Kapitel 43

Zarskoje Selo, Russland,
August 1915

In den Fluren und Räumen des Alexanderpalastes ging es längst nicht mehr so ruhig und beschaulich zu wie noch vor einem Jahr. Zar Nikolaj hatte am 23. August persönlich den Oberbefehl über das russische Heer an sich gerissen und schien damit in ein Wespennest gestochen zu haben. Viele Militärs fühlten sich übergangen. Sie zweifelten mehr öffentlich als heimlich die strategischen Fähigkeiten ihres obersten Befehlshabers an und verbündeten sich mit denjenigen aus dem Adel, die schon lange die Schwäche, Nachsicht und auch das Desinteresse des Zaren bemängelten und eine noch größere Einmischung der deutschen Zariza und ihres zweifelhaften Vertrauten Rasputin in die politischen Belange befürchteten.

In dem Durcheinander von vorbeihastenden Dienern, den Militärs mit ihren knallenden Stiefeln und den immerzu diskutierenden und sich gegenseitig mit Vorschlägen und Beschimpfungen übertreffenden Beratern fühlte Anki sich vollkommen verloren. Sie saß auf einer gedrechselten Holzbank, die mit goldschimmerndem Samt bezogen war, machte sich so klein wie möglich und wartete darauf, dass Dr. Botkin Zeit für sie fand. Zwar hatte sie sich gewünscht, Ljudmila wäre an ihrer Seite geblieben, doch diese wollte natürlich den Großfürstinnen einen Besuch abstatten und war im Kinderflügel verschwunden.

»Anki van Campen, weshalb sind Sie nicht in den Flügel der Familie gekommen?« Dr. Botkin streckte ihr seine Hand hin und zog sie sogar auf die Füße. »Kommen Sie, diesem Taubenschlag müssen wir uns nicht aussetzen.«

Anki folgte dem Arzt der Zarenfamilie und lächelte heimlich in sich hinein. Dr. Botkin war einfach einmalig. Nur weil er bei der Zarenfamilie ein und aus ging, konnte er doch nicht annehmen, dass sie das ebenfalls tun durfte, zumal sie nur einmal in Begleitung von Fürstin Chabenski das Palais der Zarenfamilie betreten hatte.

Sie durchquerten eine verwirrende Folge von Fluren, Türen und weitläufigen, herrschaftlich ausgestatteten Räumen, bis sie schließlich den deutlich stilleren Palastflügel erreichten. Im Eingangsbereich deutete Dr. Botkin auf einen Stuhl und bat ein Dienstmädchen, ihnen Tee zu servieren.

»Es tut mir leid, dass ich Sie so spät noch störe, Exzellenz.«

»Ein wichtiger Grund wird Sie zu so später Stunde auf die Reise nach Zarskoje Selo getrieben haben.«

Getrieben! Anki fand dieses Wort sehr passend. Ihre Sehnsucht und Angst um Robert trieb, ja peitschte sie an. Ihr Tee wurde gebracht, doch Anki ignorierte ihn. Der Brief, den sie in ihrer winzigen Handtasche mit sich trug, war drängender als alle höflichen Konventionen und bedurfte einer sofortigen Weitergabe an den einzigen Mann, der ihr und Robert zu helfen imstande war. »Sie sind sicher sehr beschäftigt …«

»Robert Busch hat mir viel von Ihnen erzählt. Sie würden wohl keine spätabendliche Fahrt hier heraus unternehmen, würde Sie nicht eine dringende, unaufschiebbare Angelegenheit dazu zwingen. Also sprechen Sie bitte frei.«

Erleichtert lächelte Anki den gutmütigen Mann an, öffnete ihre Tasche und zog Fürst Chabenskis letzten Brief an seine Familie hervor. Dr. Botkin nahm ihr das Papier aus der Hand, erhob sich und trat zu einer Lampe, um mehr Licht zum Lesen zu haben. Auch er las nur die kurzen, von Robert unter die Zeilen des Obersts gesetzten Sätze und drehte sich nach Beendigung der Lektüre mit nachdenklicher Miene zu ihr um. Anki sprang auf und gesellte sich neben ihn.

»Ich werde sehen, was ich für den jungen Mann tun kann, möchte aber zu bedenken geben, dass die russischen Mühlen sehr langsam mahlen. Es könnte Wochen dauern, bis ich erfahre, wohin Robert Busch gebracht wurde und bis eine Bitte von mir, hoffentlich unterstützt von der Zariza persönlich, ihn zurück nach Petrograd bringt.«

Anki wollte dem Hofarzt mit Tränen in den Augen für seine geplante Intervention danken, als eine schneidende Stimme sie herumwirbeln ließ. »Vielleicht muss ich der Mama nicht nur immer wieder vor Augen halten, dass die Ärzte nicht für den armen Alexej taugen, sondern auch, dass ihre Machenschaften nicht unterstützungswürdig sind. Vor allem, wenn sie mit einer Deutschen zu tun haben oder im Zusammenhang mit irgendwelchen Deutschen stehen!«

»Rasputin«, flüsterte Anki entsetzt und wich zurück, wobei sie gegen den Arzt stieß. Dieser legte ihr sanft die Hände auf die Schultern.

Rasputin trug an diesem Abend eine auffällige weinrote Seidentunika, die er mit einem schwarzen, ebenfalls aus Seide gefertigten Band gegürtet hatte.

»Vergessen Sie da nicht die Herkunft ihrer Hoheit Alexandra Fjodorowna?«, fragte Dr. Botkin ungewohnt kalt.

»Ich kenne die Stimmen, die die Mama Russlands für eine Spionin halten. Aber sie liebt das russische Volk und will nur sein Bestes.«

»Davon sprach ich nicht und das wissen Sie auch.« Beherrscht ergriff Dr. Botkin Ankis Arm und verließ mit ihr das Palais.

Ein kühler Windstoß schlug ihnen entgegen. Trotz der vorgerückten Stunde war die Nacht noch nicht vollständig hereingebrochen. Einige feuerrote Streifen zogen sich über den tiefdunklen Himmel, als versuchten sie, sich gegen das Schwarz zur Wehr zu setzen. Nicht anders fühlte Anki sich nach ihrer erneuten Begegnung mit dem Starez. Wieder war er völlig überraschend in ihr Leben getreten und wie die Male zuvor spürte sie, dass er seine unheimlichen Fäden um sie spann.

»Ich geleite Sie besser bis zu Ihrer Kutsche«, sagte Dr. Botkin und bot ihr an der Treppe seinen Arm.

»Ich bin mit Ljudmila Sergejewna Zoraw angereist, Eure Exzellenz. Die Equipage der Zoraws steht gleich hier drüben, vor dem ersten Kanal.«

»Ach natürlich, wie sonst hätten Sie Einlass gefunden!«

»Ich bin Komtess Ljudmila Sergejewna für ihre Unterstützung in dieser Sache sehr dankbar!«

»Die Komtess wird froh sein, Ihnen einmal etwas von dem zurückgeben zu können, was Sie alles für sie getan haben«, meinte der Arzt und hob den Arm, damit der Kutscher für Anki die Tür öffnete. Diese drehte sich nochmals zu Dr. Botkin um.

»Und ich weiß nicht, wie ich Ihnen jemals danken kann.«

»Robert Busch ist ein hervorragender Arzt. Wir könnten ihn in Petrograd gut gebrauchen. Aber bitte vergessen Sie bei aller Zuversicht nicht, dass es Wochen dauern kann, bis wir etwas von seinem Verbleib hören.«

»Ich nehme es mir zu Herzen«, erwiderte Anki tonlos und dachte dabei an ihr unerfreuliches Zusammentreffen mit Rasputin. Ob der Mann die Macht besaß, ihr Anliegen zu durchkreuzen und Robert gar für immer irgendwo in der sibirischen Unendlichkeit verschwinden zu lassen?

»Verlieren Sie die Hoffnung nicht«, sagte Dr. Botkin, bevor er hinter ihr die Kutschentür schloss.

»Danke«, murmelte Anki und lehnte sich an das harte Polster zurück. Erst jetzt gelang es ihr, die Angst abzuschütteln, die sich beim unerwarteten Auftauchen des Starez wie ein bleischwerer Umhang auf sie gelegt hatte.

Die Minuten schlichen dahin, in denen sie für Roberts Sicherheit betete, ehe sich bedächtige, leichte Schritte dem Gefährt näherten. Anki beugte sich nach vorn, um am Vorhangstoff vorbei auf den Platz vor dem Alexanderpalast zu blicken, und sah Ljudmila. Da trat überraschend hinter der Kutsche eine Gestalt hervor und stellte sich ihrer Freundin in den Weg. Sofort erkannte Anki Rasputin!

Ljudmila stieß einen entsetzten Schrei aus, blieb jedoch wie angewurzelt stehen und betrachtete ihren Peiniger mit einer Mischung aus Faszination und Abscheu.

»Süße Ludatschka! Ich vermisse die Gespräche mit dir und deine Nähe. Und ich sehe deutlich, wie das Dunkle, Böse von dir Besitz ergreifen will. Diese Fremde bringt es über dich. Löse dich von den Banden, die dich bei ihr halten, und komm mit mir.«

Ljudmila brachte keinen Ton über ihre Lippen. Reglos stand sie da, umgeben von der nun schnell hereinbrechenden Dunkelheit.

»Komm, Ludatschka, sei wieder meine Freundin«, lockte der Starez.

Anki musste entsetzt mit ansehen, wie die Komtess einen Schritt auf Rasputin zuging, dann einen zweiten. Der Russe hatte Anki den Rücken zugewandt, doch es brauchte nicht viel Fantasie, um sich sein triumphierendes Lächeln, seine brennenden Augen vorzustellen. Von dem wilden Wunsch gepackt, Ljudmila vor ihm zu beschützen, rutschte Anki nach vorn, drückte die Kutschentür auf und trat auf den noch ausgeklappten Tritt.

Rasputin wirbelte herum, sodass seine zottigen Haarsträhnen für einen Sekundenbruchteil nach allen Seiten abstanden und ihm ein dämonisches Aussehen verliehen. Aber Anki ließ sich davon nicht schrecken. Er war nur ein Mensch. Ein Mann, der auf eigentümliche Weise Macht über andere erlangte, jedoch nur dann, wenn man sie ihm gewährte. Es kam einem inneren Kampf gleich, sich seinem Einfluss zu entziehen, doch Anki wusste, sie konnte ihn gewinnen! Immerhin hatte sie schon einmal den Sieg gegen ihn davongetragen. In Gedanken formulierte sie einen Hilfeschrei zu Gott.

In diesem Moment hob Rasputin langsam, fast bedrohlich seinen rechten Arm und deutete mit dem Zeigefinger auf ihr pochendes Herz. »Ich habe dich nie gekannt! Fort mit dir. Was du getan hast, hast du gegen Gott getan!«

»Ich hasse es, wenn Sie die Bibel missbrauchen!«, fauchte Anki aufgebracht.

Rasputin wich einen Schritt zurück und brach den Blickkontakt, was Anki ungemein erleichterte. Von seinen durchdringenden Augen ging eine eigentümliche Macht aus.

»Luda? Ljudmila, komm bitte, steig ein!«, versuchte sie erfolglos zu ihrer wie versteinert dastehenden Freundin durchzudringen. Anki trat eher aus Verzweiflung als aus Mut zu Ljudmila und berührte sie am Arm. Die Komtess zuckte zusammen, als sei sie geschlagen worden, und stieß einen spitzen Schrei aus, doch nun gelang es ihr, ihren Blick von Rasputin zu lösen und sich auf Anki zu konzentrieren.

»Steig rasch ein«, forderte Anki ihre Freundin auf, die der Anweisung eigentümlich mechanisch folgte.

Anki atmete erleichtert auf. Endlich durfte auch sie aus der Nähe des Starez fliehen. Sie fühlte sich bei Weitem nicht so mutig, wie sie aufgetreten war und wusste, dass ihre Kraft, sich ihm zu widersetzen, nicht mehr lange vorhalten würde. Anki wartete ängstlich, bis Ljudmila eingestiegen war, ehe auch sie den Fuß auf den Tritt setzte. Eine Bewegung neben ihr ließ sie aufschrecken und den Kopf wenden.

Rasputin war zu ihr getreten, sah sie aber nicht an, sondern über sie hinweg in den inzwischen nächtlichen Himmel. »Das hättest du nicht tun sollen. Ich spreche mit der Mama.«

Nach diesen gefährlich leise ausgesprochenen Worten wandte er sich ab und stapfte davon. Dabei vermittelte er das Gefühl, dass er sich hier, umgeben von Palastwachen, Soldaten, Politikern und vor allem bei der Zarenfamilie zu Hause fühlte.

Ein Zittern durchlief Ankis Körper. Ob sie mit ihrem Einsatz für Ljudmila allen Bestrebungen, Robert aus den Fängen des russischen Militärs zu befreien, den Todesstoß versetzt hatte?