Kapitel 36

Petrograd, Russland,
April 1915

Anki richtete sich auf weitere Schläge oder Fußtritte ein, doch nichts geschah. Eine Hand in einem braunen Wildlederhandschuh streckte sich ihr entgegen, umfasste ihren Ellenbogen und half ihr auf die Beine.

Als Anki den Kopf hob, schaute sie in die aufgebracht blitzenden Augen von Fürst Jussupow. »Bist du verletzt?«

»Es geht schon. Vielen Dank, Hoheit.«

Der junge Mann beugte sich zu ihr herunter und raunte ihr zu: »Ich kann nicht zulassen, dass ein Mädchen geschlagen wird, von dem das Fürstenpaar Chabenski so viel hält und das Rasputin die Stirn geboten hat.«

Anki lächelte schwach und legte ihre Hand an ihre schmerzende Wange. Von dem Lärm erneut angelockt schloss Jakow die Eingangstür und murmelte, mehr an Anki als an den Baron gewandt: »Ich hole die Baroness.«

Als der Diener an ihr vorbeihuschte, flüsterte er: »Hier geht es zu wie auf dem Nikolaj-Bahnhof.«

Vorsichtig sah Anki sich nach Osminken um. Der stand ein paar Schritte von ihr entfernt und ignorierte sowohl sie als auch Fürst Jussupow. Sein Blick folgte dem alten Mann die Stufen hinauf, bis er auf der Galerie nicht mehr zu sehen war. Jussupows Eintreffen und Eingreifen hatte sie vermutlich vor Schlimmerem bewahrt.

Nun wandte er sich an Anki: »Es tut mir leid, so spät zu stören. Aber die Lage zwingt mich zu einem dringenden Gespräch mit Oksana Andrejewna.«

»Sie ist leider nicht in der Verfassung, Sie zu empfangen, Hoheit. Eine vierte Chabenski-Tochter ist vor zwei Stunden angekommen.«

Fürst Jussupow, der vor einem Monat das erste Mal Vater geworden war, sagte: »Leben und Tod liegen eng beieinander.«

Anki nickte und war sich sicher, dass Jussupow Neuigkeiten über Jevgenia brachte. »Baronesse Ljudmila Sergejewna überbrachte uns bereits die Nachricht von Jevgenia Ivanownas Auffinden«, wagte sie anzumerken.

»Du unterhältst immer noch diese etwas ungewöhnliche Freundschaft, nicht wahr?«

Noch ehe Anki zustimmen konnte, fuhr Osminken dazwischen: »Die arme Komtess Zoraw macht sich damit seit Jahren zum Gespött der Gesellschaft, und niemand brachte bis jetzt den Mut auf, diesen deutschen Eindringling in die Schranken zu weisen!«

»Baron.« Jussupow drehte sich nicht einmal zu dem Mann um, der gezwungen war, auf seine Tochter zu warten. »Freundschaften sind etwas sehr Wertvolles. Darüber sollte man weder spotten noch versuchen, sie zu unterbinden. Und zufällig weiß ich, dass Ljudmila Sergejewna von großem Glück sprechen kann, eine so aufopferungsbereite Freundin wie Anki van Campen an ihrer Seite zu wissen!« Jussupows Tonfall war kalt, ein deutliches Zeichen dafür, wie unsympathisch der Fürst den Moskauer Baron fand. Und dass er Ankis vollständigen Namen nannte, zeugte von der Achtung, die der Fürst ihr gegenüber empfand. Anki war nicht einmal bewusst gewesen, dass Jussupow ihren Nachnamen kannte. Sie war froh, als Raisa endlich auf der geschwungenen Treppe auftauchte und gemessenen Schrittes, mit einer Hand am Geländer, die Stufen herunterschwebte.

»Hoheit«, grüßte Raisa Fürst Jussupow und knickste übertrieben tief, wobei sie ihm ein hinreißendes Lächeln schenkte. Er beantwortete ihren Gruß mit einem Nicken und wendete sich unhöflich rasch wieder Anki zu.

Dadurch sah er nicht, wie Raisas aufgebrachter Blick zu Anki wanderte und dabei hart wurde. Raisa war jedoch klug genug, um sich ohne Kommentar bei ihrem Vater einzuhängen. Gemeinsam verließen sie das Palais. Kein mahnendes Wort für Raisas ungehörig langes Ausbleiben kam über die Lippen des Barons.

Fürst Jussupow fuhr sich mit der Hand über das bartlose Gesicht, bevor er sich aufrichtete und leise sagte: »Ich traue dir das Einfühlungsvermögen zu, dass du Fürstin Oksana Andrejewna weitere schlechte Neuigkeiten übermitteln kannst, wenn du denkst, dass sie es verkraften kann.«

Anki hob den Kopf und sah dem Mann vor Schreck in die Augen, was nicht standesgemäß war, ihn jedoch nicht zu stören schien. Vielmehr nickte er ihr zu und erklärte mit gedämpfter Stimme: »Herzogin Bobow, die Mutter von Jevgenia Ivanowna, hat sich nur Minuten nachdem der aufgefundene Leichnam als der ihrer Tochter identifiziert wurde, in den Tod gestürzt.«

Anki schnappte nach Luft und presste beide Hände auf ihren Mund. Mit aufgerissenen Augen starrte sie den Mann an, der ihren Blick grimmig erwiderte: »Auch ihren Tod hat dieser dreckige Halunke zu verantworten! Es muss endlich etwas gegen ihn unternommen werden!«

Er sprach von Rasputin, dessen war sich Anki bewusst. Doch ob sie diese Worte an die Fürstin weitergeben sollte? Der unheimliche Starez war zuletzt häufiger Thema zwischen dem Fürstenpaar und den Jussupows gewesen, und diese Unterhaltungen waren zumeist sehr emotional verlaufen. Ein kaum mehr unter der Hand weitergegebenes Gerücht besagte, dass Fürst Jussupows Frau Irina, mit der er auf der Hochzeitsreise bei Kriegsausbruch im Deutschen Reich festgesessen war, ein unschönes Erlebnis mit Rasputin hinter sich hatte29.

»Der arme Herzog Bobow«, flüsterte Anki tonlos vor Entsetzen. »Erst seine Tochter und nun die Ehefrau …«

Es läutete an der Tür, was Anki die Stirn runzeln ließ. Hatte Raisa sich wieder einmal bei ihrem Vater über das Verhalten von Ninas Kindermädchen beschwert? Kam er nun zurück, um ihr Vorwürfe zu machen?

Fürst Jussupow hegte wohl ähnliche Gedanken, denn er sagte, mehr zu sich als an Anki gewandt: »Gibt dieser Baron nicht endlich Ruhe? Er verhält sich, als gehöre er schon immer zur Petersburger Gesellschaft und beleidigt mit seinen Worten und seinem Auftreten fortwährend unseren Stand.«

Anki schwieg. Es gab genug Bedienstete in den russischen Adelshäusern, die schlecht behandelt wurden, da bildete Osminkens Tun keine Ausnahme. Wie er sich jedoch den adeligen Damen und Herren gegenüber benahm, in deren Häuser er und Raisa eingeladen waren, entzog sich ihrer Kenntnis.

Jakow eilte zur Tür, doch offenbar begehrte niemand Einlass, denn er schloss sie zügig wieder und sperrte damit den frostigen Luftzug der kalten Aprilnacht aus.

»Richte der Fürstin meine herzlichsten Glückwünsche aus. Irina Alexandrowna wird sie bald mit unserer Bebe besuchen. Die Kinder sind ja gleichaltrig und werden sicher Spielkameradinnen sein.«

Anki lächelte unverbindlich und blickte besorgt zur Treppe. Sowohl der Arzt als auch die Hebamme hielten sich seit Stunden bei der Fürstin auf. Dies wertete Anki als schlechtes Zeichen, obwohl sie bis jetzt noch nicht einmal Zeit gefunden hatte, sich um den Zustand der Fürstin zu sorgen oder für sie zu beten.

Kaum hatte Fürst Jussupow das Haus der Chabenskis verlassen, näherte sich Jakow. Sein Blick war düster und in seinen weiß behandschuhten Händen drehte er ungewohnt nervös einen gefalteten Zettel.

»Ein Bote zu so später Stunde?«, sprach Anki den tief in Gedanken versunkenen Mann an, der daraufhin zusammenzuckte. Er reichte ihr das Papier, doch sie zögerte, es anzunehmen.

»Für wen ist es?«

»Für Ihre Hoheit, Fürstin Chabenski.«

»Woher?«

»Von der Armee.«

»Von der Armee kommen selten gute Nachrichten per Boten.«

»Vor allem nicht des Nachts.«

Der alte Mann und das Kindermädchen sahen einander lange in die Augen. Beißende Angst bohrte sich in Ankis Magen und setzte sich fest. Wieder wanderte ihr Blick besorgt und bekümmert zugleich zur Galerie und den dahinter abgehenden Zimmertüren. Sie lagen allesamt im Dunkeln, so als sollten ihnen die dort oben stattfindenden Geschehnisse verborgen bleiben.

Jakow trat einen Schritt näher und raunte Anki zu: »Lesen Sie es.«

Anki öffnete protestierend den Mund, brachte aber keinen Ton heraus.

»Ihre Hoheit wird es nicht bemerken. Sie ist nach dieser schweren Geburt zu geschwächt und wird Sie ohnehin bitten, ihr das Telegramm vorzulesen.«

»Aber …«

»Enthält die Botschaft schlimme Nachrichten, Anki van Campen, dann halten Sie diese zurück, bis Ihre Hoheit sich erholt hat.«

»Kann ich denn darüber entscheiden, Jakow?«

»Sie müssen. Sonst ist doch niemand wach.«

Mit zitternden Fingern zog Anki dem Alten das leicht grau eingefärbte, akkurat zusammengelegte Papier aus der Hand, das dabei ein gefährlich klingendes Zischen von sich gab.Wovor wollte es sie warnen? Vor dem unerlaubten Öffnen oder vor seinem schrecklichen Inhalt?

Jakow drehte sich um und verschwand in seiner Kammer. Entsetzt sah Anki ihm nach. Er konnte sie mit dieser Entscheidung doch nicht einfach allein lassen! Es dauerte ein paar kräftige, aufgeregte Herzschläge, bis sie sein Tun verstand. Niemand, nicht einmal er, würde jemals erfahren, was genau sie mit der Nachricht getan hatte. Es war ihre Entscheidung, ihr Geheimnis.

Langsam, als fiele ihr jede Bewegung unendlich schwer, wandte Anki sich ab und ging in Richtung Treppe. Dort brannte noch immer die Stehlampe. Ein einsames Licht in der Dunkelheit, die nach Ankis Herzen greifen wollte. Alles um sie her befand sich im Umbruch; eine Entwicklung löste die vorherigen in rasanter Geschwindigkeit ab, noch ehe Anki sie vollständig erfassen konnte. Sicherheit gab es nicht mehr.

Sie ließ sich schwer auf die dritte Stufe fallen und strich ihren Rock glatt, während sie wie gebannt auf die Mitteilung in ihrer bebenden Hand starrte.

Behutsam, als fürchtete sie, das Blatt könne wie nach einer Verletzung zu bluten beginnen, faltete sie es auf. Hektisch wanderten ihre Augen über die für sie nicht flüssig zu lesenden kyrillischen Buchstaben.

Die Nachricht war niederschmetternd konkret: Man hatte Fürst Chabenski in einer von den Deutschen überrannten Stellung zurücklassen müssen. Er habe zu diesem Zeitpunkt bereits eine Schusswunde in der Brust und schwerste Verbrennungen durch einen Flammenwerfer erlitten. Mit einer Heimkehr des von seinen Truppen verehrten und tapferen Obersts Ilja Michajlowitsch Chabenski war nicht zu rechnen. Fortan werde er als tapfer im Kampf für das geliebte Heimatland gefallen geführt.

***

Eine blutrote Sonne stieg über die Dächer der Stadt, vertrieb die Schatten aus den Straßen und brachte das Wasser in den Kanälen und Flussläufen zum Glitzern. Tauben gurrten, Möwen kreischten und die von den Fassaden widerhallenden Geräusche der Pferdehufe, Wagen und Automobile nahmen an Intensität zu. Petrograd erwachte zum Leben, während Fürstin Chabenskis zu Ende ging.

Anki saß erneut auf den Stufen zur Galerie, diesmal allerdings fast ganz oben. Sie beobachtete, wie die Strahlen der ungewöhnlich orange gefärbten Sonne durch die hohen Palastfenster drangen und zuerst das Holz der Treppe und des Geländers, schließlich die Wandvertäfelungen im Ballsaal und das Parkett zum Glühen brachten. Ihre Gedanken und Gebete flatterten unstet wie ein Schmetterling von der Fürstin zu deren Kindern, die nun bei der Sterbenden weilten. Von dort flogen sie zu Robert, um dann wieder bei ihrer Arbeitgeberin zu landen.

Anki hatte das Telegramm noch in der Nacht der Schwiegermutter von Fürstin Chabenski übergeben, die sich momentan im Haus aufhielt; sie hatte die Dame seither aber nicht mehr gesehen. Vermutlich hatte sie sich in ihre Gästeräumlichkeiten zurückgezogen und es ebenfalls nicht gewagt, der um ihr Leben kämpfenden Frau die schreckliche Nachricht zu übermitteln.

Anki zuckte vor Schreck zusammen, als eine Tür aufflog und krachend gegen die Wand donnerte. Jelena stürmte aus dem Schlafzimmer ihrer Mutter, prallte nach ein paar Schritten gegen das Geländer und klammerte sich Halt suchend daran fest. Anki sprang auf und stieg die Stufen hinauf, doch da hatte das Mädchen sich bereits umgewandt und rannte an der besorgt herbeieilenden Marfa vorbei in ihr Zimmer.

Katja betrat den Flur und blieb unschlüssig vor der Tür stehen. Große Tränen kullerten der Achtjährigen über die Wangen. Die Verwirrung darüber, dass man ihr gesagt hatte, sie müsse sich von ihrer Mutter verabschieden, war ihr deutlich in das kindliche Gesicht geschrieben. Die sonst so aufmüpfige Nina trat neben ihre kleine Schwester, nahm sie bei der Hand und zog sie mit sich in ihr Zimmer.

Anki stiegen die Tränen in die Augen. Sie wartete, bis sich die Tür hinter den Prinzessinnen geschlossen hatte, ehe sie dem Wunsch der Fürstin entsprechend deren Privatgemach betrat. Heute war sie nicht in der Lage, die erlesene Schönheit der Nussholzmöbel und die zarten Farben der Damasttapete wahrzunehmen. Ihr Blick glitt über die vielen Fotografien von verschiedenen Reisen in ferne Länder, die gerahmt eine neben der anderen an den Wänden hingen und auf den Kommoden standen. Schließlich zwang sie ihren Blick auf das blasse, eingefallene, einst so würdevoll-schöne Gesicht der Fürstin, die in ihrem Himmelbett nahezu verloren aussah.

Die Fürstin schenkte ihr ein schwaches Lächeln. Anki verstand es als Einladung, näher zu treten und sich auf den Stuhl zwischen der Kinderwiege, in der das Neugeborene schlief, und das Bett zu setzen. »Sie haben eine bezaubernde Tochter, Hoheit.«

»Danke, Fräulein Anki«, flüsterte die Frau und bewegte dabei kaum den Mund. Sie klang erschreckend schwach. »Sie soll Jenja heißen. Jenja Katharina Elisabeth Anna Iljichna. Ich hoffe, es gibt Herzogin Bobow ein wenig Trost, dass ich mein Kind nach ihrer vermissten Tochter benenne.«

Anki presste die Lippen zusammen. Für Fürstin Chabenski hatten alle die Veränderungen, die in der vergangenen Nacht die Adelskreise erschüttert hatten, keine Wichtigkeit mehr. »Jenja, ein wunderschöner Name für ein wunderschönes Mädchen«, brachte sie schließlich heraus und blinzelte ein paar Tränen fort.

»Anki?«

Die Angesprochene atmete tief durch und blickte die Frau im Bett aufmerksam an.

»Sie sind ein Geschenk des Himmels für meine Kinder. Sie formen sie zu wunderbaren Menschen, Ihr Einfluss tut ihnen gut.« Die Frau stockte, atemlos und zu schwach, um die Augen offen zu halten. »Sie brauchen Ihre Liebe. Bitte bleiben Sie bei ihnen, zumindest bis Fürst Chabenski zurückkehrt.«

»Hoheit …«

»Aber vermutlich werden Sie das ohnehin tun, da Sie vor Kriegsende nicht weg können.« Die Fürstin brach erneut ab. Ihre farblose Stimme wurde noch leiser, als sie fortfuhr: »Es tut mir leid, dass Ihr lieber Dr. Busch so weit fort ist. Er wird Sie nach dem Krieg finden. Bis dahin, bitte …«

Anki sah die Sorge und den Schmerz in Fürstin Chabenskis Gesicht. Als die Frau sich mühsam zwang, ihre Augen zu öffnen, um die Njanja anzusehen, lag darin ein unübersehbares Flehen. Die Niederländerin legte ihre Hand auf die kalten Finger der Adeligen. Sie konnte gar nicht anders, als ihr zu versprechen, ihre vier Töchter nicht alleinzulassen.

»Bitte!«, wiederholte die sterbende Frau und zwei Tränen lösten sich aus ihren Augen, deren Farbe an die gefrorene Neva erinnerte.

»Ich bleibe bei Ihren Mädchen, Hoheit. Ich kümmere mich um sie, bis …« Die Worte blieben ihr im Hals stecken, schließlich wusste sie nicht, woran sie das Ende ihrer Fürsorge für die Mädchen festmachen sollte, denn Fürst Chabenski würde nicht aus dem Krieg zurückkehren.

»Das macht mich froh«, hauchte die Frau, zog langsam ihre Hand unter Ankis hervor und legte sie auf diese. »Bitte, Anki, sagen Sie Oksana zu mir. Wie ein Familienmitglied. Und ich möchte mit meiner Schwiegermutter sprechen. Sie muss wissen, dass Sie zur Familie gehören.« Ihre Worte hatten wieder etwas mehr Kraft. Fürstin Chabenski schien sich gegen den Akt des Sterbens aufzubäumen, wollte den letzten Vorhang nicht schon fallen lassen. Für einen Moment wog Anki ab, ob Oksana wohl kämpfen und überleben würde, wenn sie ihr sagte, dass auch der Vater der Kinder nicht mehr am Leben war. Gab es noch eine Möglichkeit, diese Frau auf der Bühne des Lebens zu halten?

»Ich habe es gehört, Kind«, sagte eine Stimme von der Tür her und ließ Anki erschrocken zusammenzucken. Vom Gesicht der Sterbenden verschwand der gehetzte Ausdruck. »Sag es«, flüsterte sie Anki zu.

»Ich werde dich sehr vermissen, Oksana Andrejewna«, zwang Anki sich zu sagen, auch wenn sie sich dabei schrecklich unwohl fühlte. Ein Lächeln belohnte ihren Mut. Dann schloss die Frau die Augen, und Anki machte eilig der älteren Fürstin Chabenski Platz.

Taumelnd verließ sie den Raum und sank förmlich gegen die Galeriebrüstung. Ihr Blick fing die schräg einfallenden, goldenen Sonnenstrahlen ein, die Licht und Schatten in den Ballsaal warfen. Obwohl die Verantwortung, die sie soeben übernommen hatte, sie annähernd erdrücken wollte und ihr den Atem raubte, wusste sie doch, dass sie richtig gehandelt hatte – ja gar nicht anders hätte handeln können.

»Hilf mir!«, flüsterte sie ein Gebet in dem Wissen, dass sie von Gott jeden Tag genau so viel Kraft bekommen würde, wie sie brauchte.

Eine Hand legte sich leicht auf ihre Schulter. Erstaunt wandte Anki den Kopf. Die Mutter von Oberst Chabenski würde im Normalfall nie eine Angestellte berühren. Verleiteten Oksanas Worte sie dazu, diese Regel zu brechen?

»Oksana ist tot, Njanja Anki. Sie haben ihr in ihren letzten Minuten eine große Last abgenommen, und dafür danke ich Ihnen von Herzen«, sagte sie erstaunlich sanft. »Und sie hat recht, was ihre Töchter betrifft. Die Mädchen brauchen Sie viel mehr als ihre alte, in starren Traditionen verwachsene Großmutter. Ich versuche, alles zu regeln, aber die Erziehung der Kinder möchte ich, wie Oksana, in Ihren fähigen Händen wissen.«

»Soweit es in meiner Macht steht«, flüsterte Anki und drehte den Kopf, ohne die Tränen der Trauer abzuwischen. Die alte Dame durfte ruhig sehen, dass auch sie um den Verlust ihrer wunderbaren Arbeitgeberin trauerte.

Fürstin Chabenski nickte, dann wurde ihr Gesicht beinahe so hart wie am Tag zuvor. »Ich gebe die traurige Nachricht an meine Enkelinnen weiter. Sie begeben sich auf die Suche nach einer Amme für Jenja Iljichna!«

»Ja, Hoheit«, erwiderte Anki, und obwohl sie sofort gehorchte, war ihre Angst vor der resoluten Person gänzlich verflogen.

29 Die Familie Jussupow verklagte später mehrere Filmgesellschaften, die sich des Themas Rasputin in Spielfilmen annahmen, wegen falscher Darstellung der Tatsachen. In einem dieser Filme vergewaltigt Rasputin die »einzige Nichte des Zaren«. Die Familie gewann die Prozesse.