Kapitel 28

Berlin, Deutsches Reich,
November 1914

Regentropfen trommelten gegen die Fensterscheiben und perlten an ihnen entlang nach unten. Durch das nasse Glas sah die Stadt noch trister aus, als sie das in diesem grauen Herbst ohnehin tat. Dementsprechend unbehaglich fühlte sich Demy. Sie zog ihre Schultern nach oben und wandte den Blick vom Fenster auf ihre dampfende Teetasse und schließlich hinüber zu Meindorff Senior. Es kam selten vor, dass Demy frühmorgens auf den Hausherrn traf, da er nach ihr aufzustehen pflegte und sich das Frühstück von Maria ins Arbeitszimmer bringen ließ.

An diesem unwirtlichen Morgen saß Meindorff jedoch vor einem gefüllten Teller und einem mittlerweile kalten Kaffee, die gefalteten Hände auf der Tischkante, und wirkte geistesabwesend. Seine buschigen Augenbrauen waren bedrohlich zusammengezogen, wenngleich sein Blick an diesem Tag weder herrisch noch Ehrfurcht gebietend war. Vielmehr wirkte er bedrückt und grüblerisch.

Demy hatte weder auf ihren leise ausgesprochenen Gruß noch auf ihre Frage, ob sie ihm einen frischen Kaffee bringen solle, eine Reaktion erhalten, weshalb sie ebenfalls schweigend ihre Mahlzeit einnahm.

Die Anzahl der Auseinandersetzungen zwischen dem Rittmeister und ihr hatte deutlich nachgelassen. Das lag nicht an einer allmählichen Annäherung oder an Demys Bereitschaft, sich seinen Regeln zu unterwerfen; vielmehr begegneten sie sich kaum noch. Ein zweiter Grund war, dass Meindorff sich umso weniger für sie zu interessieren schien, je länger Demy in seinem Haushalt lebte. Sie blieb ein unwillkommenes Anhängsel von Tilla, dem man besser nicht zu viel Aufmerksamkeit schenkte. Dieser Tage kam ihr sein Desinteresse entgegen, doch früher, als sie jünger gewesen war, hatte sie Geborgenheit, Ansprache und Anerkennung schmerzlich vermisst.

Demy hob anmutig die Tasse an ihre Lippen, wie ihre einstige Gouvernante Henriette es ihr beigebracht hatte, und musterte über ihren goldenen Rand hinweg ihr Gegenüber. Erschrocken stellte sie fest, wie auffällig der Mann in den letzten Monaten gealtert war. Nunmehr vollständig ergraut lichtete sich das Haar zusehends, seine Haut wies vermehrt Altersflecken auf und hing ihm faltig über die Wangenknochen, was seinem Gesicht einen eingefallenen Ausdruck verlieh. Obwohl Meindorff seine Hände auf dem Tisch aufstützte, entging Demy nicht ihr Zittern. Ebensowenig ließ sich das unnatürlich kräftige Heben und Senken seiner Brust bei einem jeden mühsamen Atemzug übersehen. Der Mann war nicht nur gealtert, sondern befand sich in einer miserablen körperlichen Verfassung.

Demy fühlte Sorge in sich aufsteigen, was sie selbst ein wenig verwunderte. Schließlich hatte dieser Mann ihr das Leben nicht gerade leichtgemacht. Immer wieder hatte er sich über ihre Wünsche hinweggesetzt und sie vor vollendete Tatsachen gestellt. Dennoch rührte der sichtliche Verfall des einst so willensstarken und erfolgreichen Industriellen ihr Herz.

»Herr Rittmeister?«, wagte sie es ihn anzusprechen. Der Mann reagierte nicht, sondern starrte weiterhin auf seine ineinandergeflochtenen Finger. Eindringlicher und begleitet von einem kräftigen Aufsetzen ihrer Tasse auf die Untertasse versuchte sie es erneut. »Herr Rittmeister?«

Tatsächlich runzelte Meindorff die Stirn und hob langsam den Kopf, als fiele ihm dies unendlich schwer. »Sagtest du etwas?«

»Möchten Sie nicht Ihre Mahlzeit einnehmen, Herr Rittmeister? Ich besorge Ihnen gern einen neuen, heißen Kaffee.«

Meindorff blinzelte irritiert, ehe er nickte. Also erhob Demy sich, um ihm den auf einem Stövchen warm gehaltenen Kaffee in eine frische Tasse zu gießen. Sie trat um den massiven Eichentisch herum und stellte die Tasse samt Untertasse vor ihm ab. Schließlich nahm sie all ihren Mut zusammen und ging neben dem erneut in Gedanken versunkenen Mann in die Knie. Sie legte ihre Hand auf seine beiden, woraufhin er verwundert den Kopf hob und sich ihr zuwandte. »Fühlen Sie sich nicht wohl, Herr Rittmeister? Soll ich Ihren Arzt verständigen lassen?«

»Ach, Blödsinn!«, fauchte er und griff nach seiner Tasse. Allerdings zitterte seine Hand so sehr, dass er den heißen Inhalt über den Tisch und seinen Teller verschüttete.

Demy glitt auf die Knie, nahm ihm die Tasse aus der Hand und stellte sie zurück. Ein Blick in sein beschämtes, verwirrtes Gesicht erschreckte sie, dennoch wagte sie nach seinem Ausbruch nicht mehr, ihn nochmals anzusprechen.

Sein Blick wanderte von der zitternden Hand, die er so intensiv musterte, als könne er nicht glauben, dass sie zu ihm gehöre, zu seinem mit Kaffee bekleckerten Teller und schließlich zu Demy.

»Vielleicht hast du recht. Ich habe Dr. Stilz schon lange nicht mehr gesehen.«

Demy begriff, welcher Fehler ihr unterlaufen war: Eine Schwäche einzugestehen war für den stolzen Geschäftsmann unmöglich. Sie lächelte zu ihm auf und erwiderte: »Dr. Stilz wird sich über eine Einladung bestimmt freuen. Am besten, ich rufe ihn persönlich an.«

»Charles weiß die Nummer seines Telefonanschlusses.«

Demy jagte ein schmerzlicher Stich durchs Herz, sie erinnerte Meindorff aber nicht daran, dass der englische Butler sofort bei Kriegsbeginn in seine Heimat zurückgekehrt war. Vermutlich verfügte auch Maria über die benötigten Informationen.

Ohne ihn um Erlaubnis zu bitten räumte sie sein Gedeck ab, bereitete ihm ein neues Frühstück zu und füllte diesmal die Tasse nur zur Hälfte. Erst als sie sah, dass er nach dem Brötchen griff, verließ sie den Raum, um Maria zu suchen.

***

Dr. Stilz, ein hagerer Mann mit grauem Haar, einem spitzen Kinnbart und gezwirbeltem Schnäuzer, verweilte lange im Arbeitszimmer des Rittmeisters. Währenddessen verharrte Demy im Foyer, verärgert darüber, dass Tilla das Haus verlassen hatte, um eine Freundin zu besuchen, anstatt auf den Arzt zu warten.

Beim ersten Geräusch an der Tür erhob Demy sich eilig und trat Dr. Stilz entgegen. Der blickte sie durch seine Drahtbrille freundlich an und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich nehme an, die Söhne des Herrn Rittmeisters befinden sich alle im Krieg?«

»Zwei von ihnen als Offiziere. Albert, der Jüngste, weilt noch in Groß-Lichterfelde.«

»Fehlt da nicht ein junger Mann? Der Pflegesohn, Philippe, nicht?«

»Richtig, Oberleutnant Meindorff«, stimmte Demy zu, und ein unbehagliches Gefühl breitete sich in ihr aus. Sie war mit Philippe verlobt, ein Umstand, der ihr eigentümlich fremd war. Vermuteten Bekannte der Meindorffs, wie Dr. Stilz, dass zwischen ihr und Philippe Zuneigung bestünde? Das bittersüße Gefühl, um etwas Wichtiges betrogen zu werden, konnte sie ebenso wenig vertreiben wie den Eindruck, sich mit ihrer Hilfsbereitschaft einmal wieder selbst geschadet zu haben. Aber gab es das überhaupt: ein Zuviel an Nächstenliebe? In Ankis letztem Brief hatte ihre Schwester davon geschrieben, dass Gott sich niemals etwas schenken ließ – er würde ihre selbstlose Liebe über die Maßen zurückgeben. Dennoch war es nicht immer leicht für Demy, darauf zu vertrauen, zumal sie sich seit vielen Jahren nach Zuneigung sehnte.

»Er ist in der Fliegertruppe abgestellt zum Flugzeugbau und zur Ausbildung neuer Piloten«, klärte sie den Arzt schließlich auf.

»Einer dieser tollkühnen Männer mit ihren fliegenden Kisten?« Dr. Stilz beugte sich ihr vertraulich entgegen. »Wäre ich etwas jünger, Fräulein, würde ich es auch wagen, mich in so ein Flugzeug zu setzen. Aber ich fürchte, meinen alten Knochen bekommt das nicht.«

»Ich bin schon einmal mit dem Oberleutnant geflogen! Es war aufregend und wunderschön!«

»Sie klingen tatsächlich sehr begeistert«, lachte der Mann und zwinkerte ihr vergnügt zu. »Wobei ich mich frage, ob Ihr Enthusiasmus dem Fliegen oder vielmehr dem schneidigen Piloten gilt, der Ihnen diesen besonderen, vermutlich romantischen Flug geschenkt hat.«

Demy errötete, obwohl der Flug ja eher aus einer Notsituation heraus stattgefunden hatte. Doch allein seine Annahme, dass Philippe ihr einen romantischen Flug geschenkt habe, reichte aus, um ihr klarzumachen, wie die Leute über sie und den Pflegesohn der Meindorffs dachten.

»Ich gewinne den Eindruck, Fräulein van Campen, dass Ihr Einfluss dem wilden Burschen guttut und Sie genau die Richtige für ihn sind. Aber ich möchte Sie nicht in Verlegenheit bringen. Sicher wollen Sie mit einem alten Narren wie mir nicht über Ihren Piloten sprechen.«

Fahrig lächelte Demy den sympathischen Arzt an und bat ihn zu der Sitzgruppe. Dort ließ Dr. Stilz sich laut aufseufzend in einem Sessel nieder, stellte seine verkratzte, braune Ledertasche zu seinen Füßen ab und faltete die Hände im Schoß. »Da seine Söhne nicht anwesend sind, sind wohl Sie oder die junge Frau Meindorff meine Ansprechpartner, nicht wahr?«

»Meine Schwester ist leider außer Haus.«

»Ach, Sie genügen mir völlig.« Schmunzelnd strich der Arzt sich über seinen spitzen Kinnbart und zog dabei die Stirn in Falten. »Ihrem zukünftigen Schwiegervater geht es in der Tat nicht gut. Er darf Ihnen dankbar sein, dass Sie mich rufen ließen. Den Herrn Rittmeister treiben in diesen gefährlichen Zeiten eine Menge Sorgen um, sowohl um seine Söhne wie auch um sein Unternehmen. Sein Herz ist angeschlagen. Ich riet ihm dringend, sich zu schonen, kurze Spaziergänge an der frischen Luft zu machen, endlich das Rauchen aufzugeben und den Alkoholkonsum drastisch einzuschränken.«

Demy hob die Hand. »Entschuldigen Sie bitte, Herr Doktor. Was meinen Sie damit, dass sein Herz angeschlagen sei?«

Der Arzt lächelte sie an und erklärte ihr in umständlichen Worten, dass das Herz des alten Meindorff zwar Blut in jede Zelle des Körpers pumpe, sich selbst aber nicht mehr ausreichend versorge. Daher rührte seine Müdigkeit, die Schwäche und die vom Herzen in den linken Arm ausstrahlenden Schmerzen, über die sein Patient klage.

»Nun ist die Familie gefordert. Er braucht, wie vorhin erwähnt, vor allem Ruhe. Die Verantwortlichen in seiner Fabrik müssen ihm einen Großteil seiner administrativen Arbeiten abnehmen. Hierbei ist vor allem ein Prokurist gefordert. Auch muss allzu große Aufregung von ihm ferngehalten werden.«

Fassungslos schüttelte Demy den Kopf. Den Rittmeister zu Ruhepausen zu bewegen konnte angesichts seiner momentanen Antriebslosigkeit möglicherweise noch gelingen. Allerdings erinnerte sie sich nicht daran, dass er während der über sechs Jahre, die sie in Berlin lebte, auch nur einmal den Garten betreten hatte. Er verließ das Haus nur, wenn er in die Fabrik, zu einem Geschäftstreffen oder einer gesellschaftlichen Veranstaltung musste und dorthin chauffierte ihn sein Kutscher Bruno. Was seine Ernährung und seine Vorlieben für Alkohol und Zigarren anbelangte, ließ er sich sicher weder von ihr noch von Tilla etwas sagen. Ob es einen Prokuristen in der Fabrik der Meindorffs gab, entzog sich Demys Wissen. Und wollte man Aufregungen von ihm fernhalten, sollte sie am besten sofort Berlin den Rücken kehren. Dazu mussten alle Zeitungen abbestellt und alle Besucher abgewiesen werden. Die Anweisungen des Arztes umzusetzen würde weitaus schwieriger sein, als einem Pferd das Einmaleins beizubringen.

Die warme Hand des Arztes auf der ihren riss sie aus ihren Überlegungen. »Niemand verlangt von Ihnen das Unmögliche, junges Fräulein. Ich kenne den Rittmeister seit vielen Jahren und bin mir bewusst, dass man einem alten Gaul keine neuen Kunststücke beibringen kann.«

Demy kicherte über das Bild, das ihrem eigenen Vergleich so herrlich ähnlich war, und schon wog der Gedanke, was auf Tilla und vielleicht ein Stück weit auch auf sie zukommen würde, nicht mehr ganz so schwer.

»Ich habe dem Herrn Rittmeister deutlich gesagt, wie es um ihn steht, und letztendlich liegt es an ihm, ob er sich an meine Anweisungen hält oder nicht. Sie können ihn dabei nur unterstützen und gelegentlich an seine Vernunft appellieren.«

Dr. Stilz erhob sich und deutete einen Handkuss über ihrer Hand an. Daraufhin griff er mit einem Elan, der sein Alter Lügen strafte, nach der Arzttasche und ging ins kleine Foyer, wo Henny mit seinem Hut und dem Mantel auf ihn wartete.

Demy, die sich abwenden wollte, hörte, wie die Tür aufsprang und der Arzt sagte: »Junge Frau, ich weiß nicht, ob Sie hier richtig sind. Der Eingang für das Personal ist hinten.«

»Diese Unterscheidung samt Ihrer Einschätzung ist diskriminierend. Wir verlangen hier Einlass!«

Erschrocken über die harschen Worte an einen so liebenswerten, älteren Herrn eilte Demy in die Vorhalle hinunter, um sich zu der unschlüssig an der Tür stehenden Henny zu gesellen. »Ist schon in Ordnung, Herr Doktor. Ich kümmere mich darum«, erklärte sie dem sichtlich überraschten Arzt.

Demy war erstaunt, Lieselotte vor der Tür zu sehen, zumal in Begleitung der Zwillinge, die um diese Zeit eigentlich in der Schule sein sollten. Sie hatte die Geschwister, vor allem aber Lieselotte lange nicht mehr gesehen.

Sie winkte sie herein und Henny, die die Zwillinge kannte, da Demy auch ihre jüngere Schwester Wilhelmine gemeinsam mit ihnen unterrichtet hatte, trat beiseite.

»Entschuldige, Demy, dass ich einfach hereinplatze«, stieß Lieselotte atemlos hervor, klang aber keineswegs so, als bereite ihr die Tatsache Kopfzerbrechen. Sie schob den schüchternen Peter nach vorn. »Ich muss weiter; bin ohnehin spät dran. Das Schulgeld von Willi und Peter für die höhere Schule wird nicht mehr gezahlt. Ihr Gönner, der das dank deiner Fürsprache übernommen hatte, ist im Krieg gefallen. Das Schulgeld für die Volksschule kann ich nicht aufbringen. Mama ist tot. Sie starb vor acht oder neun Wochen. Ich weiß nicht, wohin mit den Jungs. Du musst sie jetzt erst mal nehmen.« Damit wirbelte Lieselotte auf dem Absatz herum, verschwand nach draußen und warf die Tür hinter sich ins Schloss.

Mit offenem Mund starrte Demy auf das Holz der Tür vor sich.

»Entschuldige bitte«, sagte Willi, der zugänglichere der Zwillinge, und trat neben sie. »Ich habe Lieselotte gesagt, dass sie das nicht machen kann. Aber sie hat mir gar nicht zugehört.«

Demy schluckte ihren aufkeimenden Ärger hinunter, bevor sie sich den beiden Jungs zuwandte. Peter stand abseits, wohl in der Hoffnung, dass man ihn in der ganzen Aufregung übersah. Dies zu sehen schmerzte Demy. Sie hatte stets versucht, dem Kind mehr Selbstbewusstsein und das Wissen zu vermitteln, dass er ein geliebtes Kind Gottes war und mutig nach vorn blicken konnte.

»Komm, Peter, wir gehen in die Küche und schauen nach, ob Maria ein leckeres Frühstück für euch hat. Du erinnerst dich doch noch an Maria, nicht wahr? Sie war damals bei euch in der Wohnung, als eure Schwester Helene starb.«

Peter ließ einen klagenden Laut hören, begleitet von einem lauten Knurren seines Magens. Demy kräuselte die Nase. Wie lange die Heranwachsenden wohl keine ordentliche Mahlzeit mehr bekommen hatten? Seit dem überraschenden Tod ihrer Mutter? Demy wagte es nicht, Peter an der Hand zu nehmen, obwohl eine innere Stimme sie förmlich dazu drängte. Doch der Junge war in einem Alter, in dem er das vermutlich nicht wollte.

Begleitet von Henny huschten sie und die Brüder durchs Foyer, verschwanden schnell in der Arbeitskammer, die den Haupttrakt mit dem Seitenflügel verband, und betraten unentdeckt die Küche.

Seit Meindorff eine Anzahl Angestellter entlassen hatte, war Maria täglich in der Küche zu finden, um mit Hand anzulegen. Angetan mit Haube und Schürze baute die stämmige Frau sich vor den Eindringlingen auf. »Sind das nicht die Scheffler-Zwillinge?«, fragte sie gewohnt resolut in die Runde.

Peter wich einen Schritt zurück, sodass er gegen Demy stieß, die ihm beruhigend die Hände auf die schmalen Schultern legte. Willi hingegen verbeugte sich ungelenk und lächelte Maria hoffnungsvoll an.

»Setzt euch da an den Tisch. Henny bringt euch Frühstück, derweil spreche ich mit Demy.« Ihrem Kommandoton widersetzte sich niemand, und so standen Demy und Maria wenig später vor der Küchentür im Flur. »Was hat das zu bedeuten? Sie haben es zuvor nie gewagt, einen Ihrer Schützlinge ins Haus zu bringen!«

»Das würde ich auch heute nicht tun, Maria. Die Schwester der beiden hat sie wie alte Gepäckstücke hier abgestellt. Ihre Mutter starb vor ein paar Wochen, sagte sie. Ich vermute, Peter und Willi waren seitdem auf sich allein gestellt. Immerhin verbringt Lieselotte ihre freie Zeit bei ihren Versammlungen und in der Redaktion dieser feministischen Zeitung. «

Maria runzelte die Stirn, ließ Demy aber weitersprechen.

»Offenbar wird auch ihr Schulgeld nicht mehr bezahlt.«

»Sie sind alt genug, um eine Lehre anzufangen.«

Demy seufzte laut, verschränkte die Arme hinter ihrem Rücken und lehnte sich gegen die Wand. »Ach, Maria, ich hatte mir für sie eine andere Zukunft erträumt. Sie sind beide sehr gelehrig und könnten später studieren.«

»Sie kennen viele Familien, die in der Lage wären, diese Kinder zu unterstützen«, sagte Maria, verwarf diesen Gedanken aber wieder, wie ihre abwehrende Handbewegung verriet. »Das haben Sie schon vor Jahren versucht, nicht wahr? Heute wird es um ein Vielfaches schwieriger sein. Die Preise für Lebensmittel und Gebrauchsgüter steigen, seit die Briten eine Seeblockade verhängt haben. Überall geht die Angst um, da findet sich keine Seele, die diese Kinder fördert.«

»Und was mache ich jetzt mit ihnen?«

»Diese Lieselotte wird sie heute Abend doch wieder abholen!«

Demy wiegte den Kopf, ehe sie hilflos die Schultern in die Höhe zog. »Ich weiß es nicht. Sie ist so gut wie nie zu Hause, falls die Schefflers dieses Loch überhaupt noch ihr Eigen nennen. Wer weiß, ob irgendjemand daran gedacht hat, die Miete zu bezahlen.«

»Erkundigen Sie sich lieber nach den Verhältnissen, bevor wir uns den Kopf zerbrechen.«

»Darf ich die beiden heute hier im Bedienstetentrakt lassen?«

»Ja, ich beschäftige sie mit kleinen Arbeiten. Oder Sie geben Ihnen Schreib- und Rechenaufgaben.«

»Danke, Maria!« Demy griff nach der Türklinke und fügte hinzu: »Und das ausgerechnet jetzt. Der Arzt hat dem Rittmeister doch Schonung verordnet!«

»Der Herr Rittmeister muss davon ja nichts erfahren.«

Etwas gezwungen lachte Demy auf. Noch eine Heimlichkeit mehr … »Ich spreche mit Willi, dann sehen wir weiter.«

In diesem Augenblick erklangen feste Schritte im Flur, was die beiden Frauen veranlasste, sich zu dem Neuankömmling umzudrehen. Demys Herzschlag beschleunigte sich, als sie in dem Uniformierten Philippe erkannte. Hilfe suchend griff sie nach Marias Hand und erntete einen überraschten Blick von dieser. Als der Oberleutnant sie fast erreicht hatte, flüsterte die Haushälterin: »Ich hatte gehofft, diese Verbindung sei mehr als ein neuer Versuch, Ihre jüngeren Geschwister zu schützen!«

»Ach, Maria«, sagte Demy leise, drückte noch mal ihre Hand und straffte die Schultern. Was auch immer Philippe veranlasste, das Haus Meindorff zu betreten, sie würde ihm die Stirn bieten!

»Demy!«, grüßte er, verbunden mit einer knappen, eher lässigen Verbeugung, ehe er sich Maria zuwandte. »Guten Morgen an Preußens beste Köchin und Hausfee.«

Die Geneckte lachte und drohte ihm dabei mit dem Zeigefinger. »Sparen Sie sich Ihren Charme für Ihre Verlobte auf!«

»Ich fürchte, Degenhardt, die junge Dame ist dafür nicht halb so empfänglich wie Sie!«

»Und ich dachte, Sie kennen die Frauen besser!«

»Das halte ich für ein Gerücht.« Philippe grinste Demy an, wandte sich aber wieder an die Haushälterin. »Wissen Sie, wo ich den Rittmeister finde?«

»Das fragen Sie besser Ihre Verlobte. Ich verschwinde jetzt in der Küche und befasse mich dort mit der neuesten Aufregung, die diese junge Dame uns ins Haus gebracht hat.«

Demy, ohnehin leicht perplex darüber, wie vertraulich Maria sich mit Philippe unterhielt, warf ihr einen entrüsteten Blick zu.

»Na, wieder mal auf Ärger aus?«, erkundigte Philippe sich, kaum dass Maria die Tür zur Küche geöffnet hatte und ihnen der Geruch von kaltem Spülwasser und Fisch entgegenwehte.

»Ohne das Gefühl, die Gefahr im Nacken sitzen zu haben, bin ich nur ein halber Mensch«, gab sie zurück und deutete mit der Hand in Richtung Verbindungstür.

Philippe zögerte, den Blick auf die Klinke gerichtet, unterließ es dann aber, die Küche zu betreten.

»Ich musste Dr. Stilz rufen, Herr Oberleutnant. Dem Herrn Rittmeister geht es nicht gut. Ich vermute, er hält sich trotz der Anweisung des Arztes, sich zu schonen, in seinem Arbeitszimmer auf.«

»Dort habe ich zuerst nach ihm gesucht. Der Raum ist leer. Allerdings herrscht darin eine Unordnung, als sei Demy van Campen auf ihrem Pferd hindurchgaloppiert.«

»Von welchem Charme sprach Maria eben nur?«, spottete Demy, beschleunigte aber ihre Schritte. Philippes Beschreibung des Arbeitszimmers behagte ihr gar nicht.

Philippe eilte an ihr vorbei, um ihr die Tür zu öffnen. Nachdem sie die Halle erreicht hatten, gingen sie Seite an Seite zum Kontor und traten ein, ohne anzuklopfen. Verwundert registrierte Demy den mit Mappen völlig überhäuften Schreibtisch, die auf dem Boden verstreut liegenden Papiere und einen umgestürzten Stuhl vor der Fensterfront. Von einer unguten Ahnung gepackt drückte sie sich an Philippe vorbei und trat bis an den Schreibtisch. Hinter dem massiven Tisch mit den geschnitzten Kriegsmotiven ragten ein Paar schwarze Schuhe hervor.

»Herr Oberleutnant!«, stieß sie mit einem Hilfe suchenden Blick auf Philippe erschrocken hervor und ging vor dem Patriarchen in die Knie. Mit geschlossenen Augen lag der Mann zwischen Aktenordnern und Briefen.

Philippe war sofort an ihrer Seite, hockte sich neben sie und tastete am Hals seines Ziehvaters nach dessen Puls. »Maria muss den Arzt noch mal herbitten. Und der Kutscher soll kommen, am besten mit einem stabilen Brett, das sich als Trage eignet«, wies Philippe routiniert an.

»Aber … ich … er …« Fahrig vor Schreck rieb Demy ihre Hände.

Philippe nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände und zwang sie so, ihn anzusehen. »Er lebt, Demy. Jetzt gehen Sie und helfen Sie ihm, indem Sie tun, was ich sage!«, befahl er.

»Gut«, erwiderte sie, allerdings ließ er sie nicht los. Mit erschrocken aufgerissenen Augen sah sie Philippe an. Sein Gesicht, durch einen verwegenen Dreitagebart ungewohnt dunkel, war ihrem sehr nahe. Diese Nähe verwirrte sie, zumal sein Blick ernst auf sie gerichtet war und jede Spur von Spott oder Hochmut darin fehlte. Erstaunlicherweise empfand sie die Wärme seiner Hände an ihren Wangen als wohltuend und tröstlich. Als er jedoch den Druck verstärkte und sie fühlte, wie er seine Finger in ihrem Haar vergrub, konnte sie aufgrund des Prickelns, das sich in ihrem Körper ausbreitete, nur mühsam den Reflex unterdrücken, ihn heftig von sich zu stoßen. Doch da ließ er sie unvermittelt los, um sich Meindorff zuzuwenden, während sie fluchtartig den Raum verließ.

Hitze durchflutete ihren Körper. Sie zog ihre Nase kraus und versuchte, ihr wild klopfendes Herz zu beruhigen. Nun verstand sie, weshalb der Mann eine so große Anziehungskraft auf Frauen ausübte. Er hatte sie angesehen, als wolle er sein Leben bedingungslos in ihre Hand geben und gleichzeitig alles für sie tun. Aber war da nicht noch viel mehr gewesen? Ein tief verborgener Schmerz, der Linderung suchte?

Demy taumelte durch die Arbeitskammer, wies dann aber alle verwirrenden Gefühle und Gedanken von sich und stürmte in die Küche, während sie laut nach Maria rief.

»Meine Güte, Mädchen!«, rief die Frau erschrocken und sprang auf. Willi und Peter sahen ebenfalls fragend in ihre Richtung, unterbrachen aber ihre gierige Nahrungsaufnahme nicht für eine Sekunde.

»Der Rittmeister liegt bewusstlos in seinem Arbeitszimmer. Wir brauchen den Arzt. Und der Kutscher soll mit einem stabilen Brett für den Transport kommen«, richtete sie Philippes Worte aus.

Maria winkte Henny herbei. »Lauf zu Bruno, du hast gehört, um was es geht!«

Das Dienstmädchen nickte zwar, zögerte aber, sodass Maria ihr einen auffordernden Klaps auf den Rücken verpasste. Demy konnte Henny den Widerwillen nicht verdenken. Wie oft war sie in den Jahren ihrer Dienstmädchenstellung von dem Patriarchen missbraucht worden, ohne jede Möglichkeit, sich gegen ihn zur Wehr zu setzen?

Demy lief zurück ins Arbeitszimmer, wo Philippe den Bewusstlosen vor den Schreibtisch gezogen und ihm ein Sitzkissen unter den Kopf gelegt hatte. Er hockte neben ihm, sein Kinn auf den Unterarmen aufgestützt, die auf den angezogenen Knien ruhten, und betrachtete das fahle, eingefallene Gesicht des Mannes.

Da Demy den Eindruck hatte, hier nichts tun zu können, ja vielmehr zu stören, verließ sie den Raum und wartete vor der Tür auf Bruno. Als der Kutscher eintraf, betteten die Männer den Bewusstlosen auf das mitgebrachte Holzbrett und trugen ihn die Stufen hinauf. Demy eilte voraus, damit sie ihnen die Türen öffnen konnte, und stellte erstaunt fest, wie nüchtern, fast spartanisch die beiden Privaträume des alten Meindorff eingerichtet waren. Als Philippe und Bruno den Hausherrn auf sein Bett gewuchtet hatten, trat der heftig keuchende Arzt ein.

Bruno und Demy verließen das Schlafzimmer, und während der Kutscher sich eilig davonmachte, ging Demy unschlüssig auf dem hochflorigen Teppichboden im Flur auf und ab.

Als Demy auf ihrem ruhelosen Weg einmal wieder das Zimmer Meindorffs passierte, eilte ihr Maria entgegen. Sie hielt die Hand, mit der sie ein Stück Papier umklammerte, gegen ihre Brust gepresst. »Demy!«, stieß sie hervor, bevor die ersten Tränen über ihr Gesicht rollten.

Die Niederländerin schaute die sichtlich aufgelöste Haushälterin fragend an, die die Stirn gegen Demys linke Schulter presste, als suche sie dort Halt. »Was ist denn passiert?« Nie zuvor hatte Demy die sonst so gelassene, gelegentlich etwas raubeinige Frau so aufgelöst erlebt. Fürsorglich legte sie die Arme um Marias breites Kreuz.

»Nachricht von der Front. Ich fürchte, schlechte Nachrichten.«

»Hannes!«, keuchte Demy entsetzt, schob Maria von sich und riss ihr das Papier aus der Hand. In nüchtern klingenden Worten wurde darin erklärt, dass Leutnant Hans Meindorff im Gefecht schwer verwundet worden sei, in einem Lazarett in Frankreich liege und zum momentanen Zeitpunkt nicht transportiert werden könne. Schreckliche Visionen eines von Granaten zerfetzten, blutüberströmten Hannes ließen Demy rückwärtstaumeln, und sie prallte gegen einen muskulösen Körper. Kräftige Hände ergriffen sie an den Schultern und drehten sie um.

»Was ist mit Hannes?« In Philippes Stimme, noch tiefer als gewöhnlich, schwang etwas Drohendes mit, das auch in seinen Augen aufflackerte. Erschrocken und fasziniert zugleich blickte sie den Mann an. In diesem Moment verstand sie, weshalb Margarete, Lina und manch andere ihrer Bekannten sagten, Philippe würde ihnen Angst einflößen.

Eilig drückte Demy ihm die Benachrichtigung in Brusthöhe gegen den Uniformrock. Ohne sich zu vergewissern, ob er das Papier ergriffen hatte, wandte sich um und floh in ihr Zimmer. Sie wünschte sich sehnlichst, mit dem Brief auch ihre Ängste um Hannes, den alten Meindorff, die Scheffler-Zwillinge und die Zukunft ihrer Geschwister abgegeben zu haben. Schluchzend warf sie sich auf ihr Bett.

Bei dem Gedanken an Edith und ihre beiden Mädchen wuchs ihre Verzweiflung noch weiter an. In ihrem Schmerz schleuderte sie zwei Kissen quer durch den Raum, wobei eines ein Wasserglas von der Kommode fegte, das klirrend zersprang. Würde Ediths Welt ebenso zerbrechen, wenn sie von der schweren Verwundung ihres geliebten Hannes erfuhr?

***

Philippe zwang sich zur Ruhe. Er war in Windhuk durch mehrere Schüsse schwer verletzt worden. Bis auf gelegentliche Kopfschmerzen, unter denen er früher nie gelitten hatte, war er vollständig wiederhergestellt. Es half nichts, sich verrückt zu machen, bevor eine Mitteilung mit Details über Hannes’ Zustand eintraf.

Unschlüssig lehnte er sich mit dem Rücken an die Flurwand und starrte auf Demys geschlossene Zimmertür. Das Schicksal von Hannes ging ihr erstaunlich nahe, aber Hannes hatte ihm gegenüber einmal angedeutet, dass Demy und er eine Art geschwisterliche Zuneigung füreinander empfanden. Vielleicht war sein Ziehbruder ein Familienersatz für das Mädchen gewesen? Jetzt blieb ihr nur noch Edith. Und ihre Geschwister … Das war weitaus mehr, als Philippe an Vertrauten aufweisen konnte.

Allerdings schien Demy wieder in irgendwelchen Schwierigkeiten zu stecken, sofern er Maria richtig verstanden hatte. Philippe warf der Haushälterin, die noch immer neben der geschlossenen Tür des Rittmeisters ausharrte, einen fragenden Blick zu.

Als könne sie Gedanken lesen, trat die Haushälterin neben ihn. »Demy hat ein großes Herz. Sie würde nicht einmal einen dreibeinigen blinden Hund seinem Schicksal überlassen. Erstaunlich bei ihrer Lebensgeschichte, finde ich. Aber vielleicht waren zumindest ihre Kindheitsjahre glücklich und von Liebe geprägt. Diese Liebe trägt sie durch die schweren Zeiten und macht sie stark, den Widrigkeiten ihres Lebens entgegenzutreten. Und es fällt mir schwer, das zuzugeben, aber anscheinend hilft ihr auch ihr Glaube an einen Gott, der ihr immer beisteht!«

Ohne auf eine Erwiderung zu warten ließ sie ihn stehen und verschwand durch die Verbindungstür im Seitenflügel des Hauses. Ihm blieb nichts anderes übrig, als wieder auf eine geschlossene Tür zu starren. Wollte Maria ihm mit ihren Worten etwas Bestimmtes mitteilen? Ihn womöglich warnen, Demy ja nicht wehzutun? War er der dreibeinige, blinde Hund? Philippe fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar und brummte dabei missgestimmt vor sich hin.

Wenig später verließ der Arzt das Krankenzimmer und erlöste ihn aus seinen grüblerischen Gedanken. Dr. Stilz berichtete ihm von einer Herzschwäche und verordnete dem Rittmeister eine Woche strikte Bettruhe. Nachdem Philippe den Hausarzt hinausbegleitet hatte, kehrte er in das Arbeitszimmer seines Ziehvaters zurück. Er stellte den umgefallenen Stuhl auf, sammelte die verstreuten Unterlagen ein und versuchte, sie wieder den richtigen Hüllen zuzuordnen.

Dabei entdeckte er einen Brief seines Ziehvaters an Anton Fokker. Darin unterbreitete er das Angebot, seine Beziehungen spielen zu lassen, um Anthony bei der Suche nach guten Motoren behilflich zu sein. Das alles natürlich im Rahmen einer entsprechenden geschäftlichen Vereinbarung. Das Schreiben war mehrere Wochen alt. Weshalb hatte der Rittmeister es nie abgeschickt?

Philippe setzte sich, nahm sich weitere Unterlagen und sah sie mit zunehmender Beunruhigung durch. Unvollständige Erinnerungsnotizen, Briefe, die nie zu Ende geschrieben wurden und Nachrichten und Anfragen der Verantwortlichen aus der Fabrik, die offenbar von Meindorff ignoriert worden waren, lagen in einem wilden Durcheinander zwischen Papieren, die Josephs Brauerei betrafen. Vermutlich hatte der alte Meindorff die Geschäftsführung von Josephs Betrieb übernommen, nachdem der abgerückt war.

Das heillose Chaos ließ Philippe nicht nur vermuten, dass es dem Rittmeister schon längere Zeit schlecht ging, sondern auch, dass in den beiden führungslosen Fabriken katastrophale Zustände herrschen könnten.

Aufgeregt klingende Stimmen aus dem Foyer veranlassten ihn irritiert aufzusehen. Demys ärgerlicher Tonfall ließ ihn den Wirrwarr auf dem Schreibtisch verlassen und an die Tür treten.

»Willi und Peter waren gezwungen, über mehrere Wochen auf der Straße zu leben? Bei diesen Temperaturen!«

Philippe sah trotz der Entfernung, dass Demy das blanke Entsetzen ins Gesicht geschrieben stand. Aufgebracht stemmte sie die Hände in die Hüfte und schüttelte den Kopf. »Und Lieselotte hat die ganze Zeit über nichts gemerkt? Obwohl sie wusste, dass ihre Brüder nach dem Tod der Mutter allein auf sich gestellt zurückgeblieben waren, hat sie nicht nach ihnen gesehen, sondern ihre Abende und Nächte bei ihren Frauenrechtlerinnen verbracht? Ich kann das nicht glauben!«

»Willi hat es so erzählt«, bestätigte Maria ruhig. »Und ich sehe keine Veranlassung, dem Burschen nicht zu glauben. Ich stecke die beiden jetzt in die Badewanne. Die strotzen nur so vor Schmutz. Ich will gar nicht wissen, was sie auf der Straße erlebt haben und was ihre jungen Augen und Herzen alles sehen mussten!«

»Lieselotte war mir eine gute Freundin, allerdings verstehe ich sie von Jahr zu Jahr weniger. Heute wird sie etwas zu hören bekommen, wenn sie kommt, um Peter und Willi abzuholen!«

»Ich möchte keine düsteren Szenarien an die Wand malen, Demy, aber nehmen Sie nach allem, was wir jetzt wissen, tatsächlich an, dass sie wiederkommt? Wohin sollte sie mit den Burschen gehen? Sie haben kein Heim mehr. Fräulein Scheffler kann irgendwo unterschlupfen. Aber ihre Brüder – die hat sie hier bei Ihnen untergebracht. Denn so viel weiß ich: Sie mögen Ihre einstige Freundin nicht mehr verstehen, dieses Fräulein Scheffler aber weiß sehr gut, dass Sie die Jungen nicht einfach auf die Straße setzen!«

Demy warf die Arme in einer wilden Bewegung nach oben, wobei sie sich aufgebracht und hilflos zugleich einmal um sich selbst drehte. Dabei schlang sich der bodenlange, blaue Rock um ihre Beine und kam erst allmählich wieder zur Ruhe. »Sie können unmöglich hierbleiben!«, rief sie aus und warf einen Blick zu der Tür, die das Treppenhaus verbarg. »Maria, ich bin in den Augen des Mannes dort oben nicht mehr als ein unnützes Möbelstück, für dessen Entsorgung bisher niemand die Zeit gefunden hat!«

Philippe hob bei diesen Worten und dem Ausbleiben eines Widerspruchs von Maria unwillkürlich die Augenbrauen. Nun erschloss sich ihm auch Marias kleine Ansprache von vorhin, in der sie ihre Verwunderung über Demys großherziges Wesen zum Ausdruck gebracht hatte. Selbstverständlich hatte Philippe längst geahnt, dass Demy und ihre jüngeren Geschwister im Haus Meindorff nicht unbedingt gern gesehene Gäste waren. Die Aussage der Niederländerin offenbarte ihm nun, dass man sie dies auch deutlich spüren lassen hatte.

Während Demy aufgebracht auf und ab ging, sah Maria sie nur an. Offenbar wartete sie auf eine Entscheidung vonseiten der jungen Frau. Auch das versetzte Philippe in Erstaunen. Dass zwischen Demy, Maria und Henny ein ungewöhnlich enges und vom Hausherrn sicher nicht gewolltes Vertrauensverhältnis bestand, hatte er längst durchschaut. Bisher war er allerdings davon ausgegangen, dass Maria die Führungsrolle innehatte. Die soeben beobachtete Szene verdutzte ihn so sehr, dass er auf seinem Beobachtungsposten blieb, anstatt ins Arbeitszimmer zurückzukehren.

»Der Rittmeister wird mir den Kopf abreißen, wenn er davon erfährt, und anschließend dann an einem Herzstillstand sterben«, hörte er Demy in einem Anflug von zynischem Humor sagen.

»Das heißt, die Kinder bleiben im Haus?«

»Zumindest so lange, bis ich eine andere Lösung für sie finde. Möge Gott schenken, dass dies schnell der Fall ist. Der Rittmeister könnte mich des Diebstahls bezichtigen, immerhin werden die Zwillinge mit von ihm bezahlten Lebensmitteln verköstigt.«

»Vermutlich bemerkt er ihre Anwesenheit gar nicht. Er war seit Monaten nicht im Nebentrakt. Wollen Sie die beiden wie früher unterrichten? Henny fragte danach, denn Wilhelmine ist ebenfalls nicht mehr auf der Schule und könnte eine Fortsetzung Ihres Unterrichts gut gebrauchen.«

»Maria, Ihnen gefällt diese Situation doch nicht etwa?!«, rief Demy aus, wobei ihr Schmunzeln offenbarte, dass ihr Humor wieder einmal siegte.

Die Haushälterin wiegte den Kopf, antwortete dann aber so leise, dass Philippe ihre Worte nicht verstand. Allerdings verriet ihm Demys Naserümpfen und das anschließende Lächeln, dass Maria die Frage bejaht hatte.

Er schüttelte den Kopf über die Pläne der beiden, wenngleich er wusste, wie sehr Maria Kinder liebte. Da ihr keine eigenen Kinder vergönnt gewesen waren, hatten ihr früher schon die Meindorff-Söhne sehr am Herzen gelegen. Da diese mittlerweile längst aus dem Haus waren, war es ihr wohl nur recht, dass diese eigenwillige Demy mit ihren konfusen Kontakten und Heimlichkeiten nun wieder Kinder und Leben ins Haus brachte, wenn schon Joseph und Tilla nicht für Nachwuchs sorgten.

»Werden die anderen Angestellten Stillschweigen bewahren?«, fragte Demy.

»So viele sind es ja nicht mehr. Und wer es wagt, auch nur einen schiefen Blick auf die beiden Burschen zu werfen, bekommt es mit mir zu tun!«

»Dann bringen Sie Ihre neuen Schützlinge mal unter!«, lachte Demy. Philippe wich ein paar Schritte nach hinten, bis ihm das Klappen einer Tür verriet, dass die Niederländerin allein im Foyer zurückgeblieben war.

Leise schlich er wieder an seinen Lauschposten und betrachtete die Frau. Inmitten des ehrwürdigen Raumes, umgeben vom angehäuften Prunk des Patriarchen, der vielleicht im Sterben lag, dessen Familie auseinanderfiel und dessen wirtschaftlicher Untergang so gut wie besiegelt schien, wirkte sie seltsam fehl am Platz. Sie strahlte trotz ihrer Sorgen und Probleme, die sie niederzudrücken versuchten, eine ungewöhnliche Stärke und Kampfeswillen aus. Philippe konnte Demys ungebrochene Lebensfreude und ihre selbstlose Nächstenliebe tatsächlich nur auf ihren Glauben zurückführen, den Maria vorhin so zweifelnd angeführt hatte. Ihr Vertrauen auf Gott schien Demy all das zu geben, was die Menschen und das Leben selbst ihr vorenthielten.

Aufrecht, den Kopf erhoben, die Hände in die schmalen Hüften gestemmt stand sie auf dem mehrfarbigen Parkett und blickte in Richtung Treppenhaus. Plötzlich sackten ihre Schultern nach unten. Als sie langsam in die Knie sank, wirkte es auf den heimlichen Beobachter, als habe sich der Boden unter ihr aufgetan. Sie beugte den Oberkörper nach vorn, bis ihre Stirn den Boden berührte, und umklammerte wie schützend ihren Kopf.

Philippe trat einen Schritt nach vorn, zog sich aber unverzüglich wieder zurück. Er empfand es nicht als richtig, sie in diesem Augenblick zu stören, glaubte sie sich doch allein. Zudem schien ihm, dass dieser nahtlose Wechsel von offenkundiger Kraft zu Sensibilität und Zartheit ihr wahres Ich ausmachte. Niemand konnte immer nur stark sein. Philippe wusste aus der bitteren Zeit nach Udakos Tod, dass Gott auch Zeiten der Schwäche zuließ, denn nur aus dieser heraus konnte er einen Menschen wieder aufrichten. Nur so konnte Demy ihr liebevolles Herz behalten. Ansonsten stand zu befürchten, dass dieses eines Tages erkaltete.

Vollkommene Stille herrschte im Haus, fast so, als gäbe es kein Leben in ihm. Aus diesem Grund wagte Philippe nicht, sich zu bewegen. Also sah er sie einfach nur an, wie sie mit dem zwischen ihren Händen hervorquellenden schwarzen Haar in völliger Reglosigkeit auf dem Parkett verharrte. Wie im Sommer, als sie in Paris festgesessen hatte, fühlte er seinen Beschützerinstinkt erwachen.

Ein verhaltenes Geräusch an der Eingangstür ließ Demy den Kopf heben. Auch Philippe runzelte die Stirn. Die Glocke war nicht gezogen worden. Wer verschaffte sich leise Zutritt zum Haus? Hatte Albert die Nachricht von der Verwundung seines älteren Bruders in Groß-Lichterfelde erreicht? Hatte er aufgrund der familiären Tragödie die Erlaubnis erhalten, nach Hause zu gehen?

Noch ehe Philippe seine Überlegungen zu Ende bringen konnte, raffte Demy den Rock, sprang auf die Füße und eilte mit fliegendem Haar zum Durchgang zwischen den Foyers. Zwei kleine Mädchen in einfachen Röcken flogen ihr förmlich entgegen und umarmten sie stürmisch. Ihnen folgte eine Rotkreuzschwester, und Philippe brauchte ein paar Sekunden, ehe er in ihr Hannes’ Ehefrau Edith erkannte.

Die beiden Frauen klammerten sich minutenlang aneinander; ohne Worte vereint in ihrem Schmerz. In dieser Zeit verharrten Hannes’ Töchter neben ihnen und bestaunten mit offenen Mündern und runden Augen das Foyer mit den Kronleuchtern, den gewaltigen Pflanzenkübeln samt Palmen, den Statuen, goldgerahmten Gemälden, bodenlangen Samtvorhängen vor den Fensternischen und den Stuckornamenten an Wand und Decke.

Schließlich bat Demy die drei Ankömmlinge in den selten benutzten Gästeraum, in dem sie Philippe zum ersten Mal begegnet war. Offenbar wollte Demy vermeiden, dass Hannes’ Familie gesehen wurde, und der Raum bot zur Not einen Ausgang in den Garten.

Unbemerkt lehnte Philippe sich an den Türrahmen des Besuchszimmers und beobachtete, wie die Mädchen das ehemalige Zuhause ihres Vaters erforschten. Demy und Edith standen vor der Fensterfront, schauten hinaus auf die trist wirkenden Bäume und unterhielten sich.

»Während meines Schwesternkurses hat sich eine Nachbarin um Luisa und Leni gekümmert. Aber sie ist alt und gebrechlich. Ich kann die Mädchen unmöglich über einen längeren Zeitraum dort unterbringen.«

»Ich könnte in der Zeit, in der du im Lazarett arbeitest, nach Luisa und Leni sehen.«

»Du verstehst mich nicht.« Edith drehte sich zu der jüngeren Frau um und ergriff ihre Hände. »Ich wollte sie zu meinen Eltern nach Magdeburg bringen, weil ich mich in das Lazarett habe versetzen lassen, in dem Hannes jetzt liegt.«

»Du willst nach Frankreich? In ein Frontlazarett?« Demy klang zutiefst erschrocken.

»Begreifst du denn nicht? Ich will zu Hannes! Ich muss einfach zu ihm! Vergangene Woche bat man mich, dass ich in ein Lazarett in Belgien oder Frankreich wechseln möge. Das lehnte ich ab, da ich die Kinder nicht alleinlassen wollte.« Edith liefen unaufhörlich die Tränen über die Wangen und tropften auf ihre Uniform. »Heute erreichte mich dann die Nachricht von Hannes’ Verletzung. Ich erkundigte mich, ob das Angebot noch galt, und das Rote Kreuz gewährte mir die Versetzung. Aber vorhin, wir waren gerade dabei, zum Bahnhof aufzubrechen, bekam ich ein Telegramm. Meine Mutter leidet seit Wochen an einem kräftezehrenden Husten und meine Eltern schrieben, sie könnten die Kinder nicht aufnehmen, so gern sie das täten.« Ediths Stimme wurde immer verzagter, worauf Demy sie in die Arme nahm und mitfühlend über ihren Rücken streichelte.

Philippes schlechtes Gewissen darüber, schon wieder ein Gespräch von Demy zu belauschen, veranlasste ihn, sich rückwärts zu entfernen. Dabei hörte er die junge Frau noch energisch sagen: »Die Mädchen bleiben hier. Das ist das Haus der Meindorffs und sie sind Meindorffs.«

Eine Grimasse schneidend unterbrach Philippe seinen Rückzug. Demy steuerte zielsicher auf eine Katastrophe zu. Zuerst gewährte sie den Brüdern ihrer Freundin Unterschlupf und jetzt wollte sie auch noch die verbannten Kinder von Hannes aufnehmen?

Offenbar hatte Edith dem Vorschlag widersprochen, denn er hörte, wie Demy aufgebracht rief: »Meinst du, das weiß ich nicht? Der Rittmeister bringt sich mit seinem Starrsinn um das Beste, was einem Mann seines Alters passieren kann: die Nähe und die Zuneigung seiner Enkelkinder! Aber ich kann genauso starrsinnig sein, glaub mir, Edith! Du fährst zu Hannes und kümmerst dich um ihn. Und in der Zwischenzeit leben eure Kinder in dem Zuhause, das ihnen ohnehin zusteht!«

Philippe trat nun endgültig den Rückzug an und gelangte unbemerkt in das Arbeitszimmer. Ob er eingreifen sollte? Aber was konnte er schon ausrichten? Ganz sicher taugte er nicht als Aufpasser für zwei kleine Kinder! Er würde sich der wichtigsten geschäftlichen Fragen annehmen, soweit dies in seiner Macht stand, und dann nach Schwerin zurückkehren.

Dieses eigensinnige Geschöpf besaß ja sein mit einem Handschlag besiegeltes Angebot, jederzeit seine Unterstützung einfordern zu können. Aber womöglich gelang es Demy sogar, eine Annäherung zwischen Hannes’ Töchtern und ihrem Großvater zu arrangieren. Philippe schüttelte über sich selbst den Kopf. Mittlerweile traute er Demy ja schon scheinbar Unmögliches zu.

Beladen mit einem Armvoll Aktenordner verließ er unbemerkt das Haus, zögerte aber unter den Bäumen und drehte sich noch mal um. Graue Wolkengebilde zogen über das schmucke Gebäude, das noch immer den Eindruck erweckte, das Zuhause einer in Liebe verbundenen Familie zu sein. Vielleicht gelang es Demy, wieder ein wirkliches Heim daraus zu machen! Aber das war nicht seine Angelegenheit. Er konnte nur versuchen, den finanziellen Ruin der Meindorffs hinauszuzögern.