Kapitel 35

Berlin, Deutsches Reich,
April 1915

Demy warf einen Stapel Briefe auf den Schreibtisch des Hausherrn und brachte damit ein paar andere Papiere zum Rascheln. Sie wischte ihre Hände an ihrem dunkelblauen Rock ab, als sei der Inhalt der Post nicht nur bedrohlich und unverständlich für sie gewesen, sondern nahezu ekelerregend.

Mit großen Schritten, die nichts von der Anmut zeigten, die ihre Gouvernante ihr in langen Übungsstunden beigebracht hatte, verließ sie das Arbeitszimmer und trat in die nur schummerig beleuchtete Halle. Obwohl Maria und sie allen Hausbewohnern eingebläut hatten, sparsam zu haushalten, fehlte es ihnen ständig an Bargeld. Aber selbst wenn es anders gewesen wäre, war es in diesem zweiten Kriegsjahr nahezu unmöglich, an ausreichend Lebensmittel und Gebrauchsgüter zu kommen. Es gab einfach nicht genug!

Und nun flatterten auch noch Mahnungen, Kündigungen von Geschäftsbeziehungen und allerlei andere Post mit rechtlichen Angelegenheiten ins Haus. Niemand fühlte sich für diese Flut an schlechten Nachrichten zuständig. Der Rittmeister hütete seit knapp zwei Wochen wieder das Bett, mit der strikten Anordnung des Arztes, dieses nur für einige Minuten am Tag zu verlassen. Joseph ignorierte offenbar ihre postalischen Hilferufe und Philippe war laut einem Telegramm von Anthony für ein paar Wochen nicht zu erreichen. Ihre Schwester, die eigentlich dem Haushalt vorstehen sollte, weilte in Österreich.

Demy stand allein inmitten des großen Foyers und betrachtete die kerzenlosen Kronleuchter an der hohen Stuckdecke. Hatte sie sich vor Monaten noch als das ungeliebte und nutzlose Anhängsel von Tilla gefühlt, erschien ihr die Verantwortung, die sich mittlerweile scheinbar wie von selbst auf ihre Schultern legte, als zu schwer, um sie tragen zu können. Erneut überlegte sie, ob sie Hannes von ihren Problemen schreiben sollte. Der Leutnant war seit seiner Genesung wieder aktiv an der Front, hatte ihr aber neulich schon signalisiert, dass er die Männer seines Zuges nicht aufgeben würde. Vor allem nicht, um die Verantwortung für das Haus Meindorff zu übernehmen, auf die er nicht vorbereitet worden war, ja die man ihm jahrelang willentlich vorenthalten hatte. Demy fühlte sich allerdings nicht in der Lage, sich auch noch um die beiden Betriebe der Meindorffs zu kümmern, ganz abgesehen davon, dass man ihr das als Frau, dazu als nicht zur Familie gehörend, niemals gestatten würde. Ihr war sehr wohl bewusst, dass die Familie Meindorff in der Gefahr stand, alles zu verlieren, was sie sich über Jahrhunderte hinweg aufgebaut hatte. Die Hartherzigkeit des Patriarchen, der Eigensinn des Erben sowie der Krieg hatten dabei im gleichen Maße Anteil.

Demy zuckte die Schultern, wobei das Rascheln ihrer Bluse in der Stille ungewöhnlich laut klang. Leider durfte ihr die Entwicklung nicht gleichgültig sein. Tilla war jetzt eine Meindorff und auch Rika und Feddo lebten in diesem Haus. Außerdem fühlte Demy sich für die noch verbliebenen Angestellten verantwortlich, ganz zu schweigen von den heimlichen Gästen, die sie seit Monaten im Angestelltentrakt untergebracht hatte. Den Scheffler-Zwillingen und Hannes’ Töchtern waren Pauline und Irma gefolgt. Lina und Margarete hatten die beiden Zwölfjährigen beim Betteln in der Nähe des Wertheim-Kaufhauses angetroffen und sie auf Demys Vorschlag hin zu ihr gebracht. Für die Kosten ihrer Verpflegung kamen die Freundinnen auf.

Eines Tages hatte Demy den mittlerweile siebenjährigen Nathanael mitgebracht, ihr Findelkind aus der Anfangszeit in Berlin. Die Lage im Waisenhaus hatte sich durch den Krieg dramatisch verschlechtert; die Gelder für die soziale Einrichtung blieben aus, da ihre Unterstützer im Krieg waren. Einige der Erzieherinnen arbeiteten inzwischen in Munitions- und Waffenfabriken.

Vor einer Woche dann hatte Maria einen alten Herrn eingeladen, für die Dauer des Krieges bei den Meindorffs unterzukommen. Viktor Bauer war ein ehemaliger Patient ihres verstorbenen Mannes. Für die Arbeit oder den Krieg war er zu alt und die Unterstützung, die er erhielt, reichte bei den inflationären Preisen nicht zum Leben aus. Zuletzt hatte er seine Mietwohnung verloren.

Das Klacken der Eingangstür ließ Demy herumfahren. Sie war an diesem Tag spät dran, die Türen zu verschließen. Berlin war noch unruhiger und unsicherer geworden, als es vor Jahren schon gewesen war. Wie leicht konnte sich ein ungebetener Gast Zutritt zum Haus verschaffen!

Demy zog sich in eine Fensternische zurück, ließ jedoch die Treppe zum Vorfoyer nicht aus den Augen. Der braune Samtvorhang, der die Nische einrahmte, schmiegte sich warm und weich an ihre Wange, und Demy wartete beunruhigt darauf, was geschah.

Die Schritte einer Person mit Schuhen und einer anderen, deren Füße nackt auf das Parkett patschten, näherten sich durch das kleinere Foyer den drei Stufen. Demy reckte ihren Kopf hinter dem Vorhang hervor und erkannte im sanften Licht der einzelnen Wandlampe Hennys feuerroten Haarschopf. Neben ihr tappte ein Mädchen die Treppe hinauf, das Demy auf fünfzehn Jahre schätzte. Allerdings konnten der magere Körper und ihre notdürftig zusammengestückelten Kleidungsstücke auch täuschen, was das Alter betraf. Das Mädchen drückte ein Bündel an sich, in dem Demy ein paar Habseligkeiten vermutete. Sie trat aus der Fensternische und sah, wie das Mädchen furchtsam zurückschreckte.

»Keine Angst, Monika. Das ist Demy, von der ich dir erzählt habe.« Energisch schob Henny das Mädchen auf die Niederländerin zu. Seit dem Rittmeister die Kräfte fehlten, Henny auf ein Schäferstündchen zu sich zu befehlen, blühte das Dienstmädchen sichtlich auf und eine Energie, Fantasie und Eigeninitiative trat zutage, die Demy erstaunte, aber auch freute. Nur das düstere Grübeln, in das Henny gelegentlich verfiel, und die geballten Fäuste, wenn die Rede auf Meindorff kam, deuteten auf die Verletzung ihrer jungen Seele hin, die sie tief in sich vergrub.

Demy fürchtete sich vor dem Tag, an dem all die unterdrückten Emotionen an die Oberfläche gespült werden würden, denn es war schwer einzuschätzen, wie es Henny dann gelingen würde, mit ihnen umzugehen. Immerhin kannte Demy die Schmerzen nur zu gut, die Menschen einander zuzufügen imstande waren. Sie hatte sich jedoch mit ihren heimlich ertrotzten Freiheiten ein Ventil geschaffen, um nicht an ihnen zu ersticken.

»Schön, dich kennenzulernen«, begrüßte Demy das Mädchen und reichte ihm ihre Rechte. Monika wich ein Schritt nach hinten aus und drückte das Bündel in ihren Armen noch fester an sich.

»Das ist Monika Lisrep. Ihr Kind ist ein halbes Jahr alt«, erklärte Henny und verdrehte, nur für Demy zu sehen, die Augen. Offenbar war an die junge Mutter nicht einfach heranzukommen.

»Komm erst mal mit in die Küche, dort bekommst du etwas Warmes zu essen«, lud Demy Monika ein und deutete mit der Hand auf die Tür zum Arbeitsraum, über den man in den Anbau mit den Hauswirtschaftsräumen und den Zimmern für die Dienerschaft gelangte.

»Sie nehmen mir mein Kleines aber nicht weg?«, fragte Monika mit unüberhörbarem Misstrauen in der rauchigen Stimme.

»Weshalb sollte ich dir dein Kind wegnehmen wollen?«

Monika lachte bitter auf und folgte ihr, dabei vergewisserte sie sich mit einem Seitenblick, ob Henny sie begleitete. In der Küche angekommen bat Demy das Dienstmädchen, sich zu ihrem Gast zu setzen, während sie eine Handvoll gekochter Kartoffeln in der Pfanne anbriet. Nach einem Blick auf die blasse Gesichtsfarbe und den erbärmlichen Zustand der jungen Mutter warf sie noch ein paar Würfel Speck dazu.

Es dauerte nicht lange, und Henny gesellte sich zu Demy. Leise erklärte sie: »Ich habe Monika in der Nähe meines Elternhauses getroffen. Sie wollte bei einer Nachbarin durch das Fenster den zum Abkühlen auf dem Tisch liegenden Laib Brot stehlen. Viel konnte ich noch nicht aus ihr herausbekommen, aber es scheint, als habe ihre Mutter ihr das Kind wegnehmen wollen. Deshalb lief sie von zu Hause fort.«

»Wie lange lebt sie bereits auf der Straße?«

Henny zuckte mit den Schultern. »Sie erzählt nicht viel. Ich weiß nicht einmal, ob ihr Nachname erfunden ist, weil sie verhindern möchte, dass man sie nach Hause zurückbringt.«

»Sie ist sehr jung, um ein Kind zu haben.«

»Demy, du weißt doch, wie das läuft. Ich war ebenfalls sehr jung, als ich … hier zu arbeiten begann.«

»Sag ihr, sie darf bleiben, wenn sie sich an die Regeln hält.«

»Ich wusste, dass du sie nicht fortschicken würdest.«

Demy lächelte ein wenig gequält, nahm die Pfanne von der Kochstelle und trug sie zum Tisch im hinteren Bereich der Küche. Monika hatte das Kind inzwischen an ihre Brust gelegt, doch Demy vermutete, dass aus diesem ausgemergelten Körper nicht viel zu holen war.

»Wir müssen dich aufpäppeln, damit dein Kind genug Nahrung bekommt«, sagte sie und wies Henny an, ihrem neuen Schützling etwas von der wertvollen Milch zu holen.

Die Fremde musterte sie lange, ehe sich ein schüchternes Lächeln auf ihr Gesicht legte, dessen Schönheit unter der Schmutzschicht trotz der eingefallenen Wangen zu erahnen war. »Wollen Sie ihn mal halten?«

»Gern, dann kannst du auch besser essen.«

Demy nahm den Jungen entgegen und erschrak über seinen abgemagerten Körper und die tief liegenden Augen. Ob für das Kind nicht jede Hilfe zu spät kam?

»Meine Mutter wollte ihn umbringen«, erklärte Monika zwischen zwei Gabeln Kartoffeln.

»Dann verstehe ich, dass du weggelaufen bist. Und ich bin sehr froh, dass Henny dir heute begegnet ist.«

Monika nickte nur. Sie war viel zu hungrig, um die Zeit mit Sprechen zu vertun. Henny kam mit der Milch zurück. Schweigend saßen die drei jungen Frauen beieinander, bis Bruno die Küche betrat. Er warf einen kritischen Blick auf den Neuankömmling und runzelte missbilligend die Stirn. Der kräftige Kutscher wurde von den stark rationierten Mahlzeiten nicht mehr satt und sah einen neuen Gast nicht gerade mit Freude.

»Ein Telegramm für Fräulein Demy«, brummte er und warf das Papier auf den Tisch.

»Danke, Bruno.«

Ohne ein weiteres Wort stapfte der Mann davon und warf die Tür hinter sich ins Schloss. Demy legte ihre Hand auf das Telegramm, unschlüssig, ob sie es lesen wollte. Viele der Mitteilungen, die derzeit die Häuser erreichten, trugen Versehrten- und Todesnachrichten zu den Familien.

»Weißt du, Demy, was ich heute gesehen habe? In den Parks wird Gemüse angepflanzt. Vorwiegend Kartoffeln.« Henny neigte den Kopf und musterte sie eindringlich, doch Demy war mit ihren Gedanken bei der Überlegung, wie sie zwei weitere hungrige Mäuler satt bekommen sollte, zumal die Einnahmen immer deutlicher wegbrachen. »Hast du gehört?«

»Ja.«

»Ich denke, das könnten wir auch.«

»Was?«

»Schläfst du? Kartoffeln anpflanzen natürlich.«

»Ich habe von Feldarbeit keine Ahnung.«

»Aber Herr Müller. Und Willi und Peter erinnern sich bestimmt daran, was zu tun ist. Wir anderen können es von ihnen lernen. Immerhin ist der Garten für ein Stadthaus ungewöhnlich groß.«

Demy zog die Nase kraus, ehe sie sich aufrichtete. »Kartoffeln und Karotten. Vielleicht auch etwas Kohl? Was für eine ausgezeichnete Idee!«

Henny lächelte strahlend, unterbrach Demys Begeisterung aber mit einer Handbewegung. »Das Problem ist nur: Man braucht dafür Saatgut. Und das dürfte heutzutage kaum leichter aufzutreiben sein als fertige Produkte.«

»Auf dem Land vielleicht?«

»Wir leben in Berlin, schon vergessen?«

»Ich könnte es zumindest versuchen.«

»Aber das müsste bald passieren. Immerhin haben wir bereits Mitte April.«

Der kleine Junge in Demys Armen wurde unruhig und bekundete durch schwaches Greinen seinen nicht gestillten Hunger.

»Ich bereite den beiden ein Bad zu und richte ein Zimmer«, entschied Henny, stand auf und räumte die Pfanne beiseite. Als Monika den letzten Fetttropfen mit dem Finger vom Teller gewischt hatte, reichte Demy ihr das Kind zurück.

Wenige Augenblicke später saß sie allein am Küchentisch. Eine Kerze beleuchtete die tiefen Rillen im Holz und den leeren, glänzenden Teller mit dem Silberbesteck. Ein dünner weißer Milchrand war am Glas verblieben, über den sich eine einzelne Fliege hermachte. Demy griff nach dem Telegramm, das unbeachtet auf dem Tisch gelegen hatte, und lehnte sich an die knackende Holzlehne zurück. Mit bedächtigen Bewegungen öffnete sie das Papier und hob erstaunt die Augenbrauen, als sie sah, dass Anthony ihr erneut eine Mitteilung zukommen lassen hatte. Darin hieß es, dass er Philippe am nächsten Tag in Schwerin zurückerwarte.

Demy lächelte. Zwar hatte Philippe den Flugzeugbauer als einen arbeitswütigen Eigenbrötler beschrieben, dennoch war diesem bewusst gewesen, wie dringend Demy die Rückkehr Philippes herbeisehnte, selbst wenn es dafür einen anderen Grund gab, als Anthony vermuten mochte.

»Also, aufs Land und Saatgut besorgen«, murmelte Demy. Sie steckte das Telegramm ein und holte kurz darauf den liegen gebliebenen und neu hinzu gekommenen Stapel Geschäftsbriefe vom Tisch des Hausvorstands. Damit sollte ihr »Verlobter« sich herumschlagen!