Kapitel 21

An der Aisne, Frankreich,
September 1914

Mehrere in rascher Abfolge krachende Explosionen ließen Hannes den Kopf drehen. Seine Männer und er befanden sich im Aufstieg auf einen Hügelkamm nördlich der Aisne und somit konnte er auf die Brücke hinabsehen, die sie vor etwa einer halben Stunde passiert hatten. Die Konstruktion aus Holz und Stein sackte soeben in sich zusammen, als sei sie es leid, schwere Lasten tragen zu müssen, und verschwand in einer Wand aus schwarzem Rauch und aufspritzendem Wasser. Von flussabwärts drangen ähnliche Geräusche, wenn auch leiser zu ihm und er nickte befriedigt. Womöglich würde es ihnen nicht gelingen, rechtzeitig alle Brücken über den Fluss zu sprengen, doch jeder fehlende Übergang bedeutete ein logistisches Problem für die sie verfolgenden Truppen. Allerdings war bisher weder von den Briten noch von den Franzosen etwas zu sehen. Ob der plötzliche Rückzug des deutschen Heers für sie zu überraschend gekommen war?

Mittlerweile war sein Zug weit vorgerückt und Hannes beeilte sich, an anderen Soldaten der Kompanie vorbei wieder zu ihm aufzuschließen.

Mit dem Daumen deutete Waldmann, der wie üblich den Schluss der Truppe bildete, über seine Schulter und murmelte: »Wir machen es ihnen schwer, den Fluss zu überqueren. Uns selbst aber ebenfalls!«

Hannes warf einen Blick auf die wie das Gerippe eines Dinosauriers aus den Fluten ragenden Brückenträger und musste seinem Feldwebel recht geben. Ihr Ziel war es doch eigentlich, Paris einzunehmen. Mit der Sprengung der Übergänge hielten sie zwar ihre Verfolger eine Zeit lang auf, doch auch sie mussten auf Behelfsbrücken ausweichen, wenn sie irgendwann wieder vorwärtsmarschieren und den Feind vor sich hertreiben wollten.

Der Leutnant blieb Waldmann eine Antwort schuldig, was diesen aber nicht störte. Für eine weiterführende Diskussion fehlte dem Spieß ohnehin die Puste. Knapp unterhalb des Hügelkamms waren einige mit Spitzhacke und Schaufel bewaffnete Einheiten bereits dabei, Schützengräben auszuheben. Zufrieden betrachtete Hannes die Umgebung. Dieser Platz war strategisch geschickt gewählt, um dem nachrückenden Feind einen heißen Empfang zu bereiten. Dank der übersichtlichen, erhöhten Stellung auf dem Hügel würde eine Verteidigung spielend gelingen.

Als letzter seiner Männer erklomm Hannes den Bergrücken, auf dessen Anhöhe ein rotgesichtiger Bubi auf ihn wartete. »Ich kenne mich hier aus, Herr Leutnant«, rief er fast enthusiastisch. »Dieser Hügelkamm nennt sich Chemin des Dames. Sehen Sie, hier führte eine Straße entlang, die Ludwig XV. eigens für seine Töchter anlegen ließ, damit sie mit ihren Kutschen Ausfahrten unternehmen konnten.«

Mit einem Blick über die grüne, hügelige Landschaft, den blauen Flusslauf und die sich der warmen Septembersonne entgegenreckenden Bäume attestierte Hannes dem alten französischen Herrscher einen ausgezeichneten Geschmack. Die Aussicht war grandios. Für einen Moment überfiel ihn das Bild der Sümpfe bei St. Gond an der Marne, das er kurz vor ihrem Rückzug gesehen hatte, wie eine düstere Vision: aufgewühlte und von Kratern zerfressene nackte Erde, auf der kein Grashalm mehr wuchs; Bäume, von denen lediglich die Stümpfe übrig waren, und dazwischen ein Teppich aus Soldatenleichen. Ob diese wunderschöne Landschaft an der Aisne ebenso trostlos und verödet aussehen würde, wenn die Armeen ihr wieder den Rücken kehrten?

Noch während er bekümmert dieser Überlegung nachhing, sah er Theodor auf sich zukommen. Sein Freund aus Kadettentagen führte einen kräftig gebauten Braunen am Zügel und betrachtete ebenfalls den Flusslauf im Tal. Ob er ihn aufgrund seiner Schönheit bewunderte, oder sah auch er nur die strategischen Vorzüge, die diese Gegend hergab?

»Bubi?«, sprach Hannes den Jüngsten seiner Einheit an.

»Herr Leutnant?«

»Es ist gut zu wissen, dass du dich hier auskennst. Das könnte von Vorteil sein. Für heute hilfst du dem Feldwebel, eine akzeptable Unterkunft zu finden!«

»Jawohl, Herr Leutnant!«

Hannes blieb zurück und begrüßte einen Augenblick später den Hauptmann. Dieser blickte dem Zug nach und meinte: »Du hast sie gut im Griff.«

»Es sind tolle Kerle.«

»Vielleicht, weil sie einem Führer unterstehen, der ein toller Kerl ist und dem sie vertrauen.«

»Ich hoffe es, Theodor, denn ich plane, diesen Krieg mit möglichst geringen Verlusten zu überstehen.«

Theodor schenkte ihm ein Lächeln und wandte sich dem vor ihnen liegenden Tal zu. »Die Entente-Truppen19 sind laut einem Aufklärungsflieger noch weit entfernt. Sie haben nicht mit einem Rückzug unsererseits gerechnet.«

»Dann hätten wir ihn nur antäuschen sollen?«

»Der offene Keil zwischen Bülows und Klucks Armee betrug zwischen dreißig und vierzig Kilometer und die Entente stieß bereits in diese Lücke vor. Wir durften nicht riskieren, dass sie uns aufspalten und umfassen.«

Hannes warf seinem Freund einen fragenden Blick zu. Aus seinen Worten glaubte er Unwillen herauszuhören. Hätte Theodor anders gehandelt? Womöglich – immerhin war er ein gescheiter Kopf und hatte die Akademie mit Auszeichnung abgeschlossen. Andererseits konnte auch er nichts gegen den fehlenden Nachschub und die zeitraubenden Wege zwischen der Obersten Heeresleitung und den Befehlsempfängern ausrichten. Offenbar hatte niemand damit gerechnet, dass sie an einem Tag so viel Munition verbrauchen würden wie im gesamten Krieg 1870/71. Die Lage war verfahren und nun versuchte man den Karren aus dem Dreck zu ziehen.

»Hast du in den letzten Tagen Post erhalten?«, wechselte Theodor das Thema und kramte dabei in der Satteltasche seines Pferdes.

»Bei uns kam nichts an. Und ganz ehrlich: Im Moment wäre uns allen eine anständige Mahlzeit lieber!«

Sein Freund nickte ihm ernst zu, suchte weiter und zog endlich eine Ausgabe der Vossischen Zeitung hervor. Er schlug sie auf und reichte sie Hannes. »Eine Verlobungsannonce. Sie interessiert dich bestimmt.«

Neugierig überflog Hannes die aufgeschlagene Seite und fand die Anzeige, die der Adjutant mit einem Bleistift markiert hatte. Seine Augen weiteten sich, als er von der Verlobung von Philippe und Demy las. Sofort sah er das junge rundliche Gesicht der Niederländerin vor sich, ihre blitzenden blauen Augen und das dunkle, widerspenstige Kraushaar. Er hörte ihr vergnügtes Lachen und dabei seine eigenen Worte, die er erst vor Kurzem an Theodor gerichtet hatte: Ich hoffe, sie lässt sich niemals wieder so ausnutzen, wie ich sie ausgenutzt habe. Schmerz und Schreck vermischten sich mit Schuldgefühlen. War Demy erneut ein Opfer der rigorosen Verkuppelungsversuche seines Vaters geworden?

»Lese ich Erstaunen über die Anzeige in deinem Gesicht?«

»Erstaunen?« Hannes stieß das Wort förmlich hervor. »Demy konnte Philippe nie leiden! Und ich glaube nicht, dass der Vagabund und sie in den letzten Wochen viel Gelegenheit hatten, sich besser kennenzulernen, da Philippe Berlin meidet und Demy die Stadt schwerlich verlassen kann, außer sie begleitet ihre reisehungrige Schwester.«

»Der Vagabund und die Begleitung der reiselustigen Schwester könnten sich im Ausland getroffen haben.«

Hannes zog die Schultern hoch und betrachtete noch mal die verzierten Buchstaben und die mit Ornamenten eingefasste Annonce.

»Möglich ist das natürlich. Ich vermute jedoch vielmehr …« Er brach ab und stieß einen derben Kraftausdruck aus. Was hatte er Demy nur angetan? Es war seine Schuld, dass sie in Berlin noch immer als die verprellte Jungfer galt und junge Männer sich Gedanken darüber machten, weshalb ein Meindorff ihr eine mittellose Frau und den damit verbundenen Skandal samt der Trennung von der Familie vorgezogen hatte. Er war es gewesen, der das hilfsbereite Mädchen dazu überredet hatte, ihm diesen Gefallen zu tun und während er glücklich verheiratet war, litt sie seit sechs Jahren unter diesem Plan.

»Meine arme Demy«, murmelte er gegen den leichten Wind an, der über die Hügel strich und den Bäumen ein verhaltenes Rauschen entlockte.

»Arme Demy? Ich dachte, es freut dich zu hören, dass sie endlich einen Mann gefunden hat.« Theodor nahm ihm die Zeitung aus der Hand.

»Demy und Philippe haben sich von ihrer ersten Begegnung an Wortgefechte geliefert«, erzählte Hannes. »Mein Ziehbruder kann furchtbar arrogant und selbstgefällig sein, zudem ergießt er seinen Spott gerne über Leute, die es ihm dahingehend leicht machen.«

»Aber doch nicht, wenn es sich dabei um eine Frau handelt!« Theodor sah ihn entsetzt an, und Hannes lachte bitter auf.

»Philippe leistet sich ein absolut gestörtes Verhältnis zu Frauen. Früher konnte er nicht die Finger von ihnen lassen, dann verliebte er sich in Deutsch-Südwest in eine Schwarze, die vor seinen Augen ermordet wurde. Seither ist er, was das weibliche Geschlecht betrifft, enthaltsamer als ein Mönch. Zumindest gibt er sich so. Vielleicht ist er auch einfach nur vorsichtig geworden, was seine Frauengeschichten anbelangt. Demy war damals ein gefundenes Fressen für ihn. Er verdächtigte sie sogar, sie habe mit ihrer Altersangabe geschummelt und sei viel jünger, als sie zu sein vorgab. In seinen Augen focht er seine Dispute mit einem frühreifen Kind aus, nicht mit einer jungen Dame!«

Hannes verfiel in Schweigen, versunken in der Überlegung, ob Demy und Philippe sich mittlerweile angefreundet haben könnten. Doch diese Vorstellung war einfach zu absurd. Der Gedanke, dass sein Vater einmal mehr die Finger im Spiel hatte, lag dagegen sehr nahe. Immerhin hatte der im Jahr 1908 auf eine Verlobung zwischen Demy und Hannes gedrängt, um Edith aus Hannes’ Leben zu verbannen.

Hannes wusste seinen Ziehbruder seit Längerem in Schwerin, gelegentlich auch in Johannistal. Philippe war mittlerweile ein vor allem vom weiblichen Geschlecht umschwärmter Pilot – und von denen gab es nicht viele. Er entwarf und baute für diesen großspurigen Holländer Fokker Flugzeuge. Seltsam an der undurchsichtigen Angelegenheit fand Hannes allerdings, dass Philippe, der sich bisher vehement gegen eine arrangierte Ehe zu Wehr gesetzt hatte, dieser Verlobung zugestimmt haben musste. Dabei hatte er sich vor Jahren sogar eigens nach Deutsch-Südwestafrika versetzen lassen, um einer Zwangsehe zu entkommen. Welches Druckmittel hatte der Rittmeister in der Hand, das Philippe zwang, nun doch eine von seinem Ziehvater ausgesuchte Braut anzuerkennen?

Dass es dem alten Meindorff nicht passte, Demy und ihre jüngeren Geschwister in seinem Haus zu beherbergen, wusste Hannes von den Betroffenen selbst. Demy hatte Edith einmal in einer schwachen Minute unter Tränen gestanden, dass der Rittmeister ihr unmissverständlich das Gefühl gab, ein lästiger Eindringling zu sein. Er hielt sie für eine Schmarotzerin, die sich mit ihren beiden Geschwistern auf seine Kosten ein leichtes Leben machte. Im Grunde wartete Demy seit geraumer Zeit darauf, dass er sie vor die Tür setzte. Warum er das bisher noch nicht getan hatte, konnte sie nur vermuten. Vielleicht war Tillas Einfluss auf ihren Mann doch größer, als sie dachten.

Hannes rieb sich mit der Hand über sein nachlässig rasiertes Kinn. Hatte sein Vater durch Philippes Rückkehr eine Gelegenheit gewittert, sowohl seinen aufmüpfigen Pflegesohn als auch den ungeliebten Anhang seiner Schwiegertochter in seinem Sinne zu verbandeln? Für ihn bedeutete Philippes Rückkehr nach Berlin die Gefahr von neuen Skandalen, die auf ihn und seine Familie zurückfallen würden. Schlug der Rittmeister mit dieser Verlobung zwei Fliegen mit einer Klappe – wobei er wieder einmal rücksichtslos über die Gefühle und Wünsche der betroffenen Menschen hinwegging?

»Hannes?«

Er hob den Kopf und sah in besorgt dreinblickende, dunkle Augen.

»Das ist alles meine Schuld. Es ist ein paar Monate her, seit ich zuletzt mit meinem Pflegebruder gesprochen habe. Nun fürchte ich, dass sich Demy in keiner besseren Situation befindet als damals. Philippe wird seinen Vorteil daraus ziehen, vielleicht erhofft er sich einen raschen Aufstieg bei Fokker, der ja wie Demy aus den Niederlanden stammt. Vermutlich wird er eines Tages in eine dieser klapprigen Holzkisten steigen und davonfliegen. Demy bietet sich eine solche Möglichkeit der Flucht nicht!« Zornig auf sich selbst, auf Philippe und seinen Vater kickte er einen Stein die Böschung hinunter.

»Du denkst also, diese bezaubernde junge Frau liebt deinen Pflegebruder nicht, sondern wird von deinem Vater verschachert und von Philippe Meindorff schamlos ausgenutzt?«

Hannes sah die Zornesfalten auf der Stirn seines Gesprächspartners. Hegte Theodor mehr als nur Bewunderung für Demy, seit er sie bei Hannes’ und Ediths heimlicher Hochzeit kennengelernt hatte? Die beiden hatten sich damals ausgezeichnet verstanden …

»Natürlich kann ich das nicht mit Gewissheit behaupten, aber eine Liaison zwischen Demy und Philippe ist geradezu undenkbar!«

»Gut!« Theodor stopfte die Vossische Zeitung zurück in die Satteltasche. Schweigend reihten sie sich in die lange Schlange marschierender Soldaten und aufgeprotzter Geschütze ein. Es war alles gesagt.

19 Entente cordiale: Ein ursprünglich zwischen dem Königreich England und Frankreich geschlossenes Abkommen zur Lösung ihres Konfliktes in den Kolonien Afrikas. Sie wurde durch den Beitritt Russlands zur Triple Entente und damit zu einer der kriegsführenden Parteien des Krieges.