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Das Klingeln des Telefons bahnte sich nur langsam den Weg durch die Kopfhörer und den Beat in mein verstopftes Gehirn und holte mich zurück in die Gegenwart.

Es war Felicity Melroy. »Hast du das im Fernsehen gesehen?«, schrie sie aufgeregt ins Telefon. »Sie haben Susanne Schuster befreit. Sie bringen es in den Nachrichten!«

»Was?«

»Susanne Schuster ist frei! Unverletzt! Stell dir das vor. Sie haben es geschafft. Sie haben sie und noch fünf andere Geiseln aus dem Camp geholt. Es war ein regelrechter Coup. Das hätte man dem kolumbianischen Militär gar nicht zugetraut. Sie hatten einen Verbindungsmann in der Gruppe. Der hat denen klargemacht, dass die Geiseln nicht mehr sicher seien an dem Ort, wo sie waren, irgendwas mit Schwarzem Wasser oder so ähnlich. Aber der Hubschrauber, der dann kam, um die Geiseln in ein anderes Camp zu verlegen, der war vom Militär. Und als den Leuten von der FARC das aufging, war es schon zu spät. Da war der Hubschrauber schon in der Luft. Und mitten in dem Durcheinander hat das Militär zugeschlagen. Zehn oder zwanzig FARC-Rebellen sollen ums Leben gekommen sein.«

Meine Hände und Füße wurden schlagartig eiskalt. Ich konnte den Telefonhörer kaum halten.

»Und was ...« Ich hatte praktisch keine Stimme zur Verfügung. Außerdem wurde mir klar, dass Felicity auf meine Frage »Was ist mit Damián?« nicht hätte antworten können, ganz abgesehen davon, dass sie sie nicht verstehen würde.

»Sie sind schon auf dem Weg nach Bogotá«, redete Felicity weiter. »Sie haben Bilder von ihnen im Fernsehen gezeigt. Susanne Schuster sieht ein bisschen abgemagert und müde aus, ist aber offenbar gesund und unverletzt.«

»Und bei der Schießerei ...«, versuchte ich es erneut, aber meine Stimme gehorchte mir nicht.

»Zwei oder drei Militärs sind wohl auch getötet worden. Aber das ist alles noch nicht so klar. Anscheinend wusste man schon seit einiger Zeit, wo Susanne Schuster gefangen gehalten wurde. Und man hatte schon seit einigen Monaten einen Verbindungsmann in der Gruppe. Ohne ihn hätte man die Falle nicht aufstellen können. Ist das nicht ein Ding?«

Damián! Ich wusste es todsicher. Er war der Verbindungsmann gewesen. Das war es, was er mir nicht hatte sagen können, auch im Moment unserer größten Nähe nicht. Ich hätte mich gestern nicht von ihm verabschieden können, wenn ich es gewusst hätte. Und wenn ich es gewusst hätte, wie anders wäre mein Abschied ausgefallen. Wie grauenvoll anders. O Damián. Bitte nicht! Sei du es nicht! Ruf mich an!

Aber welche Illusionen konnte ich mir noch machen? Clara und Juanita waren fort, Hals über Kopf. Dafür gab es nur eine logische Erklärung. Sie wussten, spätestens seit heute Morgen, dass Damiáns Deckung aufgeflogen war. Sie wussten, dass er der Verräter gewesen war, der dem Militär die Befreiung der Geisel ermöglicht hatte. Und nun mussten sie die Rache der Organisation fürchten. Eine andere Erklärung gab es nicht. Aber musste Damián darum tot sein? Nicht unbedingt. Vielleicht musste er nur das Land verlassen, seinen Namen wechseln, eine neue Identität annehmen.

Andererseits musste er sich doch denken können, in welchen Schrecken mich diese Nachricht versetzen würde. Ein kleiner Anruf, eine E-Mail, irgendeine Nachricht hätte genügt, um mich zu beruhigen. Oder war es am Ende zu europäisch gedacht, wenn ich glaubte, der Gang zum Telefon sei immer der erste Weg nach überstandener Gefahr? Vielleicht gab es da, wo er sich gerade befand, kein Telefon.

 

Ich weiß nicht mehr so genau, wie das Gespräch mit Felicity Melroy weiter verlief, bin mir aber sicher, dass ich ihr noch mitteilte, dass meine Eltern und ich das Land in zwei Tagen verlassen würden.

Das ist doch alles gar nicht wahr!, dachte ich, während ich es Felicity erklärte. Das alles geschieht nicht wirklich. Aber es geschah. Es geschah unaufhaltsam. Es war nicht zu stoppen.

An diesem Abend durfte ich mir noch Hoffnungen machen. Noch durfte ich bei geöffnetem E-Mail-Programm am Computer sitzen, mit brennenden Augen darauf starren und hoffen, dass sich im nächsten Augenblick eine Botschaft von Clara oder Damián öffnete. »Ich bin okay. Wir treffen uns morgen. Ich rufe dich an. Alles wird gut. Ich liebe dich.«

Morgen schon, wenn die Zeitungen herauskamen mit der jubelnden oder winkenden Susanne Schuster auf der Titelseite, würde ich am Ende des Artikels die Namen der Todesopfer lesen – »Damián Dagua, 20 Jahre« –, falls tote Guerilleros den Journalisten überhaupt eine namentliche Würdigung wert waren.

O Gott!

Ich machte den Fernseher an und landete bei einem amerikanischen Nachrichtensender. Auch der brachte es groß, ließ Reporter sprechen, zeigte Leichen. Während ich, der Ohnmacht nahe, Gesichter zu erkennen versuchte, war ich zugleich unendlich dankbar, dass weder mein Vater noch meine Mutter zu Hause waren. So musste ich wenigstens meine Verzweiflung nicht verstecken. Und es war auch niemand da, der sagte: »Siehste mal! So einer war das!« Oder: »Vielleicht besser so!« Oder: »Das Leben geht weiter. Es wäre sowieso nicht gut gegangen mit euch beiden.«

Ich glaube, ich saß einfach da und heulte.

Der Ruf des Kolibris
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