Kapitel 25

Petrograd, Russland,
Oktober 1914

Die Kutsche der Chabenskis rollte über die Nikolaj-Brücke23 auf die Wassiljewski-Insel hinüber, deren quadratisch angelegten Häuserblocks man deutlich ansah, dass das alte St. Petersburg auf dem Reißbrett geplant worden war. Es hieß, die Stadt sei auf menschlichen Gebeinen errichtet, was daher rührte, dass Tausende Leibeigene zu ihrem Bau zwangsrekrutiert worden waren. Sie hatten in der Wildnis auf dem sumpfigen Boden in überfüllten und unhygienischen Schilfhütten kampiert und waren an Skorbut, Ruhr und Malaria gestorben oder von Wölfen angegriffen worden. Die Zahl der Toten musste bei mindestens 25.000 liegen, so wusste Anki.

Peter der Große hatte 1703 die sumpfige Nevamündung, die damals zu Schweden gehörte – gegen das er Krieg führte –, als Standort für seine Traumstadt ausgesucht. Da er das Einpoldern in den Niederlanden studiert hatte, wollte er eine Stadt nach dem Vorbild Amsterdams bauen, weshalb er ihr auch einen niederländischen Namen gab: Sankt Pieterburch. Peter der Große zwang den Adel, sich in seiner neuen Stadt niederzulassen, was diesen ein Vermögen kostete. Im Laufe der Jahre wurde aus der ursprünglichen Stadt zwischen dem Finnischen Meerbusen und der Kleinen und Großen Neva das Wissenschafts- und Kulturzentrum des russischen Reichs mit den meisten Fakultäten der Petrograder Universität und weiteren Akademien. Vor allem im Ostteil der Insel ballten sich die Wohnungen der Studenten und Professoren. Zudem wohnten dort viele Deutsche mit einer eigenen, evangelisch-lutherischen Kirche, der St. Katherinenkirche. Die in exakten Quadraten angelegten Straßenzüge erleichterten die Orientierung, zumal die Querstraßen zu den Boulevards simpel der Reihe nach durchnummeriert waren.

Alex lenkte die Kutsche in Richtung der deutschen Kirche, hielt dann aber in einer der Linien-Straßen vor einem schmuck hergerichteten Wohngebäude. Anki warf einen Blick aus dem Fenster und fragte sich, weshalb die Buschs auf der Wassilijewski-Insel wohnten und nicht im Zentrum, wo sich das Architekturbüro von Roberts Vater befand. Vielleicht wollten sie ihren beiden studierenden Söhnen eine Anfahrt mit der Straßenbahn ersparen. Oder es gefiel ihnen trotz des ständig über die Insel pfeifenden Windes in diesem Rajon, der vermutlich am ehesten den Charme einer Hafenstadt innehatte.

Alex öffnete die Kutschtür und bot ihr die Hand als Hilfe. Weil sie sich für den ersten Besuch bei den Buschs für einen modisch eng geschnittenen, kieselfarbigen Faltenrock entschieden hatte, nahm sie die Hilfestellung dankbar an. Kaum auf der Straße zog sie ihre mit Spitze verzierte Bluse glatt, deren Ärmel nur bis zu den Ellenbogen reichten.

»Und ich soll dich wirklich nicht abholen?«, fragte Alex das zweite Mal mit hörbar besorgtem Tonfall.

»Robert versprach mir, mich mit dem Automobil seines Vaters zurückzubringen. Vielen Dank, Alex.«

»In den Straßen herrscht Unruhe. Der Krieg, die Kriegsgegner, die Spinner, die auch in den fast hunderttausend hier lebenden Deutschen ihre Feinde sehen …« Alex sprach nicht weiter, hatte aber Ankis ungeteilte Aufmerksamkeit erlangt.

»Weißt du mehr?«, fragte sie leise nach, woraufhin der Kutscher lediglich die Schultern hochzog. Eine kalte Windbö fegte durch die Straße, zerrte an ihrem Rock und Mantel und wirbelte eine Flut von bunten Blättern auf. Anki wusste nicht, wie politisch aktiv Alex war, doch dass er gelegentlich über Informationen verfügte, die anderen Einwohnern der Stadt abgingen, hatte sie mehr als einmal stutzig gemacht. Er war nicht nur der einfache Kutscher, als der er sich vielleicht bewusst gern gab.

In diesem Moment trat Robert in einem vornehmen dunklen Kaschmiranzug aus der Tür, vor der die Kutsche parkte. Ihr Fahrer verbeugte sich, bevor er zurück auf den Kutschbock kletterte, jedoch nicht ohne dabei einen prüfenden Blick die Straße entlangzuwerfen.

»Anki, du siehst hinreißend aus.« Robert ergriff sie an beiden Händen, zog sie unter den Toreingang und drückte sie an sich.

»Ich liebe Torbögen!«, murmelte er in ihr Haar, in Erinnerung an ihre erste Umarmung bei den Chabenskis.

»Und ich dachte, du liebst mich«, foppte Anki ihn, obwohl ihr mulmig zumute war. Immerhin würde sie heute Roberts Eltern vorgestellt werden. Das Ehepaar konnte jederzeit in die Tür treten, um ihren Gast willkommen zu heißen.

Robert entließ sie aus seinen Armen und führte sie in die für einen erfolgreichen Architekten ungewöhnlich kleine, jedoch gemütliche Wohnung im Erdgeschoss des Gebäudes. Mathilde, Roberts Mutter, war eine rundliche, adrette Frau, die Anki zur Begrüßung umarmte und ihr dabei zuraunte, wie sehr ihr Ältester von ihr schwärmte. Wolf Busch, deutlich älter als Mathilde und annähernd so groß wie Ankis eigener Vater, drückte ihr kräftig die Hand. Die tief eingegrabenen Lachfältchen um seine Augen gefielen ihr gut und sie fragte sich, ob Robert diese später wohl auch haben würde. In diesem Moment nahm sie sich vor, alles dafür zu tun, dass es so sein würde.

Zuletzt schüttelte Anki Oskar die Hand. Sie hatte Roberts jüngeren Bruder seit ihrem ersten Treffen 1908 im Sommergarten nicht mehr gesehen und staunte, wie sehr er in die Höhe geschossen war. Er überragte selbst seinen Vater, war aber weitaus schlanker gebaut. Wie damals trug er eine etwas verkniffene Miene zur Schau.

»Kommen Sie, das Essen ist fertig. Ich habe heute versucht, eigens für Sie einen Rijstevlaai24 mit Kompott zu backen und hoffe, er schmeckt Ihnen.«

Ankis Augen begannen zu strahlen. Aus einem Impuls heraus drückte sie der Frau die Hand. Diese schenkte ihr ein liebevolles Lächeln und bat sie, zwischen Robert und Oskar Platz zu nehmen.

Der Arzt rückte ihr den Stuhl zurecht und die drei Männer setzten sich erst, nachdem sie und auch Mathilde saßen. Roberts Mutter schnitt den Reiskuchen in der Auflaufform an und legte Anki ein großes Stück auf den geblümten Porzellanteller. Ein verführerischer Duft nach heißem Apfel- und Pflaumenkompott breitete sich aus.

Der Hausvorstand sprach ein Tischgebet, während eine Uhr im Nebenzimmer achtmal schlug. Prüfend warf Anki einen Blick aus dem Fenster. Die Dämmerung streckte ihre Finger nach der Stadt aus. Es ließ sich nicht länger verleugnen, dass ein weiterer eisiger und dunkler Winter von Petrograd Besitz zu ergreifen begann. Der drohenden Kälte und den langen Winternächten zum Trotz fühlte Anki sich im Augenblick rundum wohl. Ihr war, als habe sie in diesen paar Minuten, die sie sich im Kreise von Roberts Familie befand, bereits ein neues Zuhause gefunden. Deshalb fügte sie dem Gebet des Familienvorstands ein kleines Dankeschön für diese Familie bei.

Noch immer aß niemand, und Anki warf Mathilde einen fragenden Blick zu. Roberts Mutter sagte auffordernd: »Bitte, probieren Sie. Ich bin so gespannt, ob mir das holländische Gericht gelungen ist.«

»Wenn es nur halb so gut schmeckt, wie es duftet, Frau Busch, wird es himmlisch sein. Es ist über sieben Jahre her, dass ich das letzte Mal Rijstevlaai genießen durfte.«

»Ich hoffe, ich habe in Ihnen jetzt kein Heimweh wachgerufen! Das würde mir schrecklich leidtun!«

»Keine Sorge, das haben Sie nicht. Nur schöne Erinnerungen, die ich schon verloren glaubte. Ich war ja fast noch ein Kind, als ich Koudekerke verließ.«

»Wie es dazu kam, müssen Sie uns bei Gelegenheit erzählen«, mischte Wolf sich in das Gespräch ein und hob auffordernd seinen Löffel. »Aber erst später. Satt lässt sich besser alten Geschichten lauschen!«

Anki lächelte und hoffte, nichts von dem Drama erzählen zu müssen, das zu ihrem Weggang aus den Niederlanden geführt hatte, und probierte den ersten Löffel des noch dampfenden Gerichts. »Herrlich! Es ist perfekt!«, lobte sie.

»Ich bin froh, dass nur Erinnerungen, kein schmerzliches Heimweh in Ihnen aufgekeimt ist«, knüpfte Mathilde nochmals an das vorige Gesprächsthema an und probierte ebenfalls von dem Reiskuchen.

»Mein Zuhause in den Niederlanden gibt es leider nicht mehr. Aber ich denke ohnehin, dass Heimat da ist, wo das Herz eines Menschen wohnt.« Bei diesen Worten drückte Anki Roberts Arm. Er legte seine Hand auf ihre und bedachte sie mit seinem so einnehmenden Lächeln, dass sie sogar das Essen vergaß.

Als sie sich wieder dem Rijstevlaai zuwandte, brannte in ihrem Herzen ein unangenehmes Feuer. Erinnerungen wühlten sie auf. Damals hatte Tilla sie erst gebeten, dann angefleht, das Angebot der Chabenskis ja nicht auszuschlagen. Schließlich hatte sie ihr mit unbarmherzigen Worten ein so düsteres Bild ihrer Zukunft gemalt, dass Anki sich gezwungen gesehen hatte, nach Petrograd zu reisen. Es war schrecklich für sie gewesen, die Wahrheit zu erfahren, ihre Geschwister zu verlassen und zu einer wildfremden Familie in eine unbekannte Stadt in einem fernen Land zu ziehen. Doch wie es bereits im Alten Testament hieß, hatte Gott es zuwege gebracht, aus etwas Schlechtem Gutes zu vollbringen. Anki hatte sich rasch eingewöhnt und liebte die ihr anvertrauten Mädchen. Sie hatte den Respekt ihrer Arbeitgeber und der anderen Angestellten gewonnen und nun auch noch die Liebe eines wunderbaren Mannes. Vermutlich würde sie Tilla niemals genug dafür danken können, dass sie sie damals im Grunde aus dem Haus gejagt hatte!

Anki beendete ihre Mahlzeit und lehnte sich zufrieden auf ihrem Stuhl zurück, während die Männer und auch Mathilde sich eine weitere Portion gönnten. Vergnügt sah sie sich in dem Speiseraum um, bewunderte die Gemälde an den Wänden, das weiß schimmernde Meißener Porzellan hinter einer Glasvitrine und eine antike, bemalte Kommode, wahrscheinlich ein Erbstück der Familie.

Robert und sein Vater unterhielten sich angeregt, Oskar aß, wobei Anki sich lächelnd fragte, wohin der schlanke Kerl die großen Portionen steckte, und sie schloss für einen Augenblick behaglich die Augen. Niemals hätte sie zu träumen gewagt, dass sie sich bei ihrem ersten Treffen mit ihren zukünftigen Schwiegereltern so wohlfühlen würde. Doch das Ehepaar hatte sie herrlich unkompliziert aufgenommen und liebte offenbar ein schlichtes Leben, obwohl sie über ein ansehnliches Einkommen verfügen mussten. Anki fühlte sich fast ebenso angenommen wie damals in Koudekerke, als ihre Stiefmutter noch am Leben gewesen war und bevor Tilla sie in das schreckliche Geheimnis eingeweiht hatte …

Ein Knall störte das gemütliche Miteinander. Erschrocken zuckte Anki zusammen. In ihrem Rücken klirrte es. Etwas Dunkles flog an ihr vorbei, zertrümmerte ihren Teller und fiel polternd vom Tisch. Ein zweiter lauter Schlag folgte und das Glas der Vitrine mitsamt dem Porzellan darin zersprang in tausend Scherben. Anki glaubte, das Geschirr qualvoll aufschreien zu hören. Doch es war Mathilde, die schrie. Einer der Männer rief einen Befehl.

Anki zitterte am ganzen Leib und war vor Schreck wie erstarrt. Plötzlich umfingen sie zwei starke Arme und rissen sie derb vom Stuhl. Unsanft landete sie auf Robert, der sie unter den Tisch schob und sich schützend auf sie legte. Wieder schien etwas zu explodieren, die Deckenlampe zerplatzte und es wurde nahezu dunkel.

Rohes Grölen mischte sich mit dem Schluchzen von Mathilde und den beruhigend gemurmelten Worten ihres Mannes. Ein kalter Wind wehte die Servietten vom Tisch und blies die Kerzen eines Kandelabers aus, der auf der antiken Kommode stand.

»Verschwindet von hier!«, brüllte draußen auf der Straße jemand. »Wir wollen euch Deutsche hier nicht haben«, unterstützte eine raue Frauenstimme den Schreier, die von einer jung klingenden, männlichen Stimme übertönt wurde: »Raus mit den reichen Deutschen. Erst vermehrt ihr das Geld des Zaren, jetzt tötet ihr unsere Brüder!« Durch die zerschlagenen Fenster drang aus einiger Entfernung erneut das Splittern von Glas, auch die aufgebrachten Schreihälse entfernten sich zunehmend. Offenbar hatten die Randalierer ein neues Ziel gefunden.

Anki erwachte aus ihrer entsetzten Erstarrung und öffnete die Augen. Es war dunkel, dennoch sah sie Roberts Gesicht nah vor sich.

»Bist du verletzt, meine Liebe?«, flüsterte er gepresst.

Sie benötigte einen Moment, ehe sie wusste, wie sie seine besorgte Frage beantworten sollte. Ihre Stimme zitterte nicht weniger als sie selbst. »Ich glaube nicht. Dank deines Eingreifens.«

»Gott sei Dank.« Er beugte sich vor, hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn, ehe er sich von ihr rollte und vorsichtig aufstand. Dabei ließ er die Fensterfront keinen Augenblick aus den Augen. Inzwischen war es draußen ruhig geworden. Nur das Pfeifen des Windes und das Rascheln der wehenden Vorhänge füllte die Stille.

»Oskar? Mutter? Vater?«

»Wir sind unverletzt, Sohn. Und für das zertrümmerte Geschirr und die Möbel bräuchten wir wohl eher eine Manufaktur und einen Schreiner als einen Arzt.«

Trotz des Schreckens schlich sich ein Schmunzeln auf Ankis Gesicht. Jetzt wusste sie, wo die Lachfältchen ihres zukünftigen Schwiegervaters herrührten und was es mit Roberts Gelassenheit auf sich hatte. Offenbar gab es nicht viel, was diesen Mann beeindruckte.

»Wenigstens hat Oskar das gute Essen nicht umkommen lassen«, erwiderte Mathilde prompt. Das Geräusch aneinanderklirrender Scherben ließ Anki vermuten, dass sie die Auflaufform in Händen hielt, die mitsamt der Tischdecke heruntergerissen worden war, als das Ehepaar sich vor den Geschossen in Sicherheit brachte.

»Vorsicht, Anki. Der Boden ist übersät mit Scherben.« Robert streckte ihr seine Hände entgegen, damit er ihr unter dem Tisch hervor und auf die Beine helfen konnte. Er sah, wie stark sie noch immer zitterte, und nahm sie Trost bietend in den Arm. In diesem Moment knipste Roberts Vater im Flur das Licht an und Mathilde lächelte dem eng umschlungenen Paar zu.

Obwohl Anki sich in Roberts Armen herrlich geborgen fühlte, war sie doch erleichtert, als er sie freigab. Zuschauer behagten ihr beim Austausch von Zärtlichkeiten nicht sonderlich. Während das Ehepaar Busch eine Bestandsaufnahme des Schadens vornahm, entdeckte Anki in Mathildes Augenwinkel beim Anblick des zersprungenen Porzellans nun doch ein paar Tränen.

Oskar verließ unterdessen gewohnt schweigsam den Raum. Kurz darauf fiel die Außentür ins Schloss. Sein Bruder, inzwischen mit Besen und Schaufel zugange, drückte beides Anki in die Hand und riss eines der zerstörten Fenster auf. »Komm zurück, Oskar!«

»Diese Idioten wissen genau, dass wir nichts mit dem autokratischen System Russlands zu tun haben«, hörte Anki Oskar rufen.

»Lass es gut sein, hörst du?« Der junge Arzt beugte sich weit aus dem Fenster in die dunkle Nacht. Unter seinen Schuhen knirschte das Glas und Anki befürchtete, er könne ausrutschen und in die Splitter stürzen.

Endlich trat Robert zurück und schloss das Fenster so vorsichtig, als fürchte er, weitere Scheiben darin würden zerspringen. Anki verkniff sich alle Fragen über das eigentümliche Verhalten von Oskar und machte sich daran, die überall verstreut liegenden, im Licht der Kerzen sanft glitzernden Scherben zusammenzufegen.

»Ich versuche Bretter aufzutreiben, mit denen wir die Fenster für heute Nacht vernageln können«, erklärte Robert mit düsterer Miene. Im Vorbeigehen drückte er Ankis Unterarm und verschwand ebenfalls ins Freie. Ob er gleichzeitig noch seinen Bruder aufzuhalten versuchte – weshalb auch immer dieser so eilig davongestürmt war?

Die Unkompliziertheit des Ehepaars Busch half Anki, das soeben Erlebte zu verarbeiten. Sie wurde nicht etwa in das Wohnzimmer gebeten, um dort darauf zu warten, bis der gröbste Schaden behoben war. Wie selbstverständlich durfte sie mithelfen, die Scherben zu beseitigen, um anschließend die Porzellanstücke, die den Steinwurf überlebt hatten, aus der Vitrine zu nehmen und in eine Kiste zu packen. Zuletzt hielt sie die Holzlatten, die Robert vorsichtig, um nicht noch mehr Schaden anzurichten, in die Fensterrahmen einpasste.

Nach getanem Werk setzten sie sich in das ebenfalls geschmackvoll eingerichtete Wohnzimmer, und während Wolf einen leichten Wein einschenkte, ergriff Mathilde Ankis Hand.

»Unser gemütlicher Abend ist von diesen aufgebrachten Menschen leider empfindlich gestört worden. Allerdings spiegelt das doch nur unser Leben wider: Wir planen, müssen aber jederzeit mit Unvorhersehbarem rechnen. Der Vorfall hat mir die Antwort auf eine Frage gegeben, die mich seit Wochen beschäftigt. Da meine Entscheidung auch Sie betreffen wird, Fräulein van Campen, ist es nur richtig, dass Sie an diesem Gespräch teilhaben, das, wie diese Steinwerfer, heute nicht eingeplant war.«

»Ich dachte mir schon, dass dies nun letztendlich der entscheidende Ausschlag ist«, murmelte Wolf und setzte sich in einen mit apfelgrünem Samt bezogenen Sessel.

Ankis fragender Blick wurde von Robert nicht erwidert, da er vornübergebeugt auf der Couch saß. Er stützte die Ellenbogen auf seine Oberschenkel und betrachtete seine gefalteten Hände.

»Fräulein van Campen, seit Kriegsbeginn sind wir deutschen Geschäftsleute in Petrograd zwar geduldet, aber nicht gern gesehen«, begann Wolf zu erklären, was Anki ohnehin vermutete. »Zudem brechen uns durch den Krieg, das dadurch herrschende Misstrauen und die unterbrochenen Verbindungen über die Landesgrenzen hinweg unsere Kontakte, Lieferanten und Transportwege weg. Meine Frau zögerte lange mit der Entscheidung, ob auch wir, wie viele andere Unternehmer, in die deutsche Heimat zurückkehren sollen. Wir leben seit mehr als fünfzehn Jahren in Petersburg, Robert hat sein Studium zwar beendet, doch Oskar steckt noch mittendrin. Er weigert sich standhaft, Petersburg, entschuldigen Sie, Petrograd den Rücken zu kehren.«

Wolfs Blick war fragend auf Anki gerichtet, die längst verstanden hatte, was er ihr mitzuteilen versuchte.

»Robert deutete schon vor ein paar Wochen an, dass er dringend ins Kaiserreich zurückkehren muss, um dort einige Prüfungen abzulegen und seine Doktorarbeit zu beenden. Er benötigt die Zulassung als Arzt in beiden Ländern.« Anki blinzelte die in ihre Augen steigenden Tränen weg. »Sie brechen also demnächst auf?« Der Versuch, ihrer Stimme einen festen Klang zu geben, scheiterte kläglich. Der Gedanke an eine Trennung von Robert rumorte schmerzlich in ihrem Inneren.

Seine Mutter verstärkte den Druck ihrer Hand und lächelte sie traurig an. »Wir sind so dankbar, dass Robert in Ihnen eine Frau gefunden hat, die ihr Leben mit ihm teilen will. Wie grausam eine Trennung über so viele Kilometer und Landesgrenzen hinweg sein wird, vermag ich mir gar nicht vorzustellen. Aus diesem Grund möchte ich Ihnen Folgendes anbieten: Reisen Sie mit uns in unsere alte Heimat. Wir finden eine schickliche Lösung für Ihre Unterbringung, bis Sie beide verheiratet sind.«

Erstaunlicherweise war es Robert, der einen, wenn auch zaghaften Einwand erhob, wofür Anki ihn mit einem strahlenden Lächeln beschenkte. »Natürlich ist das nur ein Angebot. Wir wissen, wie fest verwurzelt du bei den Chabenskis bist, wie sehr die Kinder an dir hängen und dass ein solches Arbeitsverhältnis normalerweise nicht kurzfristig aufgegeben werden kann. Ich vermute aber, die Chabenskis lassen dich ziehen, wenn auch ungern. Allerdings versprach ich dir vor ein paar Wochen, dass ich dich in diese Richtung nicht bedrängen will. Solltest du bleiben wollen, zumindest, bis ein Ersatz für dich gefunden ist, wird mir das zwar schwerfallen, aber ich kann es verstehen und akzeptieren.«

»Die Fürstin sprach bereits mit ein paar Frauen, die sich für die Stelle als Kinderfrau vorgestellt haben, sie hat aber noch keine Entscheidung getroffen. Ich müsste sie natürlich erst fragen …« Anki brach ab, denn mit einem Mal wurde ihr bewusst, vor welch schwerwiegender Entscheidung sie stand. Auf sie würden gewaltige Umwälzungen zukommen, falls sie das gut gemeinte und großherzige Angebot der Buschs annahm. In Petrograd waren ihr das Leben, der Alltag und die Menschen so wunderbar vertraut; das Deutsche Reich erschien ihr im Gegensatz dazu gänzlich fremd. Sie fühlte sich im Palais der Chabenskis zu Hause; hier hatte sie drei Mädchen und die anderen Angestellten um sich, die ihr ans Herz gewachsen waren. Außerdem gab es da noch Ljudmila, die Anki nach dem verstörenden Erlebnis mit Rasputin dringend an ihrer Seite brauchte. In der Heimat der Buschs war sie eine Fremde, und vermutlich würde sie dies auch auf lange Sicht bleiben. Immerhin war Wolf gezwungen, dort mit seinem Architekturbüro ganz von vorn anzufangen. Dabei würde er viel Zeit in den Aufbau neuer Geschäftsverbindungen investieren müssen. Mathilde plante bestimmt, alte Freundschaften aufleben zu lassen, während Robert seine Energie in seine Prüfungen und Arbeit stecken musste und deshalb kaum Zeit für sie erübrigen konnte.

Anki kannte sich selbst gut genug, um zu wissen, dass sie ängstlicher Natur war. Jede Veränderung machte ihr erheblich zu schaffen. Wäre es nicht besser, in der ihr vertrauten Umgebung die Kriegswochen auszusitzen, um Robert nachzureisen, sobald er ein Heim für sie vorbereitet hatte? Womöglich würde er nach den absolvierten Prüfungen im Deutschen Reich seinen Platz an Dr. Botkins Seite hier in Petrograd wieder einnehmen …

»Wir möchten Sie nicht zu einem überstürzten Entschluss drängen«, unterbrach Mathilde das Schweigen, das sich über den Raum gesenkt hatte. »Am liebsten würde ich Ihnen sagen: Nehmen Sie sich alle Zeit, die Sie brauchen, um unseren Vorschlag gut zu überdenken und um den richtigen Weg zu beten. Bedauerlicherweise muss ich hinzufügen: Es wird immer schwieriger, das Land auf halbwegs geordnete Weise zu verlassen. Wir können Sie nicht nachkommen lassen, sobald Sie sich entschieden haben. Für eine alleinstehende Frau ist die Reise zu gefährlich!«

Anki nickte, obwohl ihre Gedanken wild in ihrem Kopf durcheinanderpurzelten. Es war ihr unmöglich, jetzt sofort eine Entscheidung zu fällen. »Wann werden Sie abreisen?«

»Man sagte uns, dass in fünf Tagen ein Zug mit ausreisewilligen Deutschen über die Grenze gelangen könnte. Ich hoffe, dabei bleibt es. Immerhin sind wir besser betuchten Familien ein nicht zu verachtendes Faustpfand in der Hand der Russen. Bisher scheint noch niemand auf diese Idee gekommen zu sein …«

»Damit bleiben dir noch ein oder zwei Tage zum Überlegen und Beten, Anki. Falls du dich dazu entscheidest, nicht mitzugehen, hole ich dich nach Ende des Krieges nach.« Robert sprach leise. Es fiel ihm sichtlich schwerer, ihr diese Entscheidungsfreiheit zu lassen, als er zuzugeben bereit war.

Ankis Herz erwärmte sich, als ihr bewusst wurde, wie groß seine Liebe, aber auch der Respekt war, den er ihr entgegenbrachte. »Gut, dann nehme ich mir diese Zeit des Betens und Prüfens.«

Mathilde drückte kräftig ihre Hand, ehe sie diese losließ, um Obst aufzutischen. Das Gespräch wandte sich anderen, zuweilen heiteren Themen zu, obwohl der Schrecken des zuvor Erlebten nach wie vor präsent war, was Anki nicht verwunderte. Das Ehepaar Busch, ebenso wie auch Robert, strahlte eine Gelassenheit aus, die sie zutiefst beeindruckte. Sie plante gern voraus und kam mit Veränderungen nur schwer zurecht. Obwohl sie weder ein aufbrausender Typ war noch nervös, fiel es ihr nicht so leicht, unangenehme Gegebenheiten stoisch hinzunehmen und das Beste aus ihnen zu machen. Diese Wesensart kam Robert als Arzt bestimmt zugute, überlegte sie und beobachtete ihn, der sich gerade höflich bei seinen Eltern dafür einsetzte, dass Oskar eine Mitreise nicht aufgezwungen wurde. Nach seinem Dafürsprechen sollte es seinem Bruder freigestellt sein, sich für die Fortführung seines Studiums hier in Petrograd entscheiden zu dürfen. Ob er damit erreichen wollte, dass zumindest ein Mitglied der Familie Busch in Ankis Nähe blieb, falls sie sich gegen den Vorschlag seiner Mutter entschied?

***

Mathilde umarmte Anki zum Abschied, was sie gern zuließ. Roberts Mutter musste man einfach mögen, und offenbar war Mathilde auch von ihr sehr angetan. Ehe Anki sich in den dunkelblauen Rolls Royce Silver Ghost helfen ließ, winkte sie Wolf zum Abschied zu, der in der Tür stehen geblieben war. Kurze Zeit später fuhr Robert über die Nikolaj-Brücke hinüber in den Admiralitäts-Rajon und zu der Straße an der Mojka.

Die Dunkelheit war so vollkommen, dass selbst das Meer aus elektrischen Lichtern in den Häusern und Palästen entlang des Kanals nicht ausreichte, um sie zu durchdringen, obwohl ihr Schein aus den Fenstern hinab auf die kalten Pflastersteine fiel.

Robert stoppte den Wagen, machte den Motor aus und lehnte sich zurück. Schweigend saßen die jungen Leute nebeneinander und blickten durch die Windschutzscheibe hinaus in den orangefarbenen Lichtkegel der nächsten Straßenlaterne. Sie bemerkten die frostige Kälte kaum, die sie umgab, waren ihre Gedanken und Sinne doch auf anderes ausgerichtet.

Schüchtern warf Anki Robert einen Blick zu. Seine Hände umklammerten das Lenkrad des Rolls Royce, während er den Blick starr geradeaus gerichtet hielt. »Robert?« Er wandte ihr das Gesicht zu, ohne jedoch die verkrampften Hände vom Steuer zu lösen. Zu Ankis Missfallen erlaubte ihr die unzureichende Beleuchtung nicht, seine Mimik zu deuten. »Ich danke dir, dass du mir die Entscheidung freistellst.«

»Glaube mir, Anki, ich würde dich gern zwingen, deine Habseligkeiten einzupacken und sofort mit mir zurück zu meinen Eltern zu fahren. Wie ein kostbares Juwel würde ich dich im Auge behalten und in ein paar Tagen mit nach Württemberg nehmen. Aber du hast das Recht, dass ich deine Wünsche respektiere. Ich liebe dich so, wie du bist. Auf keinen Fall möchte ich dich umformen, selbst wenn das vielleicht manchmal einfacher für mich wäre.«

Fasziniert beobachtete Anki die Atemwolken vor seinem Gesicht. Sie kamen stoßweise, da er seine Worte hart aussprach. »Wenn du dich für einen zügigen Abschied von den Chabenskis entschließen würdest, wäre ich sehr glücklich und wüsste, dass deine Entscheidung aus freien Stücken und aus Liebe zu mir gefallen ist. Tust du es nicht, ist mir bewusst, dass du alle Für und Wider sorgfältig abgewogen hast und mich dennoch liebst.«

Anki lächelte, als sie einen Hauch von Schalk in seiner Stimme hörte.

»In diesem Fall dürfte deine Liebe zu den Chabenski-Mädchen und eine große Portion Verantwortungsgefühl in deine Entscheidung mit eingeflossen sein. Und diese wunderbaren Wesenszüge an dir achte und respektiere ich.«

Einen Augenblick hielt Anki den Atem an und fragte sich, wie es sein konnte, dass dieser sensible, großartige Mann sich ausgerechnet in sie verliebt hatte. Womit verdiente sie dieses Glück?

»Ich brauche etwas Zeit«, murmelte sie schließlich, obwohl ihr Herz laut schrie, dass sie nirgends anders als in seiner Nähe sein wollte. Jetzt und für immer! Aber ihr Verstand riet ihr, die ihr verbleibenden Stunden zu nutzen, um ihre Entscheidung genau zu prüfen.

»Die bekommst du«, erwiderte er leise, ließ endlich das Lenkrad los und wandte sich ihr zu, soweit ihm das im Wagen gelang. »Aber eines will ich dennoch wissen. Gleichgültig, ob du mit uns nach Württemberg reist oder ob du hierbleibst, bis der Krieg in ein paar Wochen vorüber ist.«

»Ja?«

»Willst du meine Frau werden?«

Anki stutzte. War ihm das denn nicht längst klar? Er wusste doch, dass sie ihn liebte. Sie würde keinen Mann küssen und sich von ihm umarmen lassen, ohne sicher zu sein, dass sie dieses Geschenk dem Mann gab, der für den Rest ihres Lebens als Ehemann an ihrer Seite sein würde.

Auf ihr verwirrtes Schweigen hin rutschte Robert näher zu ihr, sodass sie in seinem Gesicht endlich mehr als nur graue Schatten sah, obwohl die Fahrzeugscheiben inzwischen von innen beschlagen waren. Zu ihrer Verwunderung lächelte er.

»Ich kenne die Antwort, meine Liebe. Aber ich will dir hiermit einen offiziellen Heiratsantrag machen. Ich möchte es aus deinem Mund hören, damit ich mich daran erinnern kann, falls du dich zum Bleiben entscheidest. Schau«, er senkte den Kopf, kramte mit einer Hand in seiner Westentasche und streckte ihr dann die Handfläche entgegen. Im Licht der Straßenlampe blitzte ein kleiner weißer Diamant an einem sanft schimmernden Goldring auf.

»Oh, Robert!«, entfuhr es Anki. Eine heiße Welle puren Glücks floss durch ihren Körper.

»Ich warte noch immer ungeduldig auf eine Antwort, Anki van Campen.«

»Dann will ich dich nicht länger warten lassen. Ja, Robert Busch. Ich möchte dich heiraten, denn ich liebe dich von ganzem Herzen.« Ihre Worte waren nur ein Flüstern, obwohl sie sich ihrer Sache vollkommen sicher war. Doch dieser Augenblick erschien ihr so entscheidend, so unbeschreiblich wichtig und berauschend, dass sie etwas in sich spürte, das sie nur Ehrfurcht nennen konnte.

Robert schloss die Hand mit dem Ring zu einer Faust, fasste mit der anderen in ihren Nacken und zog sie an sich, um sie federleicht zu küssen.

Ein Zittern durchlief ihren Körper, das sie nicht der Kälte zuschrieb. Vielmehr war es, als durchbreche eine zarte Pflanze die verkrustete Erde, die bis jetzt alle ihre Gefühle umschlossen hatte. Sie brach sich Bahn, lockerte den Boden und erblühte zu einer wunderschönen Blume. Hatte sie diesen Schutzpanzer aufgebaut, nachdem Tilla sie einweihen musste, was zu Hause in Koudekerke geschehen war? Oder hatte Gott ihre Sehnsucht nach körperlicher Nähe zu einem Mann, dieses unbeschreiblich große Gefühl der Zusammengehörigkeit, sorgsam in ihr verborgen, damit sie es nicht leichtfertig verschwendete, sondern für den Mann aufhob, der sie um ihre Hand bat?

Roberts Gesicht blieb dicht vor ihrem, als er ihr zuraunte: »Ich danke dir. Du machst mich zum glücklichsten Mann von ganz Petersburg … nein, Petrograd. Ich hasse diesen dämlichen neuen Namen!«, stieß er noch hervor, ehe er sie leidenschaftlich küsste.

***

Wie berauscht vor Glück reichte Anki Jakow ihren warmen Mantel und das Tuch, das sie sich um Hals und Kopf geschlungen hatte. Dabei ignorierte sie seinen fragenden Blick, denn sie ahnte, wie rot ihre Nase vor Kälte, ihre Wangen aber vor Aufregung waren.

»Ich habe eine Nachricht für Sie. Ein Bote der Zoraws brachte sie vor gut zwei Stunden.«

»Eine Nachricht von Ljudmila Sergejewna?«

»Ich nehme es an.« Jakow verschwand für einen Augenblick, war aber schnell wieder bei ihr und überreichte ihr einen mit Seidenpapier gefütterten Briefumschlag. »Ihre Hoheit, die Fürstin, wartet im Weißen Salon auf Sie.«

»Es gab doch keine Probleme mit den Kindern, während ich fort war? Katja ist doch nicht krank?«

Ein freundliches Lächeln traf Anki und erleichtert atmete sie auf. Offenbar war ihre Sorge um die kränkliche Katja oder ein ungebührliches Verhalten der Mädchen in ihrer Abwesenheit unbegründet.

»Ihren Schützlingen geht es ausgezeichnet. Gehen Sie nur hinauf.«

»Danke, Jakow. Ist Alex gut zurückgekommen?«

»Alex? Ja.« Jakow warf ihr einen verwunderten Blick zu. Natürlich stand Jakow seiner Stellung entsprechend weit über dem Kutscher, weshalb ihn dessen Befinden im Grunde nicht interessierte, noch weniger tangierte es aber das Kindermädchen.

»Es gab Unruhen in der Stadt«, erklärte sie ausweichend, und dem alten Mann genügte dies als Erklärung. Erneut schenkte er ihr dieses fast liebevoll anmutende Lächeln.

Anki wünschte ihm eine gute Nacht und betrat die Treppe, die sie hinauf auf die Galerie im ersten Stock führte. Ihre Gedanken verweilten noch immer bei Alex. Ob er von den drohenden Unruhen gewusst hatte? War er einer derjenigen, die die noch verbliebenen Deutschen aus Russland hinauswerfen wollten? Oder hing der Protest des heutigen Abends in irgendeiner Weise auch mit den revolutionären Umtrieben im Untergrund von Petrograd zusammen? Sie konnte sich darauf keinen Reim machen, aber das Verhalten des Kutschers beunruhigte sie ebenso wie das von Oskar.

Vor der Tür zu ihrem Lieblingszimmer angelangt überprüfte Anki ihre Kleidung. Bis auf einen vernachlässigbaren Fleck auf ihrem Rock, der vermutlich von dem Moment herrührte, als Robert sie zum Schutz vor den Steinewerfern unter den Tisch gezerrt hatte, war sie gut genug gekleidet, um mit der Hausherrin zu sprechen.

Zu Ankis Verwunderung empfing die Fürstin sie in einem weißen Spitzennachthemd, über das sie einen wertvollen asiatischen Seidenmorgenmantel in leuchtendem Orange gezogen hatte. »Fräulein Anki, ich hoffe, Sie hatten einen vergnüglichen Abend?«

Anki nickte lächelnd und setzte sich nach einer einladenden Geste der Fürstin auf einen weißen Holzstuhl. Ihr Abend war tatsächlich angenehm harmonisch verlaufen, trotz des Überfalls auf die Familie Busch, und er hatte bis jetzt ein wundervolles Ende gefunden. Allerdings fragte sie sich, was die Fürstin ihr zu dieser späten Stunde noch mitzuteilen wünschte. Ihr Lächeln sollte Anki wohl beruhigen, aber wie schon die Tage zuvor stellte sie erneut besorgt fest, dass die Dame ungewohnt blass aussah.

»Da es Sie als unser Kindermädchen ebenfalls betrifft, weihe ich Sie heute in ein kleines Geheimnis ein, das ich seit ein paar Tagen mit einem ausgesuchten Personenkreis teile.«

Mehr als zu nicken fiel Anki nicht ein, zumal ihre Gedanken in alle möglichen Richtungen davonzuspringen schienen. Planten die Chabenski wieder eine längere Reise zu unternehmen? Wie damals, als sie ihre niederländische Heimat besucht hatten? Der Krieg würde derlei Pläne jedoch erschweren, wenn nicht sogar zunichtemachen, zumal Oberst Chabenski beim Militär kaum abkömmlich war. Womöglich hatte die Familie eine neue Kinderschwester gefunden? Weiter kam Anki in ihren Überlegungen nicht, da die Fürstin ihre Aufmerksamkeit einforderte.

»Sie bekommen in absehbarer Zeit etwas mehr Arbeit und dürfen bald wieder ununterbrochen einem Kleinkind hinterherlaufen.«

Anki öffnete den Mund, dann schloss sie ihn wieder und lächelte freudig und verwundert zugleich. »Hoheit …?«

»Der Fürst und ich werden vielleicht doch noch mit einem Stammhalter beschenkt. Ist das nicht aufregend?«

»Es ist wunderbar, Hoheit. Ich gratuliere!« Anki strahlte über das ganze Gesicht, bis ihr einfiel, dass sie nicht mehr lange das Kindermädchen der Chabenskis sein würde. Gleichgültig, welche Entscheidung sie traf, bei der Geburt des neuen Chabenski-Kindes würde sie keine Angestellte dieses Haushalts mehr sein. Ihr Stimmungsumschwung entging auch der Fürstin nicht, wie die plötzlich zusammengepressten Lippen der Frau verrieten.

»Dr. Busch hat Sie gebeten, ihn zu heiraten, nicht wahr?«

Zwischen ihren widerstreitenden Gefühlen hin und her gerissen nickte Anki, wobei sie den Ring an ihrem Finger betrachtete. Wenngleich die Glückwünsche zu ihrer Verlobung der Fürstin spürbar von Herzen kamen, konnte sie nicht verhehlen, wie schwer ihr bei dem Gedanken war, ihre Njanja bald zu verlieren.

»Ich bemühe mich weiter darum, einen angemessenen Ersatz für Sie zu finden. Aber mir bricht der Gedanke, Sie zu verlieren, fast das Herz. Und an meine drei Mädchen mag ich gar nicht denken. Dennoch: Mir und dem Fürsten war immer klar, dass ein so bezauberndes, liebenswertes Mädchen uns eines Tages von jemandem weggeschnappt wird. Allerdings hoffte ich auf einen Landsmann, damit Sie zumindest in unserer Nähe bleiben.«

Die Fürstin senkte den Kopf, und Anki meinte, Tränen in ihren Augen zu sehen. Ihr Herz zog sich vor Freude und Schmerz zugleich zusammen. Der Gedanke, dass die Frau sie so sehr ins Herz geschlossen haben könnte, dass sie allein bei der Aussicht auf ihren Abschied Tränen vergoss, war ihr nie gekommen. Vielleicht lag ihr Gefühlsausbruch aber auch an ihrer Schwangerschaft. Allerdings empfand auch Anki ein erstes schmerzliches Anzeichen dafür, wie tief ihre Trauer sein würde, wenn sie dieser Familie einmal den Rücken zukehrte.

War es nicht sinnvoller, das sicher baldige Ende des Krieges in Petrograd abzuwarten, mit der Option, dass Robert nicht im Deutschen Reich blieb, sondern zurückkehrte?

»Es ist noch nicht entschieden, wo wir leben werden«, versuchte Anki die Frau zu trösten. Als diese den Kopf hob, hatte sie sich zwar wieder unter Kontrolle, doch ihr Gesicht wirkte noch eine Spur fahler als zuvor. »Sie sollten sich hinlegen, Hoheit. Ich habe den Eindruck, Sie sind nicht ganz auf der Höhe.«

»Es sind die üblichen Probleme in der frühen Schwangerschaft. Aber ich beherzige Ihren Rat.« Mühsam stemmte die Fürstin sich aus dem weichen Sessel.

Anki sprang ebenfalls auf die Füße. »Nochmals meinen Glückwunsch, Hoheit. Ich freue mich sehr mit Ihrer Familie.«

»Ich danke Ihnen. Gute Nacht.«

Anki wartete, bis die Frau die Tür hinter sich geschlossen hatte, ehe sie auf ihren Stuhl zurücksank. Ihre Schultern hoben sich weit, als sie tief durchatmete. Die Ankündigung eines vierten Chabenski-Kindes machte ihr ihre Entscheidung nicht leichter.

Nachdenklich ließ sie die Augen durch den Raum schweifen, bis sie den grässlichen Schrumpfkopf entdeckte. Schnell senkte sie den Blick und schaute auf Ljudmilas Brief in ihren Händen. Sie öffnete den Umschlag, wobei ihr beim Anblick der zittrigen Schrift und der verschmierten Buchstaben ein heißer Schreck in die Glieder fuhr. Allein das Äußere des Schriftstücks ließ sie vermuten, Ljudmila hätte bei der Niederschrift Tränen vergossen. Ihre Hand bebte, als sie las, dass Rasputin zurückgekehrt war und tatsächlich die Dreistigkeit besessen hatte, Ljudmila um ein Gespräch zu bitten. Die Eltern der Komtess waren auswärts essen gewesen, weshalb ein Bediensteter den Starez eingelassen hatte.

Ljudmila schrieb, dass sie kurz davorgestanden habe, sich aus dem Fenster zu stürzen, nur um den Mann nicht sehen zu müssen. Doch dann habe sie sich in ihrem Zimmer eingeschlossen, ihr Grammophon laut gestellt und auf die Rückkehr ihrer Eltern gewartet. Als der Graf und seine Frau eintrafen, sei Rasputin schon nicht mehr im Haus gewesen.

Diese Nachricht, so schrieb Ljudmila, verfasse sie nun, nachdem sie bereits einiges an Beruhigungsmitteln eingenommen habe, aber dennoch nicht schlafen könne. Anki starrte auf die verschwommenen Buchstaben. Sie waren ein einziger Hilfeschrei!

Betroffen ließ sie die Hand mit dem Brief in ihren Schoß sinken und schloss die Augen. Was konnte sie zu dieser späten Stunde anderes tun, als für einen gnädigen Schlaf und innere Heilung für Ljudmila zu beten? Zum ersten Mal wünschte sie sich, die Chabenskis hätten sich ebenfalls eine Telefonanlage angeschafft. Seufzend stand Anki auf und trat ans Fenster. Die Mojka wälzte sich schwarz durch ihr künstliches Bett und wurde nur hier und da vom goldenen Schein einer Straßenlaterne beleuchtet. Obwohl noch kein Schnee lag, vermittelte diese Oktobernacht eine erste Ahnung von der Totenstarre, die der Stadt im nahenden Winter bevorstand. Die Kanäle würden zufrieren und sogar auf der Großen Neva konnten sich haushohe Eisschollen aufeinandertürmen, während der frostige Atem des Winters Eisblumen an Fensterscheiben malte und die Äste der Bäume und Sträucher in weiße Fabelgestalten verwandelte.

Anki hegte die Vermutung, dass es in Ljudmilas Herz nicht anders aussah: eisige Kälte, graue Mauern und die Furcht, dass selbst die letzten mühsam erhaltenen Reste von Hoffnung und Liebe in ihr absterben würden.

In diesem Augenblick fiel Ankis Entscheidung, obwohl es ihr das Herz entzweizureißen drohte. Sie durfte jetzt weder die Chabenskis noch Ljudmila im Stich lassen. Sie wurde hier gebraucht! Mehr als Robert sie brauchte, zumal die anstehenden Prüfungen ihn ohnehin völlig zu vereinnahmen versprachen. Bei ihren vielfältigen Aufgaben verflog die Zeit bestimmt wie im Fluge. Die Militärs und Politiker sagten, der Krieg sei an Weihnachten, spätestens zu Beginn des neuen Jahres zu Ende, und dann würden sie sich wiedersehen!

23 Heute: Blagoweschtschenski-Brücke

24 (Milch-)Reiskuchen, holländisches Backofengericht