Kapitel 26

Bei St. Quentin, Frankreich,
November 1914

Im Licht des flackernden Feuers abseits des als Ruhestellung dienenden Unterstandes faltete Hannes den Brief von Edith zusammen und schob ihn in seine Brusttasche. Die Sehnsucht in seinem Herzen wurde zu einem heißen, schmerzlichen Flammenmeer, das sogar der Hitze des Feuers Konkurrenz machte. Er wünschte sich, endlich einmal wieder bei seiner Frau zu sein, sie zu küssen, zu berühren, die Nacht mit ihr zu verbringen und am nächsten Morgen das fröhliche Lachen seiner beiden Töchter zu hören.

Mit einer müden Bewegung hob er seine Mütze an, strich sich die Haare aus der Stirn und setzte die Kopfbedeckung wieder auf. Unweit von ihm brüllte jemand harsche Befehle, und das gleichmäßige Aufsetzen marschierender Soldatenstiefel erzeugte ein bedrohliches Geräusch, ganz ähnlich dem Donnern eines Sommergewitters.

In der Dunkelheit stolperte Bubi unbeholfen an ihm vorbei und verschwand im Unterstand. Waldmann hingegen kauerte neben Hannes und warf einige Äste in das fast heruntergebrannte Feuer. Gierig griffen die Flammen nach der neuen Nahrung, loderten einen Moment unter prasselndem Brausen auf, ehe sie zusammenfielen und verhalten weiterknisterten.

»Sind die Rekruten noch nicht angekommen?«, fragte der Spieß und steckte Hannes ein Stück Schokolade zu, an dem dieser genüsslich zu lutschen begann.

»Vielleicht waren sie schlau genug, die Abzweigung zu verfehlen«, gab er nuschelnd zurück.

Waldmann grinste, wobei seine Zähne im flackernden Schein des Feuers an ein Pferdegebiss erinnerten. Er ließ sich neben Hannes auf den kalten Boden fallen und hielt die Hände über die Glutnester am Rand ihres Feuers. »Ruhig heute Abend, nicht?«

Hannes hob den Kopf und versuchte das Schnarchen und Murmeln der Männer im Unterstand auszublenden, ebenso wie das Geräusch der in Richtung Schützengräben marschierenden Füße und das Rollen der Protze, die noch mehr Geschütze an die Front brachten. Dünne Wolkenfetzen hingen am Himmel und zogen träge in Richtung Osten davon, dazwischen blitzten Sterne, weiß und unnahbar, zu ihnen herunter. Hannes glaubte den Ruf eines Nachtvogels zu hören. Aber vielleicht war es auch nur der unterdrückte Schmerzensschrei eines Soldaten, der von Sanitätern vorbeigetragen wurde.

»Sind wir hier richtig?«, unterbrach eine aufgeregt klingende Jungenstimme seine Betrachtungen. Sowohl Hannes als auch Waldmann senkten die Köpfe, um rund 20 Burschen in neuen Uniformen zu mustern, die sich in einer Reihe vor ihnen aufstellten.

»Paris, da lang«, Waldmann deutete unbestimmt an Hannes’ Kopf vorbei. »London hier und Rom dort!«

Der Junge, der sie angesprochen hatte, grinste und nannte die Zugnummer und Hannes’ Namen.

»Hm, Leutnant Hans Meindorff? Nie gehört«, meinte Waldmann prompt und schaute Hannes fragend an, der scheinbar desinteressiert mit der Schulter zuckte. »Oder wartet! Da gab es mal einen, der hieß so ähnlich. Ein furchtloser Bursche. Als die Froschfresser ihn am Arsch hatten, tanzte er auf dem Schlachtfeld einen Cancan. Er wirbelte einen imaginären Rock herum und verdrehte den Typen so die Köpfe, dass sie vergaßen, auf ihn zu schießen.«

Hannes sah in ungläubige und verwirrt dreinblickende Gesichter mit offenen Mündern. Nur der Sprecher der Gruppe trug weiterhin sein fast kindliches Grinsen zur Schau, bei dem sich die großzügig über sein Gesicht verteilten Sommersprossen wie angestoßene Murmeln verschoben. »Die von der Frontleitstelle sagten uns, wir finden hier den Zug, dem wir zugeteilt sind.«

»Zug?« Waldmann kratzte sich am Kopf. »Also der Zug nach Paris fährt dort ab, und der nach London …«

»Entschuldigen Sie bitte, Herr Feldwebel. Ich möchte nicht unhöflich erscheinen, aber ich denke, meine Kameraden und ich suchen uns jetzt im Unterstand ein Nachtlager.« Der Rothaarige mit den Sommersprossen grüßte vorschriftsmäßig, und die Burschen hinter ihm folgten seinem Beispiel. Waldmann versuchte eine grimmige Miene aufzusetzen, was ihm gründlich misslang. Also erhob sich Hannes, schrak aber zusammen, als einer der jungen Soldaten einen Schrei ausstieß, woraufhin die gesamte eigentümliche Truppe wieder strammstand.

»Meine Güte, Meindorff. Die haben uns einen Kindergarten geschickt!«, brummte Waldmann, als er laut ächzend ebenfalls aufstand. »Wo ist euer Lehrer? Sagt ihm, er kann den Klassenausflug abbrechen und euch nach Hause bringen.«

Der Rothaarige grinste erneut, ließ Waldmann unbeachtet und wandte sich direkt an Hannes. »Wir haben die ganze achtwöchige Ausbildung durchlaufen, sind alle Landser und Ihnen zugewiesen worden, Herr Leutnant.«

»Und was wollt ihr hier?«, brummte Hannes und schritt die akkurat aufgereihten Uniformierten ab. Das, was er sah, behagte ihm gar nicht. Bis auf zwei große, breitschultrige Burschen hatte sich von den Jungen, die da vor ihm standen, mit Sicherheit noch nie einer rasiert.

Wieder war es der Rothaarige mit den Sommersprossen, der das Wort ergriff: »Herr Leutnant, wir sind zum Kämpfen gekommen. Unsere ganze Klasse der Ingenieurschule hat sich freiwillig gemeldet. Leider sind wir aufgeteilt worden.«

»Und du warst der Klassenkasper«, brummte Waldmann, woraufhin der aufgeweckte Bursche tatsächlich nickte.

Hannes zog einen brennenden Span aus dem Feuer und schritt die Reihe ein zweites Mal ab. Im Licht der flackernden Flamme sahen die Soldaten noch jünger aus als zuvor. Aufgebracht warf er den Ast zurück. Ein Funkenregen sprühte in den Himmel hinauf, als habe sich für die Neuen bereits der Schlund zur Hölle geöffnet. »Bring sie unter, Waldmann. Ich muss ein Gespräch führen.«

»Das wird nichts ändern, aber versuch es!«, brummte sein Feldwebel und schickte die Landser in den Unterstand.

Fassungslos beobachtete Hannes, wie sie Waldmanns Befehl Folge leisteten. Ihre Beflissenheit erinnerte Hannes an Bubi in seinen ersten Wochen. Irgendein Ausbilder hatte die Studenten intensiv geschliffen. Ob er sie auch auf den Krieg vorbereitet hatte? Grimmig wandte er sich ab und begab sich auf die Suche nach einem fahrbaren Untersatz. Er lieh sich ein Motorrad, dazu Handschuhe und Brille und knatterte über einen Waldpfad in Richtung St. Quentin.

Die Folgen der Eroberungsschlacht waren selbst in der Nacht deutlich zu erkennen. Hannes ignorierte sie jedoch und fragte sich stattdessen nach dem Hauptquartier durch, in der Hoffnung, dort irgendwo Theodor aufzutreiben. Der lief ihm prompt vor einem Offizierskasino über den Weg. Verwundert betrachtete er zuerst Hannes, schließlich das verdreckte Motorrad, das sein Freund neben sich herschob, und runzelte dann die Stirn. »Bist du den ganzen Weg von deinem Frontabschnitt bis hierher mit dieser Kiste gefahren?«

»Ja, und das aus gutem Grund! Man hat mir als Ersatz für meine Männer einen Haufen Pennäler geschickt. Die taugen womöglich zu Arbeiten in der Etappe, aber doch nicht vorn an der Front!« Hannes schüttelte bei der Erinnerung an die glatten Kindergesichter empört den Kopf. Mit diesen unerfahrenen Burschen musste er seine Hoffnung auf Ruhm und Anerkennung, auf herausragende Leistungen seines Zugs – die gelegentlich mit einem Orden belohnt wurden – weit hintenanstellen.

Theodor schnalzte mit der Zunge und bat Hannes zu einem Getränk in das Kasino. Der schlug die Einladung aus, da er das geliehene NSU-Motorrad nicht unbeaufsichtigt lassen wollte. Stattdessen setzte er sich auf dessen unbequemen Holzsitz, während sein Freund eine leere Munitionskiste auftrieb, um sich am Straßenrand auf dieser niederzulassen.

»Du kannst von Glück reden, eine ausgebildete Truppe zu bekommen. Hast du gehört, was die letzten Tage bei Ypern geschah?«

»Wir hörten von einer gewaltigen Schlacht, nachdem Antwerpen eingenommen wurde und sich der belgische König davongemacht hatte. Die Umfassungsversuche gelangen nicht, weshalb es zum Aufeinandertreffen der Armeen im Niemandsland zwischen Lille und Ypern kam. Zuletzt hieß es, die Belgier hätten ihre Schleusen am Meer geöffnet und einen Großteil des Landes geflutet. Ein genialer Schachzug, wenn ich das sagen darf. Aber was hat das mit diesen mir zugewiesenen Schülern zu tun?«

»Deine frischen Soldaten haben zumindest noch ihre Grundausbildung durchlaufen. Die Kinder, die eiligst nach Ypern geschickt wurden, weil es an Truppen mangelte, wurden praktisch von der Schule oder mitten aus der Ausbildung weggeholt«, sagte Theodor. Daraufhin verfiel er in Schweigen und starrte grimmig über Hannes hinweg in die Nacht, als erwarte er dort den Teufel persönlich zu sehen.

Auf Hannes’ Stirn entstanden tiefe Falten, als er zu begreifen begann, was Theodor andeutete, aber nicht aussprach. Hatte die Heeresleitung wirklich unausgebildete halbe Kinder in eine wüst tobende Schlacht geworfen?

»Hannes«, sagte sein Freund mit einer Stimme, die wie Metall klang, das über ein Reibeisen gezogen wurde. »Bei Ypern sind ganze Schulklassen ausradiert worden. Es muss Ortschaften im Land geben, in denen wirst du keine männlichen Schüler mehr finden. Ich habe noch nie zuvor ein solches Dahinmeucheln von Kindern gesehen wie in Langemarck.« Dem Adjutanten brach die Stimme und ein verräterisches Glitzern stand in seinen Augen.

Hannes fühlte einen stetig anwachsenden Kloß in seinem Hals und schluckte schwer, ohne das unbehagliche Gefühl nutzloser Frustration loszuwerden. »Was tun wir da nur?«, murmelte er, während Theodor hörbar mit den Zähnen knirschte.

»Wir bezahlen für das, was wir anstrebten … Erinnerst du dich an unsere Kadettenzeit? An unsere fiebrige Begeisterung, wenn es in einer der Kolonien kriselte oder sich die Beziehungen zwischen den Ländern angesichts unbedachter Handlungen verschlechterten? Wir waren heiß darauf, unser Erlerntes einzusetzen! Aber was wussten wir schon? Was wussten die alten Offiziere, die diese armen Schüler ein paar kurze Tage lang auszubilden versuchten, von den neuen Waffen unseres Jahrhunderts?«

In Hannes’ Kopf und Herzen tobte sein eigener Krieg. Theodor und er waren zu Offizieren ausgebildet worden. Es war ihr Krieg! Nicht der dieser Jugendlichen, nicht der von Tausenden Flüchtlingen, die von einem Ort zum anderen flohen mit nichts als einem Handkarren voll Habseligkeiten. Er hatte Ruhm und Anerkennung ernten wollen, schuf aber nichts als Tod, Trauer und Verwüstung. Passend zu seiner düsteren Stimmung begann es zu tröpfeln.

»Hannes?«

Er hob den Kopf, um in das nun wieder beherrschte Gesicht seines Freundes zu blicken. »Ich habe mich dafür eingesetzt, dass ein Teil der frischen Landser zu dir kommt. Du bist ein besonnener, umsichtiger Zugführer. Du wirst auf sie achtgeben!«

»Diese Neulinge gehören nicht gemeinschaftlich eingesetzt, sondern sollten in verschiedene Züge aufgeteilt werden, damit erfahrene Soldaten sie unterweisen!«

»Das wäre sinnvoll, wird aber so nicht gehandhabt. Zumindest bei einem Teil dieser Jungs konnten mein Vorgesetzter und ich dafür sorgen, dass sie einem fähigen Leutnant zugewiesen wurden.«

Hannes blies wenig begeistert die Wangen auf. Er spürte kein Hochgefühl über das Lob seines Freundes, sondern nur Schmerz, denn er ahnte, dass mit jedem jungen Burschen, der fiel, auch ein Teil von ihm sterben würde. Und was blieb dann am Ende von ihm übrig? Seit Wochen spürte er, wie die unbeschwerte Lebensfreude, die seine Freunde früher an ihm geschätzt hatten, wie Sand vom Wind davongeblasen wurde; einem Sturmwind, der sich Verzweiflung und Überforderung nannte.

Stille senkte sich über die beiden Männer. Sie wurde lediglich vom Gelächter und Gemurmel aus dem Kasino, den Schritten vorbeischlendernder Soldaten und einem ungleichmäßigen Poltern unterbrochen, da man in der Nähe Kisten umlud.

Es war Theodor, der das Schweigen brach: »Ich war bei Demy.«

Überrascht und dankbar für das leichtere Gesprächsthema hob Hannes den Kopf und musterte seinen Freund, soweit das im Zwielicht der Kasinofenster möglich war. »Geht es ihr gut?«

»Ich fürchte nicht. Aber sie ist schwer zu durchschauen.«

»Konntest du herausfinden, was es mit dieser Verlobung auf sich hat?«

»Ich wagte nicht, mich explizit danach zu erkundigen. Jedoch gewann ich den Eindruck, dass sie sich mit diesem Schritt vor noch Schlimmerem schützen wollte. Aus diesem Verdacht heraus bot ich ihr meinen Schutz an. Edith bestätigte mir später meine Vermutung, dass auch diese Verlobung, wie damals die mit dir …«

Hannes fuhr in die Höhe. Beinahe wäre das Zweirad unter ihm umgekippt. »Du hast Edith gesehen?«

»Ich stattete ihr und den Mädchen einen kurzen Besuch ab. Es geht ihnen gut. Edith steckt ja noch mitten in ihrer Krankenpflegeausbildung und wird bald in einem der Berliner Notlazarette eingesetzt.«

»Ja, das schrieb sie mir«, murmelte Hannes und griff nach dem Brief in seiner Tasche. Unbändige Eifersucht drohte ihn zu übermannen. Theodor hatte Edith und die Kinder gesehen, während er hier festsaß! Die Sehnsucht nach seiner Frau riss ihn beinahe entzwei, weshalb er seinen Gesprächspartner mit einem düsteren Blick förmlich durchbohrte.

»Hannes, ich denke nicht, dass Demy sich veranlasst sieht, mir zu schreiben. Sie hat sich zwar für mein Angebot bedankt, für ihren Schutz und den ihrer Geschwister zu sorgen, aber letztendlich glaube ich nicht, dass sie sich tatsächlich an mich wenden würde, falls sie sich in Bedrängnis befindet.«

Der Leutnant brachte nicht mehr als einen Brummlaut zustande. Noch immer kämpfte er gegen eine unbändige Wut an. Theodor war es vergönnt gewesen, Edith zu sehen; er hatte sich erdreistet …

Nicht ahnend, welche Gefühle in Hannes tobten, sprach Theodor weiter: »Aus diesem Grund suchte ich Edith auf. Ich wollte sie bitten, mir zu schreiben, falls sie etwas von Demy hört …«

Nun ballte Hannes die Hände zu Fäusten und war drauf und dran, auf seinen Freund loszugehen. Was erlaubte der sich, in sein Zuhause einzudringen und mit Edith zu sprechen, obwohl Hannes sie doch unendlich lange nicht mehr gesehen hatte?! Er vermisste ihr Lächeln, sehnte sich nach ihrer Berührung …

»Aber ich wagte es nicht, meine Bitte vorzutragen«, fuhr Theodor fort. »Es wäre nicht richtig! Sie darf nicht mir schreiben, sondern sollte ihre ohnehin knapp bemessene Zeit ganz den Briefen an dich widmen.«

Hannes löste bewusst die Fäuste und merkte erst jetzt, wie stark er jeden Muskel seines Körpers angespannt hatte.

»Deshalb meine Bitte an dich, mein Freund: Wenn dir zu Gehör kommt, dass Demy in Not ist, dann teile mir das bitte mit. Ich möchte mein Versprechen einlösen und ihr helfend zur Seite stehen.«

Es dauerte ein paar Sekunden, ehe Hannes sich so weit im Griff hatte, dass er halbwegs ruhig zu entgegnen imstande war: »Du magst Demy sehr, nicht?«

»Im Grunde kenne ich sie kaum. Aber sie hat etwas an sich, das mich zu ihr hinzieht. Ich durfte noch nie eine Frau kennenlernen, die ein größeres Herz hat und dieses selbstloser verschenkt. Gelegentlich wohl zu selbstlos?«

Nun war es an Hannes, der damals Demy für seine Zwecke ausgenutzt hatte, das Gesicht zu verziehen. Er setzte sich aufrechter auf den Sattel des Motorrads und fragte sich dabei, wann er so zusammengesunken war.

»Demy ist ein bezaubernd natürliches Geschöpf. Sie strahlt eine eigentümliche Mischung aus Stärke und Hilfsbedürftigkeit aus.« Theodor lächelte, während er seine dunklen Augen erneut über ihn hinweg in scheinbar weite Ferne richtete. Diesmal schien es dort keine dunklen Gestalten zu geben.

Hannes straffte die Schultern. Sein Freund würde gut zu Demy sein. Aus diesem Grund beschloss er, diese bisher nur einseitige Liaison zu fördern, soweit es in seiner Macht stand. Einen Beschützer hatte die junge Dame in mehrfacher Hinsicht nötig. Nicht nur wegen der Herren Meindorff und Demys manchmal ungewöhnlichen und riskanten Unternehmungen, sondern auch was seinen mit einem schlechten Ruf behafteten Pflegebruder Philippe anbetraf.

Die Tür des Offizierskasinos knallte gegen die Außenwand. Zwei Männer taumelten auf die Straße, irgendwelchen Unsinn vor sich hin redend; ihnen folgte ein Adjutant, der sich ohne zu zögern den Freunden näherte. »Birk, der Generalmajor lässt nach Ihnen fragen.«

»Danke.« Theodor erhob sich und schob die Munitionskiste mit dem Fuß an die Hauswand, ehe er Hannes zum Abschied seine Rechte hinstreckte. »Mir ist bewusst, dass ich kein Anrecht auf Informationen über die Familie Meindorff habe. Dennoch meine Frage: Entsprichst du meiner Bitte?«

»Ich melde mich bei dir, falls ich von Schwierigkeiten höre, die Demy betreffen.«

»Ich danke dir. Gott schütze dich!«

Hannes hob grüßend die Hand und ließ die NSU aufjaulen, noch ehe der Hauptmann von der Dunkelheit zwischen den Häusern verschluckt wurde. Als er das Motorrad wendete, öffnete der Himmel seine Schleusen. Aus dem sanften Nieselregen wurde ein reißender, ihn sofort bis auf die Haut durchnässender Sturzbach. Allerdings kühlte selbst dieser Regenguss sein noch immer erhitztes Gemüt nicht ab. Er schlingerte mit dem schweren Zweirad durch die sich schnell mit Wasser füllenden Spurrillen in Richtung Stadtrand. Tief in düstere Grübeleien versunken und gefangen in seiner Sehnsucht nach Edith schrak er zusammen, als direkt vor ihm eine Gestalt aus dem Boden zu wachsen schien.

Hannes bremste scharf ab. Die Maschine stellte sich quer und kippte dann um. Instinktiv schloss Hannes die Augen, um sie vor Ästen, aufwirbelndem Splitt oder dem Gestänge des Motorrads zu schützen. Als die Rutschpartie über den schlammigen Boden endete und er die Augen wieder zu öffnen wagte, blickte er in ein hübsches weibliches Gesicht.

Eine junge Frau hockte vor ihm und musterte ihn besorgt. Mit französischem Akzent fragte sie: »Haben Sie sich verletzt, Herr Leutnant?«

»Um das zu wissen, muss ich erst meine Knochen sortieren«, erwiderte er trocken, ohne den Blick von ihr zu wenden. Ihr roter Kirschmund, den er trotz der schlechten Lichtverhältnisse deutlich sehen konnte, verzog sich zu einem einnehmenden Lächeln und legte zwei Reihen faszinierend weißer, wie Perlen auf einer Schnur aufgezogener Zähne frei.

»Sie sprechen hervorragend Französisch, deutscher Leutnant.«

»Jedenfalls besser, als ich Motorrad fahre.«

Ihr Kichern jagte ihm ein Prickeln durch die Brust, und er ließ zu, dass dieses kleine Persönchen ihm half, das Zweirad aufzurichten. Gemeinsam lehnten sie es an eine nachlässig verputzte Hauswand.

»Sie sind sehr nass, deutscher Leutnant. Kommen Sie herein und wärmen Sie sich auf.«

Hannes’ Blick wanderte von der NSU zum Gesicht der Frau. Von dort glitt er über ihre üppige Brust und die schmale Taille bis zu ihrem etwas zu kurz geratenen Rock, der einen freizügigen Blick auf ihre schlanken Fesseln gewährte.

In seinem Kopf begann eine Warnglocke zu läuten, die er jedoch ebenso überhörte wie das Quietschen der Tür, als die Französin sie einladend öffnete. Plötzlich war da kein Gedanke mehr an Edith. Nur noch der Wunsch, all den erlebten Schrecken, die entstellten Leichen, den Geruch nach Tod und Verwesung zu vergessen und dieser in ihm brodelnden, überhandnehmenden Sehnsucht nachzugeben.

***

»Du bist hoffentlich nüchtern, Herr Leutnant«, begrüßte Waldmann ihn, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Im Unterstand herrschte Nervosität, ein deutliches Zeichen dafür, wie schnell die Neuen realisiert hatten, dass es für sie in wenigen Minuten zum ersten Mal an die Front gehen würde.

»Hatte Probleme«, knurrte Hannes und spielte nervös mit der Erkennungsmarke um seinen Hals. Damit meinte er nicht den fehlenden Sprit gegen Ende des Rückweges, sondern vielmehr die Tatsache, dass das Mädchen ihm eine Menge Geld aus der Tasche gezogen hatte. Außerdem meldete sich sein Gewissen immer vehementer. Er schämte sich für das, was er aus seinem Gefühlschaos heraus getan hatte. Die Erinnerung an die vergangene Nacht machte ihn zornig auf sich selbst. Wochenlang hatte er seine Gefühle so weit im Griff gehabt, um auf dem Schlachtfeld zu funktionieren. Weshalb also konnte Theodors Treffen mit Edith ihn so aus der Bahn werfen, dass er sich die erstbeste Frau griff, die seinen Weg kreuzte?

»Was machen wir jetzt mit dem grünen Gemüse?«, erkundigte Waldmann sich und blickte grimmig auf einen schmächtigen Burschen, der sich furchtbar umständlich mit seiner Ausrüstung abplagte. Patronentasche, Spaten, Gewehr und Seitengewehr25, Brotbeutel, Feldflasche, Karbidlampe, Spirituskocher und all das andere, was er in seinem Tornister und über der Schulter mitzuführen hatte, war für ihn entschieden zu viel.

»Jeder unserer erfahrenen Männer bekommt einen der Frischlinge an die Seite.«

»Das ist sinnvoll«, bestätigte Waldmann und bellte seine Befehle in den Unterstand.

Die Soldaten stellten sich in einer Zweierreihe auf und Hannes besah sich die Paare. Seine Stirn furchte sich, als sich Bubi und der Rotschopf ganz am Ende einreihten.

»Wie heißen Sie, Soldat?«, fragte er den Witzbold.

»Adrian Oettinger, Herr Leutnant.«

»Sie sind in den Stellungen an meiner Seite.«

»Jawohl, Herr Leutnant.«

»Herr Leutnant …?« Bubi protestierte zaghaft dagegen an, dass ihm der unerfahrene Neuling abgenommen wurde.

»Gefreiter Bubi, wir können schlecht auf Sie als unsere Grabenratte verzichten. Und dabei ist Ihnen ein Anhängsel nur im Weg, wenn nicht gar ein Risiko für Ihre Sicherheit.«

»Jawohl, Herr Leutnant.«

Hannes nickte Waldmann, Lasswitz, Dahn und Eisenburg zu, die ihren Trupps Befehle erteilten, und marschierte ihnen voraus auf die knapp drei Kilometer entfernte Frontlinie zu.

Noch hatte die Nacht die Landschaft im Griff, doch im Osten ermahnte ein heller Streifen am Horizont, wie spät sie zur Ablösung dran waren. Demzufolge trieben die vier Unteroffiziere die Landser in einen flotten Trab.

Innerhalb kürzester Zeit hörte Hannes die Männer hinter sich keuchen, allen voran der übergewichtige Waldmann. Das zischende Geräusch ihres Atmens mischte sich mit dem Trampeln ihrer Stiefel, dem lauten Platschen, wenn jemand in eine Pfütze trat, und dem Klappern und Knarren des Sturmgepäcks.

Vor einer Anhöhe drosselte Hannes das Tempo. Er konnte es sich nicht leisten, dass die Männer japsten und keuchten, wenn sie in die Gräben einstiegen und sich den feindlichen Stellungen näherten. Er wollte die Aufmerksamkeit der Gegner ja nicht unnötig auf seinen Zug lenken, zumal das eilig gezogene Grabensystem verwirrend angelegt war. Manch ein Abschnitt des ersten deutschen Grabens lag scheinbar unendlich weit vom vordersten feindlichen Graben entfernt, während andere Stellen bis auf Gesprächsnähe an ihn heranrückten.

Der Zug geriet ins Stocken, als sie an einer Reihe frisch ausgehobener Gräber vorbei mussten, bevor sie in einen Laufgraben kletterten. Das, was ihnen in den nächsten Tagen blühen konnte, lag ihnen hier deutlich vor Augen!

Hannes stellte sich vor die aufgeworfene Erde und ließ seinen Trupp an ihm vorbeimarschieren. Währenddessen verlangte er, dass die Neuen ihm ihre Namen nannten. Dabei tat er genau das, was er vor Wochen noch hatte vermeiden wollen: Er prägte sich jedes Gesicht ein und murmelte ihre Namen vor sich hin, damit sie sich in sein Gedächtnis einbrannten. Von diesem Tag an wollte er die Verantwortung für seine Soldaten übernehmen, sie führen und bestmöglich durch den Krieg bringen. Dabei machte er sich nichts vor – schließlich hatte er die Toten der vergangenen Schlachten gesehen und genug eigene Infanteristen und auch Unteroffiziere verloren: Sein Zug würde Verluste erleiden. Aber er war dazu bestimmt, sich für seine Männer einzusetzen und dafür Sorge zu tragen, so viele wie möglich von ihnen bis Weihnachten am Leben zu erhalten, selbst wenn die großen Versprechungen der Heeresleitung, bis dahin den Krieg gewonnen zu haben, inzwischen wie Hohn anmuteten.

Hannes beobachtete, wie ein paar der erfahrenen Kämpfer den ihnen zugeteilten Jungs Anweisungen über das Verhalten in den Frontstellungen zuraunten. Befriedigt nickte er und führte seine Truppe tiefer in das Gewirr aus Lauf- und Schützengräben.

***

Als ein neuer wolkenverhangener Tag über Frankreich graute, hatten die Männer von Hannes’ Zug sich in den Liegestellen26 der Grabenwände eingerichtet. Diese etwa mannslangen, niedrigen Einbuchtungen in Kniehöhe lagen zur Feindesseite hin und boten zumindest Schutz vor Nässe von oben. Die Wände des fast zwei Meter tiefen Schützengrabens waren notdürftig mit Rundhölzern und ein paar von Pionieren angebrachten Verstärkungen ausgekleidet. Nach dem Regen der vergangenen Nacht bildete sich auf dem festgetretenen Boden eine glitschige Schmierschicht, die schnelle Bewegungen verbot und ein eigentümliches Schmatzen von sich gab, wenn man nach längerem Stillstehen den Fuß hob. Die Feuchtigkeit von unten und entlang der Wände war extrem unangenehm, kroch sie doch innerhalb von Minuten in das Drillichzeug, lehnte man sich einmal an oder wollte sich für einen Moment hinsetzen.

Hannes beobachtete, wie Waldmann leicht geduckt hinter den Soldaten vorbeihuschte, hier und da Anweisungen gab oder ein paar freundliche Worte loswurde. Nebenbei versorgte er Lasswitz, Dahn und Eisenburg mit je einer Handvoll Zigaretten. Schließlich blieb er neben Hannes stehen und zog seinen Regenmantel fest um sich, bevor er sich an die nassen Holzplanken lehnte und ihn eingehend musterte.

Hannes wich seinem Blick aus. Lieber spähte er vorsichtig über das vor ihm liegende, von Kratern durchzogene und wie von einem riesigen Maulwurf aufgewühlte Land, wobei er im fahlen Dämmerlicht noch nicht weiter als bis zu den Stacheldrahtverhauen sehen konnte.

»War sie es wenigstens wert?«, fragte Waldmann irgendwann und reichte ihm einmal mehr ein Stück Schokolade.

Hannes’ Hand zitterte, als er die dunkle Süßigkeit entgegennahm und in den Mund steckte. »Wie machen sich die Neuen?«, versuchte er vom Thema abzulenken und seine quälenden Gewissenbisse auszuschalten.

»Gut. Aber bis jetzt hat auch noch niemand gewagt, den Hals zu recken.«

Adrian, wie befohlen dicht neben Hannes, nahm Waldmanns Worte zum Anlass, eben dies zu tun. Zwei Kugeln pfiffen vorbei, bohrten sich in die Erde hinter ihm und veranlassten den Burschen, sich zu Boden zu werfen. Dabei fiel seine Pickelhaube aufklatschend in den schlammigen Untergrund. Aus der zusammengekauerten Position starrte Adrian seinen Zugführer mit weit aufgerissenen Augen an, während um sie herum nervöses Gemurmel laut wurde.

»Mit dieser Haar- und Gesichtsfarbe gehört er als Signalpunkt auf einen dieser vermaledeiten Flugplätze und nicht in einen Graben«, fluchte Waldmann, hob das Gewehr und jagte zwei Schüsse zurück.

Links von ihm wollte einer der anderen Neuen es ihm wie elektrisiert gleichtun, wurde aber von Ulrich Unzer, seinem erfahrenen Begleiter, zu Fall gebracht, indem dieser ihm gezielt in die Kniekehle trat. »Hat jemand was von Schießen gesagt, Bürschlein?«, sagte Unzer ungerührt und nahm dem Jungen namens Wolfgang Göke das Gewehr ab, bevor der ihn mit seinem Seitengewehr versehentlich aufspießte.

»Da hängen Leichen im Stacheldraht«, zischte Adrian, sobald er sich aufgerappelt hatte. Der Schreck war ihm noch immer anzusehen, allerdings war er sichtlich bemüht, davon abzulenken.

Hannes sah es mit Erleichterung. Aus dem Klassenkasper konnte ein guter Soldat werden. Vorausgesetzt, er lebte lange genug.

»Die hängen da schon lange«, grunzte Waldmann. »Wenn du genau hinschaust, kannst du sehen, wie weit die Ratten sie von unten her abgeknabbert haben.« Der Feldwebel verdrehte die Augen, als er hörte, wie sich nur Sekunden später hinter ihm jemand übergab. »Allerdings wirst du es nicht sehen, wenn die da drüben gut aufpassen. Und das tun sie, wie du bemerkt hast.«

»Ja, Herr Feldwebel.« Adrian lehnte sich kleinlaut an die nasse Holzverkleidung, wohl um sein Zittern zu verbergen. Unzer bellte unterdessen den schmächtigen Heinz Markt an, er solle zusehen, wie er die Sauerei zu seinen Füßen wegschaffte.

»Wie alt ist der Junge?«, fragte Waldmann Adrian, der an Hannes vorbei zu Heinz blickte und ein mitleidiges Gesicht zog.

»Ein Genie, deshalb jünger als wir alle. Ich vermute gerade mal achtzehn, Herr Feldwebel.«

»Kindergarten, sag ich doch!«, konterte Waldmann mit einem wütenden Blick in Hannes’ Richtung.

Er nahm wohl an, dass sein Leutnant nichts dafürkonnte, dass ihnen die Burschen zugeteilt worden waren. Hannes wusste es besser und fragte sich, ob er sich fortan anders verhalten sollte, damit er nicht länger in dem zweifelhaften Ruf stand, gut für seine Leute zu sorgen. Bei der Erinnerung an das Gespräch mit Theodor – und damit auch an seine anschließende Nacht mit Dorine – versank er in düstere Grübeleien. Sein Gesichtsausdruck und die fest um die Waffe gekrallten Hände hielten selbst Waldmann davon ab, ihn nochmals anzusprechen.

Die Schuldgefühle übermannten Hannes. Er ließ sich mit dem Rücken gegen die Grabenwand fallen. Warum hatte er dem eindeutigen Angebot der Frau nicht widerstehen können? Nur weil die Worte von Theodor ihn an seine unerfüllten Wünsche erinnert, sie in ihm angeheizt hatten? Er hätte gar nicht erst durch diese Tür treten sollen, denn damit waren alle nachfolgenden Handlungen vorgegeben gewesen. Er hatte Edith und die Kinder schrecklich hintergangen!

Beim Gedanken an seine beiden kleinen Mädchen krampfte es ihm den Magen zusammen, und er klammerte sich an seine Schusswaffe wie an einen Rettungsanker. Ein selbstzerstörerischer Zorn auf sich selbst erfasste ihn. Im Augenblick wünschte er sich nichts sehnlicher, als dass sie den Befehl erhielten, aus der Deckung zu springen, um den gegnerischen Schützengraben einzunehmen. Er wollte seine Wut auf sich selbst und auf Dorines Verführungskünste an ihren Landsmännern abreagieren.

***

Waldmann hatte zwei Männer zum Essenfassen geschickt, da die Gulaschkanonen der Feldküche nicht in die Schützengräben gebracht werden konnten. Bei Einbruch der Dunkelheit waren sie noch nicht zurückgekehrt, was den Feldwebel veranlasste, wie ein Kutscher zu fluchen. Nichts brachte den Unteroffizier aus der Ruhe, es sei denn, er bekam seine ohnehin mageren Mahlzeiten nicht. Selbst Eisenburgs Vermutung, die Jungs könnten sich im Grabensystem verlaufen haben, beruhigte ihn nicht.

Hannes, dem der Magen ständig knurrte, überlegte gerade, ob er zwei der in ihren Liegestellen schlafenden Soldaten wecken und zum Essenfassen schicken sollte, kam aber nicht mehr dazu. Genau vor ihm detonierte ein Artilleriegeschoss. Sand, Holz und Steine spritzten ihm entgegen.

Adrian hatte sich reaktionsschnell neben ihm zu Boden geworfen und sprang ebenso schnell wieder auf. Von seiner Uniform tropfte der Matsch. Abwartend sah der Junge Hannes an. In seinen Augen flackerte Angst, dennoch hob er den Kopf und straffte die Schultern.

Unzer war schon wieder damit beschäftigt, den übereifrigen Wolfgang davon abzuhalten, mit seinem Gewehr 98 in Richtung französischer Haubitzen- und Mörserbatterien zu feuern, während Hillgart den jammernden in sich zusammengesunkenen Heinz ignorierte.

»Oettinger?« Der Rothaarige hob den Kopf und blickte Hannes aufmerksam an. Im Lärm der immer engmaschiger werdenden Detonationen und über sie hinwegpfeifenden Geschosse war er nicht in der Lage, seinem Zugführer zu antworten.

»Behalten Sie Ihr Genie da drüben im Auge. Hillgart ist ein guter Soldat, taugt vermutlich aber nicht als Kindermädchen.«

»Jawohl, Herr Leutnant.«

»Verdammt, bleib unten! Du brauchst im Graben nicht zu salutieren oder die Hacken zusammenzuschlagen. Mir ist es lieber, ich höre, dass du meinen Befehl verstanden hast!«, brüllte Hannes über den Geschützdonner hinweg.

»Ich behalte Landser Heinz im Blick, Herr Leutnant.«

Hannes nickte und lehnte sich mit dem Rücken gegen die dem Feind zugewandte Grabenwand. Die Artillerien sollten sich erst mal austoben.

Der Beschuss dauerte an. Weiter südlich schlug eine Granate mitten in den Graben ein und riss ein gewaltiges Loch. Die hereinbrechende Dunkelheit verschonte Hannes’ Männer vor dem Anblick von Leichenteilen. Aber die Geräusche von hastig eingesetzten Schaufeln verrieten, wie verzweifelt die Männer des dort liegenden Zugs nach in den Liegestellungen Verschütteten suchten.

Kurz nachdem sich eine beängstigend vollkommene Dunkelheit ausgebreitet hatte, erlahmte der beiderseitige Artilleriebeschuss, während die darauf folgende Stille fast ebenso laut in Hannes’ Ohren dröhnte. Er ließ ein paar Sanitäter durch, die unterwegs tatsächlich die beiden vermissten Burschen mit dem Essen gefunden und mitgebracht hatten. Auch diesmal wurde er nicht satt, und mürrisch teilte er die Wachen für die Nacht ein.

Als er sich rücklings in seine Liegestelle schob, in der zu seiner Freude ein fast 40 Zentimeter breites Holzbrett lag, hockte Hillgart sich neben das Loch. »Herr Leutnant?«

»Ich weiß, dass du mit dem Kleinen nicht viel anfangen kannst. Aber du bist hier der erfahrenste Soldat und der Spieß hatte recht, den Burschen dir zuzuteilen.«

»Das ist es nicht. Ich kann ihn anlernen, auf ihn aufpassen und ihn notfalls ignorieren. Doch ich bin nicht in der Lage, ihm diese Scheißangst zu nehmen. Der bepisst sich bei jedem lauten Einschlag. Welcher Vater oder Lehrer kam auf die verdammte Idee, das Kind in den Krieg zu zwingen?«

»So schlimm?«

»Die anderen haben auch alle eine Höllenangst. Aber die werden lernen, damit umzugehen. Den Kleinen kannst du vergessen.«

»Ich schicke ihn morgen zurück. Er könnte zu einer Gefahr für uns ausarten. Irgendwo in der Etappe, wo er mit Zahlen jonglieren kann, oder in der Telegraphenabteilung ist er vermutlich sinnvoller untergebracht.«

Hillgart grinste schief, als Hannes ihm für seine offenen Worte dankte.

***

Entferntes Trommelfeuer weckte Hannes. Er zog sich mit einer flinken, routinierten Bewegung aus seiner Liegestelle.

Der Rotschopf, an diesem frühen Morgen noch grau wie jeder andere Soldat, grüßte ihn und meldete keine besonderen Vorkommnisse in den letzten Stunden. Mürrisch nickte Hannes ihm zu, schraubte seine Feldflasche auf und schüttete sich eine Handvoll Wasser ins Gesicht. Da er erbärmlich fror, machte er sich daran, mehrmals den Grabenabschnitt abzugehen, in dem sein Zug lag. Der schmächtige Heinz kauerte zusammengesunken auf dem noch immer morastigen Boden, vermutlich ein Vorgeschmack dessen, was ihnen im nahen Winter bevorstand, und presste die Hände auf seine Ohren.

Hillgart zuckte lediglich mit den Schultern, als Hannes ihm einen fragenden Blick zuwarf. »Nachts hat er geschlafen. Ich habe seine Wache übernommen. Wenn er schläft, stellt er nichts an. Seit die Heinis von der Artillerie wach sind, hockt er da unten und rührt sich nicht.«

»Unzer soll dich ablösen. Verkriech dich und schau zu, dass du eine Mütze Schlaf abbekommst.«

»Danke, Leutnant.« Hillgart gähnte, suchte sein Zeug zusammen und verzog sich in sein Loch.

Währenddessen ging Hannes neben dem zitternden Heinz in die Knie. »Markt?« Der Bursche reagierte nicht einmal. »Hör mal, man hat mir gesagt, du seist ein Zahlenjongleur. Dich als Artilleriefutter hierzubehalten wäre reine Verschwendung. Sobald ein Krankenträger, ein Melder, Mineur oder sonst jemand vorbeikommt, der hinter die Front geht, geh mit und melde dich bei der Frontleitstelle. Ich schreibe dir eine Mitteilung. Die gib dort ab! Hast mich verstanden?«

Ein paar Worte, mehr ein Wimmern, drangen zu ihm durch: »Sie werden mich alle für einen Feigling halten und mich verspotten.«

»Wir brauchen Männer mit Köpfchen in den Etappen, bei den Funkern, in der Starkstromkompanie oder sonst wo, wo du deine Fähigkeiten unter Beweis stellen kannst. Nicht jeder ist für die Front gemacht. Da gibt es keinen Grund zu spotten.« Hannes’ letzte Worte wurden von einem Aufjaulen begleitet, dem eine gewaltige Detonation folgte. Der Himmel schien in Flammen zu stehen. Graue Rauchwolken zogen über ihn und den jetzt laut jammernden Burschen hinweg.

»Bleib einfach hier in Deckung, bis ich jemanden finde, der dich zurückbringt!«, wies Hannes ihn an und erhob sich. Er jagte ein paar der erschrocken aus ihren Höhlen kletternden Neuen zurück, obwohl er annahm, dass sie – im Gegensatz zu Hillgart – kein Auge mehr zutun würden. Doch solange die Artillerie sie mit einem Teppich aus Geschossen belegte, hielten auch die Jungs im gegenüberliegenden Schützengraben die Köpfe fein unten.

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Im Morgengrauen eines weiteren trüben, nasskalten Tages endete der schwere Beschuss. Zufrieden blickte Hannes den Grabenabschnitt entlang. Noch hatte er keinen Mann eingebüßt, wenngleich sie nach dieser einen Nacht aussahen, als hätten sie sich eine Woche lang im Dreck gesuhlt. Sie verschmolzen förmlich mit der dunklen Erde des Aushubs, was aber nicht zwingend ein Nachteil für ihre Sicherheit darstellte.

Seine vier Unteroffiziere verstärkten die Wachen, die durch kleine Vertiefungen oder provisorisch angelegte und getarnte Schießscharten die gegnerische Linie im Auge behalten sollten. Allerdings glaubte Hannes nicht an einen Infanterieangriff, wie es sie noch vor Tagen gegeben hatte. Es gab keinen Platz mehr, um zu agieren. Aus diesem Grund buddelten sich beide Seiten zunehmend tiefer ein und bemühten sich darum, die Grabensysteme auszubauen und zu vervollkommnen.

Als es abgesehen von dem einen oder anderen kurzen Scharmützel in verschiedenen Frontabschnitten ruhig wurde, kauerte sich Hannes hin, zog seinen Notizblock und den Bleistift aus der Tasche und verfasste eine Nachricht für Heinz.

Erst als Adrian ihn ansprach, wurde ihm bewusst, dass der ihm beim Schreiben über die Schulter sah. »Sie sind ein feiner Kerl, Herr Leutnant. Ich bin froh, bei Ihnen gelandet zu sein.«

»Und ich werde in deinen Augen gar nicht mehr fein sein, wenn du noch mal meine Post liest!«, fauchte Hannes den respektlosen Kerl an, der erschrocken zurückzuckte.

»Jawohl, Herr Leutnant. Ich tue es nicht wieder, Herr Leutnant!«, erwiderte er und stand stramm. Hannes zerrte ihn zurück in die Deckung. Prompt deckte ein MG sie mit einer hektisch knatternden Salve ein.

»Bestens, jetzt hast du noch ein MG-Nest auf uns aufmerksam gemacht!«, knurrte Hannes und gab seinen Unteroffizieren durch Zuruf und einen Wink zu verstehen, dass sie ihre Männer aus den Erdhöhlen jagen sollten.

Die Anspannung in ihm stieg schlagartig an, als er sein Gewehr auf die oberste Schicht brauner Erde legte und versuchte, zwischen den wie achtlos hingeworfenen Stacheldrahtschleifen hindurch auf die Gegenseite zu sehen. Eine hastige Bewegung jenseits des Feldes veranlasste ihn, einen gezielten Schuss abzugeben, worauf kurz Stille herrschte, ehe die wütende Antwort folgte.

»Feiner Kerl, ja?!«, murmelte er grimmig und schob die Nachricht in die Uniformtasche. Er dachte an Edith und fühlte sich hundeelend.

Wieder mischte sich das Maschinengewehrtrommeln unter die Gewehrschüsse, wobei der Schütze ihren Standpunkt genau im Visier behielt. Ihr Vorteil war nur, dass sie höher lagen als die Franzosen.

Hannes ließ den MGler schießen und gab Eisenburg und Lasswitz, die sich mit ihren etwa zehn Mann ganz außen befanden, durch Bubi, der wie immer gewandt und fast unsichtbar durch den Graben flitzte, die Erlaubnis zurückzufeuern.

Betrübt senkte er den Kopf, sodass er mit seiner Stirn an der nassen Grabenwand lehnte. Er focht seinen eigenen inneren Kampf angesichts seiner Schwäche aus. Die Scham, die ihn übermannte, wenn er daran dachte, wie viel Spaß er mit Dorine gehabt hatte, ehe sein Hirn wieder zu arbeiten begonnen hatte, marterte ihn.

»Was macht er denn? Jemand muss was tun!« Adrians Gebrüll riss Hannes aus dem schwarzen Loch seiner Frustration. Erschrocken drehte er den Kopf in die Richtung, in die der Rotschopf zeigte. Heinz stand oben auf der Deckung und vollführte einen eigentümlichen Tanz.

»Scheiße!«, entfuhr es Hannes. Er musste mit ansehen, wie Hillgart sich aufrichtete und vergeblich nach den Beinen des Burschen zu greifen versuchte. Wieder und wieder bemühte er sich darum, seinen Schutzbefohlenen in den Graben zu ziehen.

Hillgart wurde von einem Treffer zurückgeschleudert und sackte zusammen. Währenddessen schwang der Neue noch immer die Beine. Waldmanns alberne Geschichte über den Cancan!, schoss es Hannes durch den Kopf. Er ließ sein Gewehr auf der Deckung zurück. Geduckt hastete er über den matschigen Untergrund, wobei ihm prompt beide Füße wegrutschten. Beinahe wäre er auf Hillgart gestürzt.

Sein Kopf drohte zu platzen. Bilder von Edith und den Kindern, von den weißen Brüsten der Französin und die verschreckten Augen von Heinz jagten durcheinander. Mühsam rappelte er sich auf. Der Tänzer war verschwunden. Die entsetzt aufgerissenen Augen seiner Klassenkameraden bohrten sich förmlich in die von Hannes. Sie und die tobenden Schuldgefühle in ihm veranlassten ihn, das zu tun, was er seinen Soldaten streng verboten hatte.

Kraftvoll stemmte er sich auf die Deckung. Keine zwei Meter von ihm entfernt lag der wild zuckende Körper des Jungen. »Schiebt mich hoch!«, brüllte Hannes, ohne die verdreckten Schuhe von Heinz aus dem Blick zu verlieren. Schüsse krachten, auch die Artillerie feuerte wieder.

Hannes’ Befehl wurde umgehend befolgt. Jemand drückte ihn an den Füßen in die Höhe, bis er sich flach in den Morast legen konnte. Mit beiden Händen packte er die noch immer zuckenden Beine. Er zog Heinz zu sich. Um ihn in den Graben hinabgleiten zu lassen, musste Hannes sich aufrichten. Die Kugeln aus der MG warfen Steine und Matsch auf und schwenkten – von Hannes unbemerkt – auf ihn zu. Ein paar von ihnen bereiteten dem Zucken des Verletzten ein Ende, die nächsten bohrten sich unbarmherzig in dessen Helfer.

25 Bajonett

26 In den sog. Liegestellen versuchten die Soldaten im Schützengraben zu schlafen. Diese oft nur notdürftig ausgehobenen Löcher in Feindrichtung waren meist zu niedrig, um darin sitzen zu können. Wer Glück hatte, konnte seine Liegestelle mit einem Holzbrett auslegen, das Pioniere zurückließen.