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Die letzten Wochen vor den Ferien waren vollgestopft mit Tests und Abschlussarbeiten. Ich absolvierte sie wie in Trance. Der Stoff machte mir keine Mühe, und die Anspannung und Konzentration bei den Klassenarbeiten waren für mich wie eine Erholung von der unendlichen Mühe, zu leben und vor meinen Eltern und Elena und all den anderen Alltag zu spielen: zu essen, zu reden, zu atmen, ins Bett zu gehen und aufzustehen, mich anzuziehen, zu frühstücken, in die Schule zu fahren, in den Pausen über Nichtigkeiten zu plaudern, in der Mensa ein Gericht auszuwählen, als ob es von Bedeutung wäre, was ich aß und ob ich überhaupt etwas aß, und nachmittags wieder heimzufahren.

Manchmal ertappte ich meine Eltern dabei, wie sie sich leise unterhielten und laut das Thema wechselten, wenn ich ins Zimmer trat. Einmal hörte ich, bevor ich eintrat, meine Mutter sagen: »Ich glaube nicht, dass sie sich heimlich mit ihm trifft. Wann denn? Sie kommt immer gleich heim nach der Schule und lernt.«

»Ihr könnt ganz beruhigt sein«, sagte ich, als ich eintrat. »Das mit Damián ist vorbei. Ich werde ihn nie wiedersehen.«

»Das tut mir leid«, sagte meine Mutter.

Es tat ihr sicherlich wirklich leid, weil sie sah, dass es mir nicht gut ging, aber natürlich waren sie und mein Vater einfach nur erleichtert. Sie fragten nicht einmal, was passiert war. Sie wussten sicher, dass er nicht mehr im Colegio arbeitete, denn meine Mutter telefonierte regelmäßig mit Elenas Mutter. Ich fragte sie nicht, wer den Rauswurf von Damián tatsächlich veranlasst hatte. Es war nicht mehr wichtig. Meine Eltern waren es sicherlich nicht gewesen, die bei der Rektorin angerufen hatten. Ich erzählte ihnen allerdings auch nie von meinem Besuch bei Mama Lula Juanita im Haus am Wald. Es war, als sei das alles eine unglückliche Affäre, die man am besten totschwieg.

Aber ich dachte oft an die sieben Leben der Liebe, die Juanita aufgezählt hatte: Schrecken, Blindheit, Wandlung, Erfüllung, Zerstörung, Opfer und Erlösung. Den Schrecken hatte ich bereits erfahren. Es war kein böser Schrecken gewesen, sondern ein freudiges Erschrecken: Der ist es. Ich habe mich verliebt. Jetzt ist es so weit. Jetzt ändert sich alles.

Ich erinnerte mich gut, dass es mir auch Angst gemacht hatte. Ich hatte deutlich erkannt, dass ein Leben mit dem Indio Damián mich ganz woanders hingeführt hätte, als ich es vor ein paar Wochen noch gedacht hatte. Bestimmt nicht zum Medizinstudium nach Berlin. Und ich konnte mir auch vorstellen, was Blindheit bedeutete. Liebe macht blind, sagte man ja.

Wobei ich nicht behaupten konnte, dass ich an Damián nur die guten Seiten sah. Im Gegenteil. Ich sah eher die schlechten. Er hatte mir ja auch keine andere Wahl gelassen. Er hatte sich entschieden und es dabei nicht für nötig gehalten, mir seine Entscheidung zu erklären. Er hatte mir keine Möglichkeit gegeben, meine Argumente vorzutragen, falls ich welche gehabt hätte. Er hatte mich nicht zu Wort kommen lassen. Wenn er so einer war, der einsame Entscheidungen traf und bei dem die Frauen nichts zu melden hatten, auch wenn es sie direkt etwas anging, dann gefiel mir das eigentlich nicht. Das fand ich nicht tolerabel. Vermutlich war er so erzogen. Aber damit würde ich nicht leben können.

Manchmal kam ich sogar an den Punkt, wo ich zu erschöpft war, um weiterzugrübeln, und plötzlich Erleichterung empfand bei dem Gedanken, dass es nicht hatte sollen sein, dass ich frei war, dass alles so blieb, wie ich es kannte, dass meine Zukunft nun doch wieder die alte war. Ich war immer noch Jasmin Auweiler aus Konstanz am Bodensee, die sich mit Simon in Berlin verabredet hatte, wo sie beide Medizin studieren würden.

Und das Leben ging weiter. Felicity Melroy schickte mir per Mail Hinweise auf Internetseiten, auf denen etwas über die Páez stand. Und ich hielt in der Schule ein Referat über Popayán, die Hauptstadt des Cauca und eine der ältesten Städte von Kolumbien.

Eine gute Ablenkung waren auch die Vorbereitungen für unsere Reise in die Berge zu der Smaragdmine von Inza. Elena war ganz aufgeregt in Erwartung der Reise und ihres Geburtstags und sprach von nichts anderem. Mein Vater hatte alle Hände voll damit zu tun, eine sinnvolle Apotheke für seine ärztlichen Pläne zusammenzustellen. Wir würden mit dem Hubschrauber fliegen, deshalb konnte er nicht viel mitnehmen. Es galt zu überlegen, was die Minenarbeiter und die Familien, die unterhalb der Mine in Slums hausten, wohl für Krankheiten hatten, vermutlich Verletzungen, Entzündungen, Hautkrankheiten, Nierenprobleme und Durchfall.

Zwei Tage, bevor es losgehen sollte, eröffnete uns Mama, dass sie nicht mitkommen werde. Sie hatte sich immer noch nicht wirklich an die dünne Luft gewöhnt und befürchtete, dass sie einen Migräneanfall bekommen werde. Damit wäre sie für drei Tage lahmgelegt.

»Dann fahren wir auch nicht«, beschloss mein Vater sofort. »Dann bleiben wir alle hier.«

»Aber dir ist das doch so wichtig!«, antwortete meine Mutter.

Mein Vater und ich wechselten einen kurzen Blick. Wir beide wussten, dass meine Mutter mehr Angst hatte, als sie zugeben wollte. Sie befürchtete immer das Schlimmste, während mein Vater eher der Typ war, der sagte: »Es wird schon gut gehen.« Er war hierhergekommen, um genau das zu tun, wozu er jetzt durch Elenas Vater die Chance bekam: helfen, wo Hilfe selten hinkam und dringend nötig war. Im Grunde hatte meine Mutter unserem Jahr mehr aus Liebe zu meinem Vater als aus Interesse zugestimmt. Seit wir hier waren, ging es ihr nicht gut. Der Job im Labor gefiel ihr nicht besonders. Sie kam sich überflüssig vor, denn die technische Ausstattung entsprach kaum dem Standard, den sie gewöhnt war, und ihr Spezialwissen war nicht gefragt. Eine Zentrifuge könne jeder anstellen, sagte sie.

Vielleicht hätte ich es ihr und meinem Vater leichter gemacht, wenn ich jetzt gesagt hätte: »Papa, fahr du mal. Ich werde hierbleiben, bei Mama.« Dann hätte Papa sein Abenteuer gehabt und Mama hätte sich nur um ihn und nicht auch noch um mich Sorgen machen müssen.

Aber ich brachte es einfach nicht fertig, das zu sagen. Es ging nicht. Der Gedanke, zwei Monate lang in dieser Wohnung in der abgeschotteten Siedlung zu hocken und nichts Besonderes zu tun zu haben, war der pure Horror. Fast alle Schulkameraden, mit denen ich mich hätte treffen können, wenn ich gewollt hätte, waren weg, machten Urlaub in der Karibik oder an der Pazifikküste.

Und was den Horror nicht gerade milderte, war John Greens Angebot, mir die Museen und kulturellen Einrichtungen der Stadt zu zeigen. Er hatte uns seit dem Ball einige Male besucht, artig mit Krawatte auf dem Sofa im Salon gesessen und mit meinen Eltern Konversation gemacht. In seinem Kopf spukten offenbar solche Ideen herum, dass man einer Tochter den Hof machte, indem man sich gepflegt mit den Eltern unterhielt, während meine Eltern amüsiert und leicht ungeduldig darauf warteten, dass er sich endlich mit mir zurückzog, woran ich wiederum kein gesteigertes Interesse hatte. Ich wusste nicht wirklich, was ich mit ihm reden sollte, und die Idee, mir das von den spanischen Eroberern zusammengeklaute Gold von Bogotá anzuschauen und Johns kunsthistorische Erklärungen anzuhören, war eher ein Grund, fluchtartig die Stadt zu verlassen. Unsere Reise in die Berge des Cauca fand er natürlich gefährlich und bedenklich. Das Einzige, was ihn einigermaßen beruhigte, war die Tatsache, dass wir nicht mit Autos fahren, sondern mit dem Hubschrauber fliegen würden.

Der Ruf des Kolibris
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