigitte?«, stieß Demy entsetzt hervor und erntete ein belustigtes Kichern.

»Ich sehe, du erinnerst dich an ihn!«

Auf Demys Nase vertieften sich die Falten. Willmann hatte Joseph nie leiden können, und auch Tillas Ehemann empfand für den Mann nichts als Verachtung. Der Unternehmer mit dem Fechtschmiss auf der Wange war Demy als unsympathischer, großspuriger, aber ausgesprochen erfolgreicher Geschäftsmann mit exzellenten Beziehungen zum Kaiserhaus in Erinnerung geblieben.

»Hast du ihn dir ausgesucht, weil es Joseph tief treffen würde, wenn er von der Liaison zwischen dir und Willmann erführe?«

»Vielleicht.«

Demy riss die Tür auf und floh in den Flur, ohne sie wieder zu schließen. Ihr Kopf schwirrte, als habe sich darin ein Schwarm Hummeln verirrt. Ihre ohnehin schon schwankende Welt wurde erneut kräftig durchgeschüttelt, und sie wusste nicht, welche Gefühle momentan schwerer wogen: Verachtung, Verständnislosigkeit, Zorn oder ihre Zuneigung zu Tilla, die offenbar eine tiefe Wunde mit sich herumschleppte.

In ihrem Gefühlschaos gefangen stürmte sie die Stufen hinab, durch das große in das kleine Foyer und aus der offen stehenden Eingangstür hinaus. Wie ein gehetztes Reh sprang sie die Stufen hinunter – und prallte gegen einen Mann in Uniform. Dieser hielt sie fürsorglich fest, damit sie nicht stürzte. Erschrocken richtete sie sich auf.

Braune, besorgte Augen sahen sie an und Demy erkannte in dem Mann Hannes’ Trauzeugen Theodor.

»Offenbar komme ich zur rechten Zeit. Gibt es ein paar Wogen, die ich glätten kann?«, fragte er freundlich.

»Das wäre schön«, erwiderte Demy zerstreut.

»Dann erzählen Sie mir am besten, was geschehen ist, während wir durch den Garten spazieren.«

In diesem Moment tauchten Henny am Hauseck und Maria in der Tür auf. »Demy?«

Maria rang die Hände, was Demy auf neue Probleme schließen ließ. Erneut fühlte sie eine hilflose Schwäche in sich aufsteigen. Am liebsten hätte sie alles aufgegeben, sich als Rotkreuzschwester ausbilden lassen und so weit wie irgend möglich von Berlin entfernt in ein Feldlazarett schicken lassen. Noch während sie mit dem Gedanken spielte, kam Leni herbeigewirbelt, umklammerte ihre Beine und fragte sie nach einem guten Versteck. Zärtlich legte Demy eine Hand auf den blonden Haarschopf und riet der Kleinen, sich hinter der Treppe zu verbergen.

Dann straffte sie die Schultern. »Entschuldigen Sie bitte«, wandte sie sich an Theodor, der gelassen neben ihr gewartet hatte, bis sie ihm wieder ihre Aufmerksamkeit schenkte. »Henny begleitet Sie in den Garten zu den Sitzgelegenheiten. Ich komme nach.«

»Wissen die Meindorffs eigentlich, was sie an Ihnen haben?«, raunte Theodor ihr zu, drückte ihr kurz die Hand und gesellte sich dann zu Henny, mit der er wie mit seinesgleichen zu plaudern begann.

Demy blickte ihnen nach. Theodor sah sich offensichtlich trotz seiner Erfolge und seiner raschen Karriere innerhalb des Militärs noch immer als den einfachen Mann, der er einmal gewesen war.

»Demy!« Marias Ruf ließ sie die Stufen hinauf bis zur Tür hasten, wobei sie der hinter der gewaltigen Steintreppe kauernden Lina verschwörerisch zuzwinkerte.

Die Haushälterin zog sie an der Hand ins Vorfoyer. »Dem Rittmeister geht es nicht gut. Er war seit gestern nicht mehr auf, tobt aber, wenn ich sein Zimmer betreten möchte. Er hat auch Bruno fortgeschickt, den Einzigen, den er überhaupt noch zu sich vorlässt.«

»Soll ich den Arzt rufen?«

Maria hob hilflos die Hände. »Der Rittmeister hat mir nachgebrüllt, ich solle ja die Finger vom Telefon lassen!«

»Na gut, dann dränge ich mich ihm auf.« Demy zog einen entschlossenen Schmollmund, den Maria zu einem Schmunzeln veranlasste.

»Hauptmann Birk ist im Garten. Können wir ihm – außer Wasser – etwas anbieten?«

»Der Mann ist keineswegs blind und ahnt, in welcher Lage wir uns befinden. Bei seinem letzten Besuch, da waren Sie übrigens mit Lina bei Margarete und ihrem Kind, wollte er nur Wasser. Henny hat sich dann lange mit ihm unterhalten, weil er hoffte, Sie kehrten bald zurück.«

»Henny erzählte mir davon. Also gut, fragen Sie ihn. Ich schaue in der Zwischenzeit nach dem Herrn Rittmeister.«

»Viel Glück«, rief Maria ihr nach, während Demy die Tür zum Treppenhaus öffnete. Sie hatte es nicht eilig, die Stufen in Angriff zu nehmen. Noch immer war sie nicht erpicht darauf, sich in der Nähe des Hausherrn aufzuhalten. Zu tief saß die Angst vor dem herrischen Mann.

Im ersten Stock war kein Laut zu hören. Das Haus wirkte leer, fast ausgestorben. Wie anders ging es im Seitenflügel zu, seit die Kinder, die Mädchen und der alte Mann dort lebten. Mit ihnen hatten Lebensfreude, Liebe und Hoffnung an einem Ort Einzug gehalten, der bisher von einer strengen Hierarchie beherrscht worden war.

Der dicke Teppich verschluckte Demys Schritte; umso durchdringender klang ihr kräftiges Klopfen an der Tür in ihren Ohren.

»Was?«, drang es unfreundlich heraus.

»Herr Rittmeister, ich bin es, Demy. Ich wollte fragen, ob ich …«

»Hat dich die Degenhardt geschickt?«

»Frau Degenhardt macht sich Sorgen um Sie, Herr Rittmeister.«

»Sie soll sich gefälligst über die Mahlzeiten, die Sauberkeit in den Räumlichkeiten und ihre Untergebenen Gedanken machen!«

Demy zog eine Grimasse. »So schlimm ist es nicht, wenn sich Menschen umeinander sorgen.«

»Werde nur nicht frech! Ich kann für mich selbst Sorge tragen!«

»Dann ist es ja gut! Ich öffne jetzt die Tür!«

»Untersteh dich! Verschwinde!« Meindorffs Stimme klang bedrohlich, dennoch glaubte Demy wenig verhüllte Angst in ihr zu hören. Sie zögerte noch einen Augenblick, schob dann jedoch alle Bedenken beiseite und drückte die Klinke herunter. Die Gardinen flatterten im Windzug auf und vom Nachttisch flogen ein paar Papiere zu Boden.

»Raus!«, fauchte der im Bett liegende Mann sie an. Aber Demy hatte sich nicht so weit vorgewagt, um sich jetzt vertreiben zu lassen, zumal ihr ein eigentümlicher Geruch in die Nase stieg. Mit einem Blick stellte sie fest, dass aus den offenen Fenstern Bettzeug hing, während Meindorff in einem ungewöhnlich nachlässig bezogenen Bett lag. Der Mann hatte in sein Bett genässt und versuchte das Malheur zu verheimlichen.

»Hier zieht es aber fürchterlich«, murmelte sie halblaut vor sich hin, trat an das erste Fenster, schob das befleckte Leintuch zur Seite, sodass es wie eine aufgeblähte Fahne in die Tiefe segelte, und verschloss das Fenster. Daraufhin trat sie an den zweiten Fensterflügel, ließ den Deckenbezug und das Einknöpftuch hinausfallen, ehe sie auch dieses Fenster schloss. »Bevor Frau Degenhardt Ihnen Ihre Mahlzeit heraufbringt, könnten Sie noch ein paar Schritte im Flur auf und ab gehen, so wie Dr. Stilz es Ihnen riet.« Mit diesen Worten eilte Demy aus dem Zimmer und verschwand in ihrer eigenen Kammer.

Es dauerte nicht lange, bis sie die schweren Schritte des Mannes und das wuchtige Aufsetzen seines Gehstocks im Flur hörte. Sie schlich zur Tür und beobachtete, wie der Mann dem am Ende gelegenen Raum entgegenwankte, der einst das private Wohnzimmer seiner früh verstorbenen Frau gewesen war.

Blitzschnell huschte Demy in sein Schlafzimmer, warf die Decke vom Bett, bezog es eilig neu, zog auch die Decke ordentlich ein, strich alles glatt und verschwand wieder, diesmal die Stufen hinunter. Auf dem kleinen Wiesenstreifen, der selten genutzt wurde, da er den ganzen Tag über im Schatten lag, sammelte sie die aus dem Fenster geworfene verschmutzte Wäsche ein.

Sie hoffte, dass der stolze Mann verstanden hatte, wie er ab sofort in einem solchen Fall verfahren konnte, ohne dass der gesamte Haushalt von seinem peinlichen Missgeschick erfuhr. Allerdings musste sie Maria bitten, jeden Morgen hier draußen nach eventueller Wäsche zu sehen und einen günstigen Augenblick abzupassen, in dem sie das Bett des Rittmeisters frisch beziehen konnte. Sie selbst würde dafür keine Zeit haben und Henny mochte sie diese Tätigkeit nicht zumuten – nicht nach dem, was der Mann ihr über Jahre angetan hatte.

Demy brachte das Bettzeug in die Waschküche und weichte es in einem Bottich mit kaltem Wasser ein, ehe sie sich auf den Weg in den Garten machte, wo Theodor noch immer auf sie wartete.

Sie kam allerdings nur bis in die Halle, denn als sie die Tür zu einem der nach hinten führenden Zimmer öffnen wollte, trat aus der gegenüberliegenden Treppenhaustür eine ihr unbekannte schlanke Frau. Diese trug eine große Tasche über der Schulter und fuhr erschrocken zusammen, als sie sich beim Verlassen des Treppenhauses ertappt sah.

»Entschuldigen Sie bitte, aber wer sind Sie?«, fragte Demy scharf. Bisher war sie davon ausgegangen, über alle Vorgänge in diesem Haus informiert zu sein. Dass dies unmöglich war, hätte sie jedoch selbst am besten wissen müssen, immerhin hatte sie über Jahre hinweg das Grundstück heimlich verlassen und nun versteckte sie vor den Augen Meindorffs und in seinem eigenen Zuhause seine Enkelkinder und andere Personen. Allerdings hatte Tilla ihr vorhin erklärt, dass der alte Rittmeister über diese Heimlichkeiten Bescheid wusste …

Sie ging ein paar Schritte auf die Fremde zu. Diese hielt sich krampfhaft an ihrer Handtasche fest und murmelte etwas schwer verständlich: »Frau Meindorff hat nach mir geschickt.«

»Tilla Meindorff?«

»Ja, die gnädige Frau. Wegen ihres Zustandes!«

»Ah!«, machte Demy und runzeltet die Stirn. Hatte Tilla in einer so frühen Phase der Schwangerschaft eine Hebamme gerufen, in der Hoffnung, sie könne ihr mit ihrer Übelkeit helfen? »Danke, dass Sie gekommen sind. Ich bringe Sie zur Tür«, sagte Demy und geleitete die Frau an die Pforte. Dort schnallte die hagere Person die ausladende Tasche auf ihren Rücken und setzte sich auf ein Fahrrad. Bevor sie mit vernehmlichem Klappern irgendeines losen Teils durch das geöffnete Tor auf die Schlossstraße einbog, sortierte sie umständlich ihren Rock um ihre Beine und warf einen misstrauischen Blick zurück.

Demy wandte sich leicht irritiert ab und ging nun endlich in den Garten, wo sie Henny und Theodor auf der weiß gestrichenen Gusseisenbank im Gespräch vorfand. Der Hauptmann erhob sich, kaum dass er sie erblickte, und Henny nahm dies als Anlass, sich zu entfernen. Demy griff nach einem der beiden auf dem Tisch stehenden Kristallgläser mit Wasser und trank, vom vielen Treppensteigen und der heißen Augustsonne erhitzt, erst einmal ein paar kräftige Schlucke. Dabei ließ sie sich von Theodors amüsiertem Lächeln nicht stören.

»Wenn Sie sich jetzt noch den Mund mit Ihrem Handrücken abwischen, Fräulein van Campen, lasse ich bei meinem nächsten Besuch ein Bier für Sie bereitstellen.«

»Man sollte wohl annehmen, dass im Hause Meindorff ausreichend von diesem Getränk vorhanden ist, nicht?«, erwiderte Demy leichthin. Sie fragte sich, ob Joseph, der offenbar nicht nur ihre, sondern auch Philippes Briefe ignorierte, die Brauerei überhaupt noch sein Eigen nannte. Womöglich musste sie sich auf die Suche nach Julia Romeike begeben. Die Chancen standen gut, dass sie einiges über Tillas Ehemann zu erzählen wusste …

»Wo sind Sie nur mit Ihren Gedanken?«, fragte Theodor amüsiert und Demy stellte das Glas, das sie in ihren Händen gedreht hatte, zurück auf die gelbe Tischdecke.

»Überall und nirgends«, gab sie zu. »Ich hoffe, Henny hat Sie während meiner Abwesenheit gut unterhalten.«

»Sie berichtete mir, was Sie auf diesem Gartenstück alles anpflanzen, wie Ihre Pläne für die Ernte und den bald bevorstehenden Winter aussehen.«

»Sagte sie auch, dass die Idee mit dem Nutzgarten von ihr stammte?«

Theodor schüttelte den Kopf und ließ seinen Blick zur Tür wandern, durch die Henny verschwunden war. »Nein, dafür war sie zu bescheiden. Bitte richten Sie Henny meine Bewunderung für diesen genialen Gedanken aus!«

»Das tue ich gern.«

»Und nun erzählen Sie mir, was Sie vorhin so aufgeregt hat, dass Sie beinahe einen Offizier zu Fall brachten! Und bitte scheuen Sie sich nicht, Ihr Anliegen deutlich zu formulieren, falls Sie Hilfe benötigen. Ich hatte Ihnen meine uneingeschränkte Unterstützung angeboten. Sie haben noch nicht ein einziges Mal Gebrauch davon gemacht. Wobei ich natürlich dankbar daraus schließe, dass im Hause Meindorff alles zum Besten steht.«

Demy lächelte, denn seinem Tonfall war anzuhören, dass er seinen eigenen Worten keinen Glauben schenkte. Immerhin kannte er ihre und Hannes’ Geschichte und wusste um ihre erneute Zwangsverlobung mit einem Mann, von dem er wohl ebenso wenig hielt wie ein Großteil der Berliner Bürgerschaft.

»Wissen Sie …«, begann sie, nachdem sie sich ihre Worte sorgfältig zurechtgelegt hatte, kam aber nicht weiter. Rika stürmte laut kreischend aus der Seitentür, stolperte über die Schwelle und fiel der Länge nach hin. Erschrocken sprang Demy auf. Theodor war noch schneller bei dem schluchzenden Mädchen und half ihr auf die Beine.

Rika musterte den Uniformierten, knickste und lief hastig zu Demy. »Komm schnell! Überall ist Blut!«, rief sie aus und zerrte an Demys Bluse, die sie dadurch aus dem Rockbund löste.

»Blut? Wovon sprichst du?«, fuhr Demy Rika an und befreite sich energisch aus dem Griff der Schwester.

»Tilla! Ihr Bett ist voll Blut. Ich glaube, sie ist tot!«