Kapitel 31

Bei Reims, Frankreich,
April 1915

Der Franzose feuerte nicht, sondern schwenkte mit seiner Morane-Saulnier neben ihm ein, sodass sie bald auf gleicher Höhe flogen. Philippe, dem das Verhalten des Piloten suspekt vorkam, warf einen Blick hinüber. Zu seinem Erstaunen winkte ihm sein Gegner mit der Hand zu.

Er zog eine Grimasse und überlegte, ob er den Augenblick nutzen sollte, um rechts wegzutauchen. In diesem Moment schob der Mann im anderen Flugzeug seine Schutzbrille auf die Stirn – und da erst erkannte Philippe in ihm Claude. Erleichterung durchflutete ihn. Er löste seine verkrampften Finger von der Steuerung und tippte sich mit der Linken grüßend an die Schläfe. Claude musste frühzeitig das Fluggerät erkannt haben, das Philippe ursprünglich für ihn gebaut hatte! Der Franzose stülpte sich die Brille wieder über, winkte nochmals und entfernte seine Maschine in eher gemächlichem Tempo, als fiele es ihm schwer, den Freund zu verlassen.

Philippe sah ihm lange nach, bis die Morane-Saulnier nur noch ein winziger Punkt am Horizont war, während er selbst sich den Bodenstellungen beider Armeen näherte. Die Schlagzahl seines Herzens beruhigte sich nur langsam, aber er verspürte Erleichterung darüber, dass es Claude gut ging. Sein Freund war am Leben!

Allerdings hatte Philippe durch seine Ausweichmanöver wertvolle Zeit verloren, zumal er zu spät gestartet war. Die Frist, in der die deutschen Piloten ein unbewaffnetes Flugzeug ohne Eisernes Kreuz unbeschadet passieren lassen sollten, weil einer der Ihrigen aus Frankreich zurückerwartet wurde, war längst verstrichen. Das konnte unangenehme Folgen für ihn nach sich ziehen. Womöglich war er von den Franzosen verschont worden, um dann von den Deutschen abgeschossen zu werden?

Weit unter sich entdeckte er die verwirrenden Labyrinthe aus teils flüchtig angelegten, teils über den Winter sorgfältig ausgebauten Lauf- und Schützengräben. Ein gewaltiger Wirrwarr aus schwarzen Linien, die einen wie mit einem Lineal gezogen, andere hingegen gekrümmt und verwinkelt. Ein blauer Flusslauf schlängelte sich zwischen verlassenen Stellungen hindurch, umgeben von den dunklen Löchern unzähliger Granateneinschläge. Dieser Todesstreifen, in dem kein grüner Grashalm mehr wuchs und kein Baum mehr stand, zerteilte das Land bis an den Horizont. Vereinzelt konnte Philippe Geschütze, Fahrzeuge und abseits angelegte Unterstände entdecken, ehe er den Frontabschnitt bei Reims hinter sich ließ und in Richtung der belgisch-luxemburgischen Grenze flog.

Mittlerweile war die Wolkenwand deutlich näher gerückt. Philippe betrachtete die weißen und grauen Schichten, die teils wie pluderige Watte über dem Land hing, sich andernorts aber gleich wuchtiger Schneeberge vor ihm aufbauten. In diesem Moment huschte für den Bruchteil eines Augenblicks ein Schatten über ihn hinweg.

Alarmiert hob Philippe den Kopf. Eine zweite Albatros kreuzte ihn. Am Geräusch ihres Motors hörte er, dass sie hinter ihm eine enge Kurve bestritt. Schließlich tauchte direkt in seiner Flugbahn eine dritte Albatros auf. Sein Herz schien für einen Schlag auszusetzen.

Philippe reagierte schnell und kippte seine Maschine nach rechts weg, sein Gegenüber wich minimal nach links aus. Gleichzeitig knatterte an Bord der ihn verfolgenden Albatros das Maschinengewehr los. Hitzewellen jagten durch Philippes Körper. Schweißtropfen liefen ihm über die Stirn, an der Schutzbrille vorbei ins Gesicht.

Philippe knurrte wütend und ließ sein Flugzeug fallen. Kalter Wind brannte den Schweiß in seinem Gesicht fest. Sein Schal flatterte wild hinter ihm her, als er in einer Spirale in die Tiefe trudelte. Nach ein paar Umdrehungen fing er das Fluggerät wieder ab und lenkte es in Richtung des von ihm avisierten Flugfeldes. Überrascht von der Wendigkeit seines Eigenbaus brauchten die Albatros-Piloten einen Moment, ehe sie sich erneut an seine Fersen hefteten. Der Vordere ihrer kleinen Jagdstaffel begann wieder zu feuern.

Philippe zog die Maschine steil nach oben, setzte zu einem Looping an, brach diesen aber ab und kehrte mit einer Schleife seine Flugrichtung um. Dieses Manöver hatte er ein paarmal bei Fokkers Freund Immelmann beobachtet. Es brachte ihn in die hervorragende Position über die ihn jagenden Flugzeuge. Er donnerte über die Albatrosse hinweg und sah eine reelle Chance, ihnen damit vorerst zu entkommen. Deutlich konnte er das Eiserne Kreuz auf ihren Tragflächen erkennen.

Philippe gurtete sich los, richtete sich in seiner Pilotennische halb auf und griff nach hinten, um die zusammengerollte Leinwand mit demselben Kreuz hervorzuholen. Schnell setzte er sich wieder, schnallte sich an und warf einen prüfenden Blick um sich. Zwei Albatrosse flogen noch immer unter ihm, doch eine fehlte!

Philippe knirschte mit den Zähnen. Seine Furcht vor einem Abschuss wuchs. Einem Impuls folgend schwenkte er nach links ab. Dadurch entging er einer Salve, die der dritte Pilot, der sich irgendwie wieder hinter ihn gesetzt hatte, auf ihn abfeuerte.

Mit voller Absicht steuerte Philippe in die weiße Wolkenmasse hinein, die ihn sofort verschluckte. Er ließ sein Flugzeug noch höher klettern und umklammerte die Steuerung mit festem Griff. Die ganze Zeit wartete er darauf, erneut beschossen zu werden.

Wie aus dem Nichts tauchte der dritte Flieger rechts von ihm auf. Die Albatros raste mit hoher Geschwindigkeit auf ihn zu. Jetzt war Philippe für den Kerl die perfekte Zielscheibe.

Schwitzend ließ Philippe die Leinwand mit dem Eisernen Kreuz aus seinem Eigenbau hängen. Er hoffte und betete, dass der Flugkünstler von dem deutschen Piloten wusste, der inkognito den Luftraum wechseln wollte.

Das aufblitzende Mündungsfeuer des MGs ließ seine Hoffnung schwinden. Die Kugeln zischten knapp über seine Tragflächen hinweg und verloren sich im Nebel. Donnernd überflog ihn die Albatros und wurde Sekunden später von der Wolkenwand verschluckt.

Diesmal behielt Philippe sowohl die Höhe als auch den Kurs bei. Vielleicht gelang es ihm, seine Gegner zu täuschen. Wenn er Glück hatte, rechneten sie mit einem neuerlichen Versteckspiel seinerseits.

Immer wieder blickte er sich um und fühlte die Spannung in seinem Inneren anwachsen. Sein Blindflug durch die weiße Wolkenmasse, die mal mehr, mal weniger Sicht freigab, war nicht dazu angetan, sich besser zu fühlen. So konnte er sich zwar verstecken, allerdings würde auch er die Albatrosse erst sehr spät sehen.

Die Wolken lichteten sich. Über ihm tauchte blauer Himmel auf, vor ihm erstreckten sich grüne Wiesen und Waldflächen. Von den drei Fliegern war nichts zu sehen. Philippe verspürte eher Irritation als Erleichterung. Ihm war, als bissen ihm Tausende von Ameisen in den Nacken, also warf er einen Blick zurück.

Da waren sie! Knapp hinter ihm. Angeordnet wie ein V, allerdings in versetzten Höhen. Gleichgültig, ob er nun steigen oder sinken würde – er war ihrem Beschuss gnadenlos ausgeliefert.