Kapitel 3

Paris, Frankreich,
August 1914

Philippe zog sich in den Schatten eines Gebäudes zurück und ließ den Trupp französischer Soldaten passieren. Akkurat gekleidet und in voller Bewaffnung marschierten sie die Rue d’Arcole hinab in Richtung Seine-Brücke. Mit grimmigem Gesicht sah er den Männern nach, wohl wissend, dass sie sich den Deutschen bei ihrem Marsch gen Paris in den Weg stellen würden und allesamt einem grauenhaften Moloch in die Arme liefen.

Nachdem die Division an ihm vorbeiexerziert war, entspannte er sich wieder, trat auf die Straße zurück und blickte über die Pont d’Arcole zum gegenüberliegenden Ufer.

An das Brückengeländer gelehnt wartete eine groß gewachsene, schlanke Frau, bis die Soldaten an ihr vorüber waren, und hastete dann in seine Richtung. Unwillig kniff er die Augen zusammen, doch es bestand kein Zweifel: Es handelte sich um Demy van Campen.

Philippe stieß einige halblaute Unfreundlichkeiten aus und zog sich erneut in den Schatten der Gebäude zurück. Hatte er Demy nicht vor ein paar Tagen nahegelegt, Frankreich zu verlassen? Inzwischen waren deutsche Heeresteile ohne diplomatische Vorbereitung in Luxemburg einmarschiert, da sie die dortigen Eisenbahnlinien sichern wollten, und hatten von Belgien das Durchmarschrecht verlangt. Die Kriegserklärung an Frankreich war am Vortag übermittelt worden und damit verbunden ein Einmarsch der deutschen Truppen ins neutrale Belgien, was zum Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen Belgien und Deutschland und zu einer Kriegserklärung Großbritanniens an Deutschland geführt hatte. Daraufhin hatte auch Deutschland Belgien den Krieg erklärt. Das Geschehen glich einer Kettenreaktion, die niemand mehr zu durchbrechen imstande war. Jegliche Vernunft schien der Welt in diesen Tagen verloren gegangen zu sein. Einzig Italien, das sich weigerte, Deutschland und Österreich beizustehen, da es diese für die Aggressoren hielt und sich deshalb nicht zur Einhaltung seines Bündnisses verpflichtet sah, offenbarte noch einen Funken von Verstand.

Was würde in den nächsten Stunden und Tagen folgen? Kriegserklärungen einiger baltischer Staaten gegen Österreich-Ungarn und die Österreich-Ungarns an Russland? Damit würde der Grundstein für neue Krisenherde gelegt sein und einem Desaster im jungen Jahrhundert alle Wege geebnet.

Philippes Problem war momentan jedoch diese eigensinnige Deutsch-Niederländerin, die nicht nur meinte, trotz der brisanten politischen Lage fröhlich durch die Straßen von Paris flanieren zu müssen, sondern auch noch ausgerechnet vor dem Haus anhielt, das unter seiner Beobachtung stand. Soeben zog sie ein weißes Kuvert aus der Tasche ihres dunkelblauen figurbetonten Kostüms und überprüfte die Adresse darauf.

Philippe lehnte sich an die kühle Steinmauer und verschränkte die Hände hinter seinem Kopf. Zumindest tat sich jetzt endlich etwas, und er konnte möglicherweise einen Blick auf den Bewohner des Hauses erhaschen. Um Demy zur Rechenschaft zu ziehen blieb später noch Zeit. Sie trat zur Haustür und klopfte kräftig an das dunkle Holz. Sekunden verstrichen. Von links näherte sich ein schwarzes Automobil, das in einiger Entfernung am Straßenrand anhielt. Niemand stieg aus. Fast gleichzeitig fuhr auch von rechts ein Wagen in die Rue d’Arcole. Dieses Fahrzeug stoppte gut hundert Meter entfernt, ohne dass der Fahrer oder ein Insasse ausstieg.

Im gegenüberliegenden Gebäude öffnete jemand ein Fenster, dabei traf die Sonne für einen Moment auf die Scheibe und blendete Philippe. Ein ihm unbekannter jüngerer Mann mit struppigem Vollbart lehnte sich hinaus und sah sich prüfend um. Das Zuschlagen einer Autotür ließ Philippe endlich reagieren, wenn auch unwillig. Es war an der Zeit, Demy aus einer Gefahr zu retten, von der sie, so vermutete Philippe, nicht einmal etwas ahnte.

Kraftvoll stieß er sich von der Hauswand ab, überquerte betont lässig die Straße und ergriff Demy von hinten an den Schultern. Die junge Frau zuckte erschrocken zusammen.

»Versuchen Sie den Umschlag unauffällig verschwinden zu lassen und kommen Sie mit mir. Vermeiden Sie jede hektische Bewegung, es sei denn, Sie haben Lust, als Spionin verhaftet zu werden und unangenehmen Befragungen und Gefängnisaufenthalten ausgesetzt zu sein.«

»Was soll das?«, rief Demy ungehalten und wehrte sich gegen seinen festen Griff.

»Wir gehen nach links, in Richtung Notre Dame. Ich lege jetzt meinen Arm um Sie. Streiten können Sie später mit mir, sobald wir in Sicherheit sind.«

Philippe zog Demy das Kuvert aus der Hand, steckte es blitzschnell zwischen Türrahmen und Tür durch einen Schlitz und legte dann seinen Arm um ihre schlanke Taille. Mittlerweile näherten sich ihnen feste Männerschritte. Kleine Schweißperlen traten Philippe auf die Stirn. Um sich fürchtete er nicht. Er besaß einen französischen Pass, in dem Paris als sein Geburtsort eingetragen war, zudem sprach er fließend Französisch. Demy hingegen ging nur so lange als Niederländerin durch, bis die Behörden ihren Wohnsitz überprüften. Und das würden sie tun, wenn sie die Frau vor dem Haus eines wegen Spionage verdächtigten Deutsch-Franzosen aufgriffen.

Erfreulicherweise folgte Demy seinem Befehl, wenngleich sie für etwas mehr Abstand zwischen sich und ihm sorgte. Als sie an dem zweiten geparkten Automobil vorbeikamen, öffneten sich auch dort die Türen.

»Weitergehen, Demy. Legen Sie Ihren Kopf an meine Schulter. Es wäre angebracht, etwas mehr Vertrautheit auszustrahlen.«

Demy gehorchte seiner geflüsterten Anweisung und er zog sie näher an sich. Ihre schwarzen Locken kitzelten ihn am Hals. Er spürte ihr Zittern, konnte jedoch nicht einschätzen, ob es von Furcht oder Wut herrührte. Gespielt einträchtig schritten sie die Straße entlang und bogen schließlich in die Rue du Cloitre Notre Dame ein. Rechts von ihnen ragten die beiden quadratischen Türme des gotischen Kirchengebäudes in den beinahe wolkenlosen frühabendlichen Himmel. Während sie an Notre Dame vorbeischlenderten, fand Demy ihre Sprache wieder.

»Was soll das alles bedeuten? Wer sind die Männer, die uns verfolgen?«

Philippe blieb stehen, drehte sich zu ihr und zog sie in seine Arme. Für einen Moment überkam ihn ein flaues Gefühl. Seit Udakos Tod damals in der afrikanischen Kolonie hatte er keine Frau mehr in den Armen gehalten. Doch ihre Situation war nicht dazu angetan, sich Gedanken darüber zu machen, wann er sein Herz wieder für eine andere Frau öffnen konnte.

Demy hielt still, was für Philippe ein deutliches Zeichen dafür war, dass sie die Gefahr erfasste, in der sie steckten. Ob seine warnenden Worte ausreichend gewesen waren oder ob sie wusste, wer in dem Haus wohnte, blieb momentan ungeklärt.

Philippe legte seine Wange auf ihr Haar und konnte somit unauffällig zurückschauen. Nur ein paar Schritte hinter ihnen stand ein Mann in Zivil, der intensiv die Türme von Notre Dame begutachtete, sich aber zum Gehen wandte, als Philippe Demy aus seinen Armen entließ und sie sich in Richtung Ile Saint-Louis bewegten.

Demy ergriff Philippes Rechte, was ihn zu einem grimmigen Grinsen verleitete. Dieses Mädchen war beeindruckend! Durch ihre Geste spielte sie ihrem Verfolger noch immer die verliebte Frau vor, hielt ihn aber auf gebührendem Abstand.

»Was hat das alles zu bedeuten?«, zischte Demy und warf ihm einen unfreundlichen Seitenblick zu.

»Das müsste ich wohl besser Sie fragen. Was für eine Nachricht geben Sie bei einem Mann ab, der unter dem Verdacht steht, in Deutschland für die Franzosen zu spionieren?«

»Oh«, entfuhr es Demy.

Philippe kniff die Augen zusammen, während sie an der Grünanlage vorbei und auf die Pont Saint-Louis zugingen. War Demy so unschuldig, wie sie tat, oder wusste sie sehr genau, wem sie eine Nachricht hatte überbringen müssen? Dem Wildfang war das durchaus zuzutrauen, selbst wenn sie inzwischen erwachsen geworden war und sich stilvoll zu kleiden und angemessen zu benehmen wusste.

»Ein Mann bat mich, seiner Verlobten eine Mitteilung zu überbringen. Er hat sich freiwillig zur Armee gemeldet und ihm blieb nicht mehr genügend Zeit, sich von ihr zu verabschieden.«

Auf diese Erklärung hin lachte Philippe trocken auf, was sie mit einem wütenden Seitenblick quittierte. »Auf eine so sentimentale Geschichte kann nur eine Frau hereinfallen.«

»Hereinfallen? Was denken Sie, wie oft sich Geschehnisse wie diese momentan in Europa abspielen?«

»Das anzunehmen sind Sie bereit, nicht aber meine Warnung vor den drohenden kriegerischen Auseinandersetzungen vor ein paar Tagen?«

Demy schwieg und er drückte sie kurzerhand gegen die Brüstungsmauer. Unter ihnen floss die Seine gurgelnd dahin und verlor sich in vielen Schleifen und Windungen inmitten des Häusermeers. Während er die junge Frau, die sich unter seiner Berührung spürbar versteifte, nochmals in seine Arme schloss, wagte er erneut einen Blick zurück. Erfreulicherweise hielt ihr Verfolger nun deutlich mehr Abstand ein. Er hatte noch nicht einmal die Brücke erreicht.

»Gehen wir jetzt endlich weiter?«, fauchte Demy ihn an.

»Sie wissen doch, wie gern ich eine hübsche Dame im Arm halte.«

»Ich weiß nichts, was Sie betrifft. Immerhin haben Sie Ihrer Pflegefamilie sträflich den Rücken zugekehrt.«

»Sie haben mich doch nicht etwa vermisst?«

Ihr Knuff in seine Seite fiel harmlos aus, vermutlich, weil sie sich viel zu sehr vor ihrem Beobachter fürchtete.

»Wir überqueren die Brücke und wenden uns dann nach links zu den Stufen, die von dort ans Wasser führen. Unterhalb der Brücke sehe ich zwei Ruderboote liegen.«

Durch ein Kopfnicken an seiner Schulter gab Demy ihm zu verstehen, dass sie ihn verstanden hatte. Er trat zurück, ergriff erneut ihre Hand und gemeinsam schlenderten sie weiter, als täten sie das seit Jahren.

Kaum auf den Stufen am Brückenende angelangt und somit aus dem Blickfeld ihres Verfolgers verschwunden ließ Philippe Demy los und sprang, mehrere Stufen auf einmal nehmend, hinunter an das Ufer. Mit hastigen Bewegungen knotete er das kleinere Ruderboot los, befestigte es an dem größeren und bestieg dieses.

Demy folgte ihm, ohne dass er ihr seine Hilfe anbieten musste. Sie stieß mit dem Fuß das Holzboot vom Ufer ab, sodass die Strömung es sofort erfasste.

Während Philippe sich kräftig in die Riemen legte, nahm Demy rasch auf der hölzernen Sitzbank im Heck Platz. Dabei streckte sie ihre Beine weit von sich, stützte die Arme auf die Dollwand und lehnte den Oberkörper wie eine Sonnenanbeterin zurück. So beobachtete sie, wie ihr Verfolger an die Brückenbrüstung sprang und fluchend mit der Faust auf den Stein schlug.

»Ich bin am Meer aufgewachsen und liebe jede Art von Wasser«, lachte sie übermütig auf, ehe sie sich aufrecht hinsetzte.

Philippe ließ seinen weiblichen Passagier nicht aus den Augen. Demy betrachtete die von der Abendsonne umschmeichelten Prachtbauten entlang der Seine, bewunderte die mit Efeu umrankten Hausfassaden und Tordurchlässe und die im sanften Gold erstrahlenden Schmuckfenster. Schließlich rutschte sie zur Backbordseite und tauchte ihre linke Hand in die kühlen Fluten.

»Demy, welcher Name stand auf dem Kuvert?«, erkundigte Philippe sich endlich. Sie ließ ihre Finger weiterhin durchs Wasser gleiten und strich sich mit der anderen Hand eine widerspenstige schwarze Locke aus dem Gesicht.

»Keiner. Es war nur der Straßenname, die Nummer und die Wohngegend vermerkt. Aber was haben Sie mit der Angelegenheit zu schaffen? Woher wissen Sie, dass dort ein Spion wohnen soll, und was taten Sie vor seinem Haus? Spionieren Sie ebenfalls? Für die Deutschen oder für die Franzosen?«

»Die Fragen gebe ich sofort an Sie zurück. So professionell, wie Sie auf mein Erscheinen reagiert haben, müssen Sie über gewisse Erfahrungen verfügen, was Heimlichkeiten anbelangt.«

»Das ist doch Blödsinn!«, erwiderte sie, schüttelte die nasse Hand aus und setzte sich aufrecht hin.

»Ich soll Ihnen also die tragische Geschichte mit dem Soldaten und seiner Verlobten abkaufen?«

»Ich kann Sie nicht zwingen, mir zu glauben.«

»Wer war dieser Soldat, der Ihnen die Nachricht anvertraute? Kennen Sie seinen Namen?«

»Ich sage Ihnen nichts, bevor Sie mir nicht verraten haben, für wen Sie spionieren!«

Philippe lächelte amüsiert über ihren Kampfeswillen und versuchte abzuschätzen, wie weit sie die Seine inzwischen hinabgefahren waren. »Mir geht es ähnlich wie Ihnen, Demy. Ich habe keine deutschen Wurzeln, lebe aber seit vielen Jahren in Deutschland. Für welches Land also schlägt unser beider Herz?«

»Mir geht es kein bisschen wie Ihnen!«, entrüstete sie sich. »Zufällig befinden sich das Deutsche Reich und Frankreich im Krieg. Die Niederlande hingegen sind neutral. Und da ich einen Großteil meines Lebens in den Niederlanden verbracht habe, sehe ich dieses Land als mein Heimatland an.«

»Wer war dieser Mann, der Sie beauftragt hat?«, drängte Philippe auf eine Antwort auf seine vorrangigste Frage.

»Er hat mich gebeten, nicht beauftragt. Sein Name ist Clément Rouge, aber ich glaube nicht, dass Ihnen der von Nutzen ist.«

Philippe wandte den Blick von ihr weg auf auf das blaugraue Wasser, das an den Rumpf des Holzbootes schwappte. Clément Rouge, das klang nach Karl Roth. Hatte sich der Mann, den er – gemeinsam mit Eric van Campen, Demys Vater – für den Mörder seiner Verlobten hielt, also doch nach Frankreich abgesetzt und arbeitete jetzt als Informant für den französischen Geheimdienst? Philippe biss die Zähne zusammen. War es also kein Zufall, dass er vor einer Woche hier in Paris auf Karl Roth, seinen ehemaligen Unteroffizier im Dienste der kaiserlichen Schutztruppe Deutsch-Südwestafrikas gestoßen war? Roth hatte sich niemals gänzlich dem Vorwurf entziehen können, an dem Überfall auf die Missionsstation in Windhuk beteiligt gewesen zu sein. Nach diesem Vorfall, bei dem ein kleiner Junge und Philippes Verlobte Udako zu Tode gekommen und Philippe schwer verletzt worden war, war Roth ins Deutsche Reich zurückversetzt und dort unehrenhaft entlassen worden.

Nicht zum ersten Mal fragte sich Philippe, ob Roth etwas mit dem überraschenden Tod van Campens zu tun hatte. Vielleicht hatten die beiden noch eine offene Rechnung aus ihrem Diamantengeschäft zu begleichen gehabt?

Philippe warf einen flüchtigen Blick auf Demy, die versonnen die Spiegelungen der Sonne im Flusswasser beobachtete. Wusste Clément Rouge, wie Roth sich nun nannte, wer die Frau war, die er gebeten hatte, eine vermutlich hochbrisante Nachricht an seinen Spitzelkollegen zu überbringen? Hatte er geplant, eine van Campen-Tochter gezielt in Schwierigkeiten zu manövrieren, oder war ihr Zusammentreffen rein zufälliger Natur gewesen? Womöglich hatte Rouge bemerkt, dass er vom französischen Geheimdienst verfolgt wurde, und war auf diese Weise elegant seine Nachricht losgeworden, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen …

»Kennen Sie diesen Rouge schon länger?«, bohrte Philippe nach und beobachtete, wie das Mädchen aufschrak.

»Ich? Nein. Als ich das Stadthaus der Ledouxs verließ, kam er die Straße entlang geeilt und hielt mich mit der Bitte auf, einen Brief an seine Verlobte abzugeben.«

Philippe, der seinen Verdacht bestätigt sah, dass Roth der van Campen-Tochter bewusst aufgelauert hatte, verkniff sich die Frage, wohin ihr Weg sie ursprünglich hatte führen sollen. Er sah sie so lange nachdenklich an, bis sie den Kopf wegdrehte und wieder aufs Wasser blickte. »Ich werde Sie unverzüglich aus Paris hinaus und über die Grenze schaffen.«

»Unverzüglich? Wie stellen Sie sich das vor?«

»So, wie ich es sagte: sofort.«

Demy atmete laut aus und blitzte ihn herausfordernd an. »Der Grenzübertritt ist morgen bestimmt nicht wesentlich schwieriger als heute.«

»Demy, Sie sind in Gefahr!«, knurrte Philippe, aufgebracht über ihr zu ständigem Widersprechen aufgelegtes Wesen. Vielleicht sollte er sie einfach ihrem Schicksal überlassen! »Und das nicht nur, weil Sie als Deutsche fröhlich durch Paris spazieren und dabei das Augenmerk des Geheimdienstes auf sich ziehen, sondern auch, weil dieser Clément Rouge Sie gefunden hat.«

»Gefunden?«

Jetzt hatte er ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Mit ihren blauen Augen sah sie ihn verwirrt an und wirkte dabei erstaunlich verletzlich. Er holte die Paddel ein und legte die tropfenden Ruderblätter vorsichtig links und rechts von ihr auf dem Dollbord ab.

»Clément Rouge hieß vor sechs Jahren, als er in Afrika seine Pflichtdienstjahre ableistete, Karl Roth. Er steht im Verdacht, für einen erfolglosen Diamantschürfer in der Namib-Wüste Überfälle auf andere Minen und Diamanttransporte unternommen zu haben, bei denen es auch Tote gab.«

Die Querfalten, die auf Demys schmaler Nase entstanden, zeigten ihm deutlicher noch als ihre zusammengezogenen Augenbrauen, wie weit ihre Überlegungen vorausjagten und wie ungern sie ihm Glauben schenken wollte.

»Sein Auftraggeber van Campen verließ Afrika fluchtartig; Roth, dem nichts bewiesen werden konnte, wurde ins Deutsche Reich zurückgeschickt und verschwand dann. Kurze Zeit darauf zog man den Leichnam Ihres Vaters aus dem Kanal. Vermutlich schuldete Ihr Vater dem Kerl eine Menge Geld.«

Erneut presste er die Zähne fest zusammen. Er spielte mit dem Gedanken, einer Tochter van Campens ins Gesicht zu sagen, dass ihr Vater für den Tod seiner Verlobten verantwortlich war, doch er konnte es nicht. Die Erinnerungen nagten noch immer zu schmerzlich an ihm.

»Es kann kein Zufall sein, dass Roth mit der Bitte, seine geheime Botschaft weiterzureichen, ausgerechnet an Sie herantrat. Vielleicht besaß er sogar die Dreistigkeit, gleichzeitig den französischen Geheimdienst in die Rue d’Arcole zu schicken?«

Demy starrte ihn mit halb geöffnetem Mund fassungslos an. Schließlich schüttelte sie so entschieden den Kopf, dass ihre Locken wild um ihre Schultern tanzten. Täuschte er sich, oder schimmerten Tränen in ihren Augen? »So eine abstruse Geschichte kann sich nur jemand ausdenken, der selbst eine Menge Dreck am Stecken hat«, sagte sie ungehalten und erhob sich.

Philippe griff reaktionsschnell nach den Riemen. »Setzen Sie sich wieder hin, oder wollen Sie an Land schwimmen?«, fuhr er sie an.

»Sie rudern mich jetzt sofort an die nächste Anlegestelle und lassen mich aussteigen. Ich finde den Weg zum Haus der Familie Ledoux allein.«

»Sie dürfen nicht länger in Paris bleiben! Der Krieg, Roth und der französische Geheimdienst könnten Ihnen das Leben unerträglich machen.«

»Vielmehr sind es Ihre Hirngespinste, die …«

»Hinsetzen!«, kommandierte Philippe energisch. Seine geschulte Offiziersstimme ließ sogar Demy gehorchen, allerdings schwieg sie nun beharrlich und mit trotzig vor dem Oberkörper verschränkten Armen. Er ließ sie gewähren, war er doch froh darüber, in Ruhe seinen Überlegungen nachhängen zu können. Das, was dabei herauskam, würde dem streitbaren Mädchen helfen – aber sicher nicht gefallen!

***

Nachdem Philippe und Demy durch einige der Schleifen gerudert waren, die die Seine durch Paris zog, verließen sie in Issy-les-Moulineaux das Boot und stiegen in ein rotes Taxi. Der Renault ratterte über das Kopfsteinpflaster, während Demy sich darum bemühte, so weit wie möglich von ihrem Begleiter wegzurücken, was dieser lediglich mit einem Lächeln quittierte.

Im Augenblick quälte sie die Frage, ob es richtig war, Philippe zu vertrauen. Aber seine Worte hatten ihr Angst gemacht, was sie natürlich niemals zuzugeben bereit war. Hatte der verzweifelt wirkende Clément Rouge sie wirklich getäuscht? Waren Rouge und ihr Vater in Deutsch-Südwest tatsächlich Partner gewesen? Gehörte er einem Spionagenetzwerk an und hatte geplant, sie absichtlich in die Sache hineinzuziehen, um sich für seine verlorenen Investitionen im Diamantgeschäft ihres Vaters zu rächen?

Demy betrachtete ihre im Schoß gefalteten Hände. All diese Vermutungen und Verdächtigungen entstammten sicher irgendwelchen Hirngespinsten, entstanden im Fieberwahn, der den schwer verletzten Philippe damals in der Wildnis Afrikas befallen hatte. Was sie jedoch nicht abstreiten konnte, war die Tatsache, dass ihr Vater bei seinem Tode noch immer kein Geld besessen hatte. Das Haus war mit Hypotheken belastet gewesen und nirgends fand sich auch nur die Spur von einem Diamanten oder einem Gewinn aus den Verkäufen der Edelsteine. Ob nicht doch ein Fünkchen Wahrheit in Philippes Worten steckte?

Philippes Vermutung, ihr Vater sei ermordet worden, brachte sie mehr zum Nachdenken als die Tatsache, dass sie Frankreich nicht mehr rechtzeitig vor einer Eskalation zwischen den Ländern verlassen hatte. Aber auch das hätte sie Philippe niemals eingestanden. Schließlich hatte er sie ausdrücklich gewarnt und auf eine sofortige Abreise gedrängt. Diesen Triumph gönnte sie ihm nicht.

Mittlerweile hatten sie die Stadt hinter sich gelassen. Zwischen den mit üppig grünem Laub bedeckten Chausseebäumen muteten die von Philippe aufgezählten Bedrohungen bei Weitem nicht mehr so gefährlich an wie zuvor.

Der Landstrich, durch den das klappernde, dröhnende Taxi fuhr, wirkte beschaulich. Auf einem Feldweg wartete ein Erntewagen mit einem kräftigen Zugpferd davor, Krähen überflogen kreischend die Felder, die Wiesenblumen blühten in einer bunten Farbenpracht und die vereinzelt zwischen den Wäldern und Wiesen gelegenen Bauernhäuser fügten sich harmonisch in die bezaubernde Landschaft ein.

Der hübschen Umgebung zum Trotz hielten düstere Überlegungen Demys Gedanken gefangen. Von ihrer älteren Schwester Tilla hatte sie kurz nach dem Tod ihres Vaters erfahren, dass dieser in Deutsch-Südwestafrika nach Diamanten gesucht hatte. Diese Möglichkeit hatte sich dem Niederländer durch Tillas Hochzeit mit dem angesehenen deutschen Geschäftsmann Meindorff erschlossen. Aber dass ihr Vater räuberische Überfälle auf andere Minenbesitzer begangen haben sollte … diese Beschuldigung konnte sie nicht hinnehmen.

»Ich glaube Ihnen übrigens kein Wort von dem, was Sie über meinen Vater sagten.«

Philippe nickte, als verstehe er ihre Weigerung, seinen Worten Glauben zu schenken. Das ärgerte sie ebenso wie die Tatsache, dass Philippe ihr nicht erklären wollte, weshalb er in Spionagetätigkeiten zwischen dem Deutschen Reich und Frankreich eingeweiht war. Ob sie sich nicht zügig von ihm trennen sollte? Womöglich war er selbst als Spion tätig und sie schwebte in seiner Anwesenheit in größerer Gefahr, als wenn sie am nächsten Tag allein die deutsche Grenze zu überqueren versuchte! Immerhin musste es ja noch mehr ausländische Staatsbürger in Frankreich geben, die dieser Tage in ihre Heimat zurückkehren wollten. Da gab es sicherlich Mittel und Wege …

Ärgerlich trat Demy mit dem Fuß gegen den Beifahrersitz des Taxis. Wie hatte sie sich nur in diese unmögliche Situation manövrieren können?

Das Leben im Berliner Stadthaus der Meindorffs war selbst nach all den Jahren, die sie bereits dort verbracht hatte, noch immer nicht einfacher für Demy geworden. Das galt auch für ihre beiden jüngeren Geschwister Feddo und Rika, die nach dem Tod ihres Vaters ebenfalls bei der angeheirateten Familie ihrer Halbschwester Unterschlupf gefunden hatten. Dementsprechend hatte Demy ihren Aufenthalt in Paris in vollen Zügen genossen – bis Philippe ihr ein zweites Mal über den Weg gelaufen war. Hatte sie die Augen vor der politischen Entwicklung verschlossen, weil sie die unbeschwerte Zeit in Frankreich so lange wie möglich auskosten wollte?

Die Strahlen der tief stehenden Augustsonne fielen durch die Automobilscheibe und beschienen ihr Gesicht, sodass sie genießerisch die Lider senkte.

»Das macht mir Sorgen«, hörte sie Philippe halblaut sagen. Schnell schlug sie die Augen auf und wandte sich ihrem Begleiter zu. Der schaute allerdings stur geradeaus, als habe er nicht mit ihr gesprochen.

»Wie bitte?«

»Wir sind spät dran, das könnte problematisch werden.«

»Problematisch für was?«

»Für Ihre Heimreise.«

»Züge fahren auch nachts.«

»Ja, sicher«, lautete Philippes Antwort, die eine Spur von Heiterkeit enthielt.

Demy entschied für sich, dass sie diesen Mann nicht verstehen musste. Er würde ihr helfen, aus Frankreich hinauszukommen, und sich dann vermutlich wieder nach Stuttgart, womöglich auch nach Afrika oder sonst wohin verziehen. Ihr war das nur recht.

Zu ihrem Erstaunen schlug der Chauffeur den Weg in Richtung des Anwesens der Duponts ein, wo sie Philippe vor ein paar Tagen getroffen hatte. Aufgebracht warf sie sich an das unbequeme Polster zurück. Obwohl ihr Helfer ihr untersagt hatte, zu Yvette in das Pariser Stadthaus zurückzukehren, um ihre Garderobe zu holen, gestattete er sich diesen Luxus. Und dabei waren ihre Ensembles und Accessoires sicher weitaus umfangreicher und kostspieliger als die seinen.

Demy schüttelte über sich selbst den Kopf. Seit wann machte sie sich Gedanken um ihre Garderobe? Doch nur, weil sie wütend auf diesen unsympathischen Kerl war, der sich nun leider auch noch als ihr Retter aufspielte!

Das Taxi hielt auf dem gepflegten Vorplatz des weiß getünchten Schlosses und sie stieg aus, noch ehe der Fahrer oder ihr Begleiter ihr die Tür öffnen konnte.

Philippe bezahlte den Mann und eilte dann die ausladende Eingangstreppe hinauf. Ohne anzuklopfen betrat er das prachtvolle Gebäude mit seinen vier schlanken Ecktürmen. Sein Benehmen ließ Demy vermuten, dass Philippe sich hier heimisch fühlte.

Hilflos sah sie zu, wie der Renault wendete, zurück auf die Chaussee fuhr und sie allein auf dem verwaisten Vorplatz zurückließ. Ob sie Philippe ins Haus folgen sollte? Demy entschied sich gegen diese Möglichkeit. Stattdessen schlenderte sie über den mit Kies bestreuten Platz und setzte sich auf eine niedrige bemooste Mauer, die einen akkurat angelegten Nutzgarten einrahmte. Die Sonne wärmte sie angenehm. Über ihr rauschten die Pappeln und Linden im sanften Abendwind und der herbe Duft feuchter Erde hüllte sie ein.

Ein paar Minuten später verließen Philippe und Claude das Chateau. Der Franzose trat zu ihr, begrüßte sie galant und bat sie, ihm zu folgen. Gemeinsam eilten sie hinter Philippe über eine frisch gemähte Grasfläche auf ein neu aussehendes Holzgebäude zu. Dort angekommen machten die beiden Männer sich an einem Tor gewaltigen Ausmaßes zu schaffen, und dieses gab nach dem Öffnen den Blick auf ein Flugzeug frei.

Abrupt blieb Demy stehen. »Was …«, entfuhr es ihr.

Claude drehte sich zu ihr um, grinste und kam zu ihr zurück. »Keine Angst, Mademoiselle van Campen. Philippe ist der beste Pilot, den ich kenne.«

»Und wie viele kennen Sie?« Demys Frage klang schnippischer als gewollt.

Claude schien der verbale Ausrutscher nicht zu stören. »Viele, Mademoiselle. Ich gehöre zu einer der militärischen Fliegereinheiten Frankreichs.«

Seine lässige Antwort veranlasste Demy, ihm einen vorwurfsvollen Blick zuzuwerfen. Allerdings half ihr das wenig dabei, das flaue Gefühl in ihrem Magen zu vertreiben, das sie beim Anblick des zerbrechlich aussehenden Fluggerätes überfallen hatte.

Claude quittierte ihren Blick mit einem freundlichen Lächeln und bat sie mit einer einladenden Handbewegung näher zu treten. Mechanisch tat Demy ihm den Gefallen und sah zu, wie die beiden Männer das Gebilde aus dem Holzschuppen zogen. Prüfend betastete sie den in ihre Richtung ragenden Flügel und erahnte unter stabilem, mit Lack fixiertem Leinwandstoff lediglich ein paar dünne Holzverstrebungen. Widerwillig und zugleich interessiert ging sie um das Flugzeug herum, ehe sie sich zu Philippe gesellte, der sich an einem kompliziert aussehenden Motor zu schaffen machte.

»Sie gehen aber nicht ernsthaft davon aus, dass ich mich in dieses wenig vertrauenerweckende Gestell aus Stahlrohr, Holz und Stoff setze?«

»Sie dürfen sich stattdessen gern während der Dauer des Krieges bei den Duponts verstecken.«

Demys Blick glitt über das ansehnliche Herrenhaus und die angrenzenden Wiesen, Weiden, Felder und Waldstreifen. Ein paar rassige Pferde grasten auf einer Koppel und die tief stehende Sommersonne tauchte die Landschaft in einen goldenen Farbzauber. Die Versuchung, die kriegerische Auseinandersetzung hier in Frankreich auszusitzen, war groß. Keine Meindorffs mehr, die ihr ständig Vorschriften machten, mit wem sie befreundet sein durfte, wohin sie gehen sollte und wie sie sich zu benehmen hatte. Kein Rittmeister, der sie mit zusammengezogenen Augenbrauen missbilligend musterte, als sei sie ein unliebsames Insekt, das unerlaubt in sein Haus eingedrungen war. Keine eintönige Langeweile, die sie nur durchbrechen konnte, indem sie sich heimlich aus dem Haus schlich.

Ein Räuspern riss sie aus ihren Gedanken. Philippe betrachtete sie mit gerunzelter Stirn. »Ist Ihr Leben bei den Meindorffs so unerträglich, dass mein nicht ernst gemeinter Vorschlag eine Überlegung wert ist?«

Hilflos sah Demy zu ihm auf. Er hatte recht. Andererseits würde sie ihre beiden jüngeren Geschwister niemals im Stich lassen. Ein Blick auf das Fluggerät machte ihr die Entscheidung aber nicht leichter.

Philippe drückte ihr überraschend sanft den Oberarm, ehe er sich abwandte und im Schuppen verschwand. Dafür trat Claude an seine Stelle. Er reichte ihr eine aus braunem weichem Leder hergestellte Kopfbedeckung mit Schutzklappen für die Ohren, eine raue Decke und eine runde Brille, ähnlich der, wie Hannes sie früher bei seinen rasanten Autofahrten getragen hatte.

»Ich meinte es ernst, als ich sagte, Philippe sei ein hervorragender Pilot. Außerdem hat er dieses Flugzeug eigenhändig gebaut.«

»Soll mich das jetzt beruhigen?«, fragte Demy kampflustig. Die Aussicht, mit dem tollkühnen Eigenbau eines windigen Philippe Meindorff fliegen zu müssen, erschreckte sie zutiefst.

Mit hochgezogenen Augenbrauen blickte Claude von ihr zu seinem Freund, der unterdessen ebenfalls eine Fliegerkappe trug, wobei die Schutzbrille mit den runden Gläsern griffbereit auf seiner Stirn saß.

»Entschuldigen Sie. Ich dachte, Sie beiden kennen sich schon lange, da Sie doch …«, murmelte er und zog Philippe beiseite. Während er heftig gestikulierend auf seinen deutschen Kameraden einsprach, betrachtete Demy kritisch die Gegenstände in ihren Händen. Eilige Schritte hinter ihr veranlassten sie, sich umzudrehen.

Claudes Bruder kam angerannt. Er schwenkte ein graues Stück Papier in der Hand. Ob er erneut schlechte Nachrichten zu überbringen hatte? »Claude, Claude! Österreich-Ungarn hat Russland den Krieg erklärt und die Briten sind auf dem Weg hierher nach Frankreich, um uns und Belgien zu unterstützen. Das Deutsche Kaiserreich wirft Frankreich vor, Militärflieger über deutsches und belgisches Gebiet geschickt zu haben. Dein Fliegerkommandant ruft alle Piloten zusammen. Du musst sofort abreisen!«

Sowohl Philippes als auch Claudes Blick wanderten von dem aufgeregten Burschen zu Demy. Die unheilvolle Lage, in der sie sich befand, spitzte sich stündlich zu. Sie straffte die Schultern und zog die Haarkämme aus ihrer Frisur. Ihre schwarzen Locken wallten über ihren Rücken und der Wind wirbelte ein paar der Strähnen durcheinander. Energisch flocht sie sie zu einem Zopf, stülpte sich die Lederkappe über, verschloss sie unter dem Kinn und setzte sich anschließend etwas linkisch die Schutzbrille auf. Aus dem Augenwinkel beobachtete sie, wie Claude und Philippe sich kurz, aber herzlich umarmten.

»Ich bringe sie dir wieder, Claude. Spätestens nach dem Krieg«, rief Philippe seinem Freund zu, als er bereits hinter die Rumpfverkleidung kletterte.

Der Franzose eilte zu Demy und half ihr, sich auf einem zweiten Sitz hinter dem Piloten niederzulassen. Dabei sagte er an seinen Freund gewandt: »Falls du mit deiner düsteren Prognose recht behältst und der Krieg länger als ein paar Monate dauert, wird die Madame vollkommen veraltet sein. Wirst du in einer Einheit fliegen?« Erleichtert registrierte Demy, dass die beiden von dem Flugzeug sprachen.

Philippe lachte trocken auf und erwiderte, während Claude vorn neben den Propeller trat und seine Hand auf einen Propellerflügel legte: »Das deutsche Kriegsministerium setzt noch immer auf Zeppeline!«

»So ein fortschrittliches Land und so rückwärtsgewandte Ansichten in manchen Fällen«, spottete Claude. Er zwinkerte zum Zeichen, dass er Philippes Zurückhaltung akzeptierte, sich über die militärische Flugentwicklung im Deutschen Reich in Schweigen zu hüllen. Er rief dem Piloten einen scharf klingenden Befehl zu, gab dem Propeller gleichzeitig einen kräftigen Anstoß und sprang dann mit einem Satz zur Seite. Die Propellerflügel bewegten sich, während ein knatterndes Motorengeräusch einsetze, stockten kurz, als überlegten sie, ob sie ihre Arbeit tatsächlich verrichten sollten, und drehten sich schließlich zunehmend rascher im Kreis.

Claude lächelte die ängstlich dreinblickende Demy aufmunternd an und schrie ihr gegen den Motorenlärm zu: »Ich hoffe, Sie eines Tages wiederzusehen, Mademoiselle van Campen!«

Mehr als ein Nicken brachte Demy nicht zustande. Sie presste ihre Handflächen aneinander und schickte ein Stoßgebet nach dem anderen gen Himmel. Ihr Pilot senkte für einen Moment den Kopf. Hatte er etwas an dem Flugzeug einzustellen oder betete auch er für einen guten Flug? Demy wusste nicht, ob sie dieser Gedanke beruhigen oder noch mehr aufregen sollte. Schließlich richtete Philippe sich auf und sein breiter Rücken raubte ihr die Sicht nach vorn.

»Wir sehen uns wieder!«, rief er seinem Freund zu und grüßte, indem er lässig mit dem Zeigefinger an seine Kappe tippte.

Das Fluggerät vollführte einen bockigen Sprung vorwärts. Demy konnte nur mühsam einen erschrockenen Ausruf unterdrücken. Das Ruckeln nahm an Intensität zu, als sie mit diesen eigentümlich nach außen abgewinkelten Holzrädern über das Wiesenstück rollten.

Claudes Bruder lief neben ihnen her und winkte mit dem Papier in seiner Hand. Dabei stieß er anfeuernde Rufe aus, als ob er damit das Flugzeug dazu bewegen könne, schneller abzuheben. Demy teilte diesen Wunsch nicht, sie wollte viel lieber am Boden bleiben!

Das Gefährt nahm Geschwindigkeit auf und raste auf ein Waldstück zu, das in einigen Hundert Metern Entfernung wie ein schwarzes Ungetüm lauernd auf Beute in Form eines Flugzeuges zu warten schien. Entsetzt schloss Demy die Augen und versuchte alles um sich herum aus ihren Gedanken auszublenden. Schweiß rann ihr über die Stirn und ihr Körper bebte vor Furcht.

Plötzlich endete das unsanfte Stoßen und Rütteln. Ein sanftes Rauschen, als flüsterten viele Menschen miteinander, drang neben dem lärmenden Geräusch des Motors an ihr Ohr.

Endlich wagte Demy es, die Augen aufzuschlagen. Ein paar Meter unter ihr glitten dunkle Baumwipfel vorbei, dahinter eröffnete sich ihr ein von der Sonne warm beschienener Flickenteppich aus grünen Weiden, bunten Blumenwiesen und Feldern in allen Farbschattierungen, die Gott sich für die reichhaltige Pflanzenwelt auf seiner Erdkugel ausgedacht hatte. Vereinzelt duckten sich Häuser, Schuppen und Ställe zwischen ihnen und wirkten so klein wie die Miniaturausgaben einer Märklin-Modelleisenbahn. Am Horizont erahnte sie in einer gewaltigen grauen Fläche die Hauptstadt Frankreichs.

Neugierig beugte Demy sich über die seitliche Rundung des Korpus hinaus. Dabei rückte sie aus Philippes Windschatten, und eine kräftige Bö pflückte Haarsträhnen aus ihrem Zopf und brachte sie wie eine Fahne zum Flattern.

Demy kümmerte sich nicht darum. Zu angetan war sie von den blauen Bändern, die sich durch die malerische Landschaft schlängelten, von den glitzernden Seen und zwischen Hügeln eingebetteten Ortschaften. Meist waren es die Kirchtürme, die zuerst ihren Blick auf sich zogen, bevor sie einzelne Details der kleinen Städte und Dörfer ausmachen konnte. Ein Lächeln umspielte ihren Mund. Sie hatte ja nicht geahnt, wie wunderschön die Welt aus der Perspektive eines Vogels aussah!

»Ich fliege!«, flüsterte sie fast ehrfürchtig, aber tonlos vor sich hin.

Ein heiteres Lachen ließ sie den Blick von der bezaubernden Landschaft abwenden. Philippe hatte sich so weit umgewandt, wie es ihm in dem engen Gehäuse möglich war, und musterte sie hinter den runden Brillengläsern. Ob er von ihren Lippen hatte ablesen können, was sie gesagt hatte? In jedem Falle verrieten ihr interessierter Blick und ihr strahlendes Lächeln ihm ihre Begeisterung über das Fliegen.

»Ich bringe es Ihnen bei«, brüllte er gegen die Geräuschkulisse an.

Demy schüttelte den Kopf, doch die Bewegung fiel nur zögerlich aus, und Philippe beantwortete ihre nicht eindeutige Absage mit einem weiteren Auflachen.

»Sind das Kinder dort drüben auf der Wiese? Sie scheinen zu winken«, versuchte Demy seine Aufmerksamkeit von sich abzulenken.

Der Pilot drehte sich nach vorn. Während er das Flugzeug in eine eng gezogene Kurve legte, überkam Demy das unangenehme Gefühl, gleich aus der Maschine zu fallen. Krampfhaft klemmte sie die Beine unter eine Verstrebung und klammerte sich am Stahlrumpf fest.

Philippe ließ das Fluggerät sinken und donnerte in kaum zwanzig Metern Höhe über die Kinderschar hinweg. Die Jungen und Mädchen wirbelten herum und beschatteten ihre Augen mit den Händen, um dem Himmelsstürmer gegen die tief stehende Sonne nachzuschauen. Ein zweites Mal wendete Philippe. Diesmal flog er in größerer Distanz über die Wiese. Wieder begannen die Kinder mit beiden Händen zu winken und aufgeregt auf der Stelle zu hüpfen, so sehr freuten sie sich über den ungewohnten Anblick und wohl auch über den Piloten, der ihnen seine Aufmerksamkeit schenkte.

»Sehen sie mich, wenn ich ihnen zurückwinke?«, rief Demy ihm zu, so laut sie konnte.

»Ich übernehme das für Sie«, lautete Philippes Antwort, die vom Wind verweht nur bruchstückhaft bei ihr ankam. Bereits etwas weniger ängstlich ließ Demy es über sich ergehen, dass er die Maschine mehrmals abwechselnd leicht nach links und rechts kippte. Anhand des Flugzeugschattens auf dem unterhalb gelegenen Feld sah sie, dass die Bewegung für die Kinder tatsächlich so aussehen musste, als winke das Flugzeug ihnen zu.