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Andererseits, worauf hätten wir noch warten sollen? Damián fuhr eine halbe Stunde später mit einem alten, klapprigen Ford vor unserem Hotel vor. Elena, mein Vater und ich quetschten uns in den Fond, und Leandro saß vorn. Wir fuhren auf der 25 nach Nordosten aus der Stadt hinaus. Im Tal war die Straße asphaltiert, als es dann in die Berge ging, bröckelte der Asphalt ein bisschen. Die Sonne ließ sich kaum blicken. Es nieselte. Aber es war immer noch deutlich wärmer als in Bogotá.

Gegen Mittag durchquerten wir Silvia, eine hektische kleine Stadt voller Verkehr, von dem man sich fragte, wo er herkam. Schließlich erreichten wir eine Ansammlung von Häusern am Ende eines Tals. Die Berge schoben sich bis hinauf in die Wolken. Damián fuhr das Auto hinter ein Haus und ließ uns aussteigen. Auf einer Koppel dösten vielleicht zwanzig struppige Pferde vor sich hin.

Ein Schild am Haus warb für Exkursionen zu Pferd nach Tierradentro mit seinen unterirdischen Grabstätten der Nasas. Aber Touristen, die das wollten, waren keine da. Auf der einzigen, schlammigen Straße waren nur Kinder und Alte zu sehen, viele in blauen Kitteln, und ein paar Mädchen, die kaum sechzehn Jahre alt sein konnten und schon Babys an der Brust trugen. Sie steckten in weiten Röcken, Strickpullovern und Ponchos. Die Gesichter unter den schwarzen Bowlerhüten waren ernst, fast finster.

Zur Pferdefarm gehörte ein Gasthaus, in dem alte Männer saßen und tranken. Eine Frau tischte uns Bandeja Paisa auf, einen Teller mit Reis, Bohnen, Maniok, Avocado, Hackfleisch, Spiegelei und Schwarte. Damián kümmerte sich derweil um die Pferde. Eine halbe Stunde später standen fünf gesattelte Pferde bereit, auf dem sechsten befanden sich die Medizinkoffer meines Vaters.

Über die knochenharten Sättel waren verfilzte Schaffelle gezogen. Sie hatten vorn einen Aufbau, wie man ihn von Westernsätteln kannte, nur dass der Sattelknauf fehlte. Die Gurte waren schwarz und rissig und die Steigbügel so breit, dass man mit dem ganzen Fuß aufsetzen konnte. Es waren Sättel, in denen Kuhhirten den Tag verbrachten und aus denen auch mein Vater nicht bei erster Gelegenheit herausfallen würde.

Elena stöhnte natürlich nicht nur über die Cowboysättel, sondern auch über die Gäule. Sie hielten einem Vergleich mit den englischen Halbblütern, die wir in Bogotá mit englischen Sätteln zu reiten pflegten, nicht stand. Aber sie waren für Wind und Wetter, steile Aufstiege und Geröll wie geschaffen.

Der Pferdebesitzer verteilte an uns noch Ponchos aus Plastik gegen den Regen. Sie hielten immerhin bis zu den Knien hinab halbwegs trocken. Dann ging es los. Damián ritt vorneweg, gefolgt von meinem Vater, mir und Elena. Leandro machte zusammen mit dem Packpferd am Strick den Schluss.

Ein unbändiges Glücksgefühl flatterte mir in der Magengrube herum. Ich versuchte nicht, es zu ergründen.

Die Bäume tropften, es roch nach feuchter Erde. Sobald irgendwo ein Baum voller Blüten hing – und in dieser Gegend ohne Jahreszeiten blühte es immer irgendwo –, schwirrten wie fliegende Smaragde und Rubine Kolibris von Blüte zu Blüte. So nahe war ich dem Urwald bisher noch nicht gekommen. Immer waren Fensterscheiben eines Autos zwischen mir und dem tropischen Hochwald gewesen. Auf dem Pferd kam man der Natur dagegen sehr nahe, näher als ein Fußgänger. Denn Wildtiere fürchteten sich nicht vor Pferden.

Die unheimlichen Töne von Brüllaffen hörte man kilometerweit. Papageien flogen in bunten Schwärmen auf. Insekten sirrten in der Luft. Einmal meinte ich sogar zu sehen, wie ein Tapir sich ins Unterholz verdrückte. Vielleicht war es auch eine Täuschung, ich hatte keine Ahnung, ob es hier Tapire gab. Immer wieder hatte ich gelesen, dass Kolumbien eine der artenreichsten Gegenden der Welt war. Hier gab es Tiere, die noch niemand entdeckt hatte, und vor allem Pflanzen, deren Nutzen für die Medizin bestenfalls einheimische Medizinmänner kannten.

Als wir nach einigen Stunden eine kleine Hochebene erreichten, auf der wilde Lamas grasten, blickte Damián sich um, zügelte sein Pferd, ließ meinen Vater vorbei und schwenkte an meine Seite.

»Alles okay?«, erkundigte er sich.

»Ja, und bei dir?«

Er lächelte. Alle Härte, Müdigkeit und Bitterkeit waren aus seinem Gesicht verschwunden. Sein hartes Stadtgesicht, so schien mir, hatte ich in Bogotá auf dem Ball und in Popayán zu sehen bekommen. Aber er hatte noch ein Gesicht, ein weiches mit wachem Blick und entspannten Lippen, auf denen ein natürliches Lächeln lag. Er ritt einen Braunen, der mehr Temperament hatte, als er momentan zeigte. Auch wenn Damián nicht schulmäßig auf dem Pferd saß, sondern ziemlich locker mit durchhängenden Zügeln, sah man, dass er vermutlich früher reiten als laufen gelernt hatte. Die Bewegungen des Pferdes und seine waren eins. Er dirigierte es, anders als Elena und ich, nur mit Gewichtsverlagerungen, also nur mit dem punktgenauen Druck seines Gesäßes und seiner Schenkel, nicht mit dem Zügel.

»Du hast doch gar nicht geschlafen, diese Nacht«, bemerkte ich.

Er winkte ab.

»Ja, ja, Kokablätter schaffen wahre Wunder«, bemerkte ich grinsend. »Hast du welche dabei?«

Er zog die Brauen hoch und griff sich unter den Regenponcho. »Willst du?« Auf seiner Hand lagen fünf Blätter. Sie waren weißlich bestäubt.

»Kalk«, erklärte er. »Das setzt die Substanzen frei. Kokablätter enthalten viele Vitamine und Kalzium. Heute essen wir auch Milchprodukte, aber früher waren Kokablätter als Kalziumquelle sehr wichtig.«

Ich nahm die Blätter.

Er lächelte. Dann drehte er sich zu Elena und Leandro um, die nebeneinander ritten, weil der Weg gerade breit genug war, und bot ihnen auch welche an. Beide griffen zu.

»Und dein Vater?«, fragte Damián mich leise, als er wieder neben mir ritt.

Ich grinste. »Keine Ahnung. Probier’s.«

Er schickte sein Pferd vor zu meinem Vater, dem, wie ich an seiner etwas gequälten Haltung sah, vermutlich der Hintern wehtat. Er war es nicht gewöhnt, stundenlang in einem knochenharten Sattel auf einem Pferd zu sitzen.

Ich sah die beiden Männer auf den Pferden vor mir, Schulter an Schulter, einen grauen und einen schwarzen Kopf. Mein Vater, den ich bislang für einen großen Mann gehalten hatte, wirkte schmal und schmächtig neben dem muskulösen und breitschultrigen Damián, der soeben die Hand hinüberstreckte. Ich sah, wie mein Vater erst seinen grauen Kopf schüttelte, dann aber doch zugriff. Damián erklärte ihm etwas, vermutlich, wie man sich die Blätter entweder in die Backe schob oder sie zu einer Kugel biss und unter die Zunge legte. Mein Vater steckte sich die Blätter in den Mund. Damián ließ sein Pferd wieder zu mir zurückfallen.

»Und?«, fragte ich, »hast du ihm auch gesagt, dass er die Blätter später nicht auf den Boden spucken darf, um Pachamama nicht zu kränken?«

Damián schüttelte den Kopf. »Für deinen Vater hat das keine Bedeutung, er glaubt nicht an Pachamama. Und sie lässt sich nicht kränken von einem Fremden, der die Regeln nicht kennt. Sonst hätte sie schon viele von ihrem Boden vertreiben müssen. Und außerdem, wo will man hier mit ausgelutschten Kokablättern sonst hin? Hm?« Er grinste.

»Du glaubst nicht an Pachamama?«

»Was heißt glauben? Ich bin christlich erzogen. Wir sind von den spanischen Eroberern christianisiert worden. Popayán ist sogar ein Zentrum des katholischen Glaubens. Die Kenntnisse der Naturreligionen sind alle verloren gegangen.«

»Aber deine Mama Lula Juanita ...«, widersprach ich.

»Juanita weiß viel, das stimmt. Sie ist aber auch ihr Leben lang herumgereist und hat alles gesammelt, was an Wissen über unsere Götter, die Heilkräfte der Pflanzen und die weiße, graue und schwarze Magie hier und dort noch bekannt ist. Gleichzeitig kann sie sich problemlos in unser heutiges Leben mit Autos und Handys einfügen. Mir fällt es dagegen schwer, mich in ihre Welt, die alte Welt, zurückzuversetzen. Aber ich teile mit ihr die große Achtung, die wir traditionsgemäß vor der Natur und ihren Erscheinungen haben.«

Klar, Damián war kein Urwaldindianer, der sich mit Kokablättern in Trance versetzte und ums Feuer tanzte.

Schweigend ritten wir eine Weile nebeneinander her. Mir genügte es vollauf, Damián dicht neben mir zu spüren, seine Bewegungen, seinen Atem. Aus dem Augenwinkel sah ich seine Hand, die den Zügel hielt. Noch vor einer Woche hatte ich nicht zu hoffen gewagt, dass ich ein, zwei oder drei Tage zusammen mit ihm vor mir haben würde.

»Wie alt bist du eigentlich?«, fragte ich.

»Zwanzig.«

»Und du bist hier irgendwo aufgewachsen?«

Damián nickte kurz angebunden und streckte die Hand aus. »Schau, ein Kolibri!«

Ich sah den kleinen Smaragd von Blüte zu Blüte schwirren, kaum größer als ein Schmetterling. Er blieb immer mehrere Sekunden unterhalb einer Blüte in der Luft stehen, trank den Honig und schoss dann zur nächsten weiter. Sein Flügelschlag war so schnell, dass man nur ein grünes Rauschen sah. Zuweilen schillerte das grüne Gefieder urplötzlich rubinrot.

»Der kleinste der Kolibris«, erläuterte Damián mir, »wiegt nur anderthalb Gramm. Er ist der kleinste Warmblüter, den es gibt. Sein Herz schlägt mehrere hundert Mal in der Minute. Nachts, wenn sie nicht fressen können, fallen die Kolibris in eine Starre, das Herz schlägt nur noch vierzig Mal. Sie müssen ihren Stoffwechsel drosseln, damit sie in den sechs langen Stunden der Nacht nicht verhungern. Kolibris sind die buntesten Vögel der Welt. Sie benutzen ihre Farben, um Konkurrenten zu vertreiben. Jede Blüte hat ihren speziellen Kolibri, den sie mit Honig versorgt. Dafür bestäubt er sie. Es ist eine perfekte Verbindung. Blüte und Vogel können nicht ohneeinander.«

Sein Blick traf mich.

Wahrscheinlich schoss mir das Blut ins Gesicht. Ich hatte in der Tat sofort an uns gedacht. War ich die Blüte, er der Kolibri? Nichts dergleichen, sagte ich mir, wir konnten sehr wohl ohneeinander leben. Wir waren nicht aufeinander angewiesen, um zu überleben. Das war Kitsch. Und dennoch sah ich den fliegenden Smaragd an der roten Blüte noch lange vor mir.

»Bei euch gibt es keine Kolibris, nicht wahr?«, fragte Damián.

»Nein. Wir haben Bienen.«

»Hier gibt es auch Pflanzen, die von Insekten bestäubt werden, aber es regnet oft oder der Nebel hängt in den Bäumen. Dann können Insekten nicht fliegen. Kolibris aber fliegen immer. Deshalb haben sich viele Pflanzen einen Warmblüter als Bestäuber gewählt. Das Leben findet immer einen Weg.«

Auch dieser Satz fiel mir tief in die Seele. Warum sollte es nicht auch für uns einen Weg geben, für Damián und mich, wenn wir nur intensiv genug danach suchten? Hatte er das sagen wollen?

Diesmal begegnete ich seinem dunklen, prüfenden Blick nicht. Er hatte die Augen an den Rücken meines Vaters geheftet, der auf dem Sattel eine bequemere Position suchte. Armer Papa!

Ich fasste Mut. »Müssen wir nicht fürchten, dass Antonio uns hier irgendwo auflauert? Er weiß doch, wo wir hinwollen.«

Ein Schatten fiel auf Damiáns Gesicht. Ich bereute meine Frage sofort.

»Nein«, antwortete er knapp. »Hier herauf wird er sich nicht wagen. Außerdem muss er ...« Er schluckte trocken. »Er muss seine Leute erst wieder sammeln.« Er warf einen kurzen Blick in den Himmel und suchte nach dem hellen Fleck, den die Sonne in die Wolken bohrte. »Wir liegen gut in der Zeit«, verkündete er dann. »Ich glaube, wir sollten deinem Vater eine Pause gönnen.«

Er trieb sein Pferd nach vorn neben das meines Vaters.

Gab es denn nichts, worüber Damián und ich sprechen konnten, ohne dass er die Flucht ergriff?, fragte ich mich. Doch ja, über Kolibris und Kokablätter konnten wir reden, über Pflanzen und Tiere. Das schwirrende Glück in meinem Magen verwandelte sich in einen schweren Stein.

Wir hielten und stiegen ab.

Mein Vater rieb sich den Hintern und stöhnte. »Diese Kokablätter sind ja ein Teufelszeug!«, sagte er dennoch vergnügt. »Hätte ich nie gedacht. Sie machen richtig wach!« Er blinzelte mir zu. »Aber das verraten wir Mama lieber nicht.«

Und weil die Blätter auch den Hunger nahmen, dachte niemand von uns daran, dass wir nichts zu essen dabeihatten. Nicht einmal eine Flasche Wasser. Meine Mutter hätte uns ausgeschimpft. Sie ließ mich nicht in die Schule, ohne mir eine Flasche Wasser in die Schultasche zu stecken, obwohl man im Colegio an jeder Ecke etwas zu trinken kaufen konnte.

Leandro rauchte eine Zigarette. Damián verschwand kurz im Gebüsch und kam mit einer Handvoll grünlicher Beeren wieder, die er zuerst Elena und mir anbot.

»Was ist das?«, fragte Elena.

»Ich kenne nur den indianischen Namen«, antwortete Damián. »Übersetzt bedeutet er so etwas wie Früchte des guten Geruchs oder so ähnlich. Wer sie regelmäßig isst, ist gegen Mückenstiche geschützt.«

Das wiederum interessierte meinen Vater. »Unten im Caucatal gibt es Mücken, die das Denguefieber verbreiten, nicht wahr? Diese Früchte produzieren über den Stoffwechsel vermutlich einen Duftstoff, der die Mücken vertreibt.«

»Vermutlich«, sagte Damián. »Man wird weniger gestochen.«

Ich nahm ein paar Beeren und kostete. Sie schmeckten leicht bitter und entfalteten dann eine honigartige Süße.

»Wie oft hattest du schon das Denguefieber?«, erkundigte sich mein Vater.

Damián zuckte mit den Achseln. »Ich weiß es nicht. Als Kind einige Male.«

»Man kann es vier Mal bekommen«, erklärte uns mein Vater. »Dann ist man gegen die vier Dengue-Virenstämme immun.«

»Es sei denn, man stirbt!«, rief Elena vorwurfsvoll.

»Ach was, die Mortalitätsrate liegt nur bei fünf Prozent«, antwortete mein Vater. »Man sollte nur auf keinen Fall Aspirin nehmen, wegen der inneren Blutungen.«

Elena schüttelte sich. »Hört auf. Ich glaube, mich hat gerade eine Mücke gestochen! Helfen die Beeren auch nachträglich?«

Wir lachten.

Noch nie hatte ich Damián bisher so heiter und entspannt gesehen. Er wirkte jungenhaft, wie er so zwischen uns stand, mit den Beeren auf dem Handteller, und lachte.

Mein Vater wickelte eine der Beeren in sein Taschentuch und verwahrte es in der Jackentasche, um die Pflanze später bestimmen und auf ihre Wirkstoffe untersuchen zu lassen.

»Ihr habt hier ungeheure Schätze«, bemerkte er. »Wer weiß, vielleicht steckt in einer der Pflanzen das Medikament gegen Krebs oder Tuberkulose. Und Leandro, ihr seid so blöd und buddelt nach Smaragden ... Nichts für ungut, aber ...«

Der Gran Guaquero nickte freundlich. »Wenn ich die Gelegenheit gehabt hätte, Pharmazie zu studieren, würde ich vermutlich nicht nach Smaragden graben.«

»Deshalb werden ausländische Firmen unseren Urwald durchpflügen und Milliarden verdienen«, bemerkte Damián mit einem Anflug von Aggressivität. »Und die Medikamente, die sie finden, werden sich meine Leute nie leisten können.«

»Warum so mutlos?«, antwortete mein Vater. »Ihr müsst dafür sorgen, dass ihr selbst es seid, die hier forscht. Ihr habt doch Universitäten. Ihr könnt selbst Firmen gründen.«

Damián ließ die Augen nachdenklich auf meinem Vater ruhen.

Ich war auf einmal stolz auf meinen Papa. Man unterschätzte ihn leicht. Er wirkte immer so freundlich und harmlos mit seinem grauen Bart und seinen lieben grauen Augen, aber er durchschaute mehr, als man ihm zutraute. Das müsse er auch, wenn er bei Kranken die richtige Diagnose stellen wolle, behauptete er immer. Und gerade war er im Stillen dabei, seine Diagnose über Damián zu stellen, den Jungen, von dem ich vor drei Wochen zornig erklärt hatte, dass er der Mann sei, den ich heiraten wollte. Hätte ich das doch nie gesagt! Natürlich war meinem Vater sonnenklar, was hier lief. Vermutlich hatte er mir längst angesehen, dass ich nicht so vorankam, wie ich es mir erhofft hatte. Und nun versuchte er, den jungen Mann aus der Reserve zu locken. Zumindest testete er Damián ein bisschen, wie es sich für einen Vater gehörte.

»Reiten wir weiter!«, sagte Leandro.

»Oje!«, stöhnte mein Vater. »Mir tut alles weh. Ob ich je wieder aufs Pferd komme, weiß ich nicht.«

Leandro half ihm hoch.

Damián setzte sich wieder an die Spitze, Leandro bildete mit dem Packpferd die Nachhut und Elena kam neben mich.

»Da läuft doch was zwischen Damián und dir«, bemerkte sie.

»Nein!«, sagte ich.

Sie lachte. »Wie er dich anguckt. Hast du das gesehen?«

»Ich habe blaue Augen. Deshalb guckt er mich an.«

»So, so! Und du?«

»Was ist mit mir?«

»Du hast dich doch total in ihn verknallt! Das hat sogar dein Vater gemerkt. Mir kannst du es ruhig sagen. Ich erzähle es nicht weiter. Ich könnte das verstehen. So gut, wie er aussieht.«

»Und wenn? Es hätte eh keine Zukunft.«

»Das wäre mir egal«, behauptete Elena. »Wenn ich mich mal verliebe, wäre es mir völlig egal, wer er ist. Ob er Geld hat oder nicht. Das ist egal, wenn man liebt.«

»Aber deinen Eltern wäre es nicht egal.«

Sie lachte. »Du bist unromantisch. Außerdem sind Eltern immer dagegen, ganz gleich, wer er ist. Väter sind immer eifersüchtig auf den Freund ihrer Tochter. Meiner wäre es jedenfalls.«

»Damián ist nicht mein Freund«, sagte ich. »Ich kenne ihn ja kaum.«

Elena lachte vor sich hin.

»Echt nicht!«, rief ich. »Halt endlich die Klappe, ja!«

Sie lachte.

Der Weg führte um eine Bergnase herum und wurde wieder schmaler. Es war mir eine willkommene Gelegenheit, mein Pferd zu parieren und Elena voranreiten zu lassen. Wir mussten uns unter Zweigen durchbücken. Damián, mein Vater und Elena verschwanden zeitweilig aus dem Blickfeld. Auch Leandro fiel allmählich zurück. Er hatte sein Satellitenhandy aus der Westentasche gezogen, wie ich noch sah, bevor die Zweige hinter mir zusammenschlugen. Für einige Minuten war ich allein mit meinem Pferd in der feuchten und dichten Natur, allein mit den schwirrenden Insekten und dem Geflatter unsichtbarer Vögel. Die Blätter tropften, bunte Frösche klebten an ihnen. Zweige knackten, ein flüchtendes Tier raschelte.

Noch vor einem Jahr hätte ich mir nicht träumen lassen, dass ich einmal auf einem Pferd durch den Regenwald der Anden reiten würde. Was hatte ich mich gegen das Jahr in Kolumbien gewehrt! Jetzt war ich froh, dass meine Eltern sich durchgesetzt hatten. Ich hätte sonst einen wichtigen Teil meines Lebens nicht gelebt, dachte ich. Auch wenn ich momentan nicht wusste, ob dieser Teil meines Lebens gut oder böse ausgehen würde. Aber es war mir seltsamerweise gleichgültig. Ich fühlte mich so lebendig und stark wie nie. Insgeheim war ich mir sicher, es könne nicht böse oder traurig enden. Wenn wir uns nur einig waren, Damián und ich. Wenn wir nur wollten.

Hatte mir nicht Elena gerade eben versichert, dass er mich auf diese besondere Art anschaute, dass er sich in mich verliebt hatte? Sie konnte es von außen besser beurteilen als ich, die ich bis über beide Ohren in meiner Erregung steckte. Sie hatte die Zeichen gesehen, die Vanessa auch immer untrüglich erschienen waren und die sie mir nie hatte erklären können. Wenn das stimmte, dann war es ein Wunder, das ich noch gar nicht begreifen konnte. Was für ein Glück, dass ich blaue Augen hatte, die Damián faszinierten, und diese in Deutschland so langweiligen rötlich blonden Haare und eine blasse Haut. Hier wirkte ich exotisch damit. Damián fand mich schön, das hatte er gesagt, gestern auf der Treppe der Kathedrale.

Hinter der nächsten Biegung wartete Elena auf mich.

»Wo ist Papa?«, rief sie.

Ich hielt mein Pferd auch an. Nach einer Weile hörten wir die Tritte von Leandros Pferd wieder. Außerdem hörten wir seine Stimme. Er telefonierte. Als er unter dem Gezweig erschien, steckte er das Handy gerade zurück in seine vieltaschige Weste. Sein Gesicht war ernst.

»Was ist?«, fragte Elena.

»Satellit verloren«, murmelte er. »Zu viele Bäume.«

»Hast du mit Mama telefoniert?«

Leandro schüttelte den Kopf. Seine Miene blieb finster. Er hielt sein Pferd ebenfalls an.

»Was ist los?«, drängelte Elena. »Irgendwas ist doch!«

»Na ja, wahrscheinlich nichts. Ich hatte Pepe dran.«

Das war einer der Bodyguards, die wir auf dem Pass zurückgelassen hatten.

»Sie sind inzwischen in Popayán. Sie haben gehört, dass es einen Kampf gegeben hat, letzte Nacht, ein Gemetzel, heißt es. Fünf Tote. Es soll sich um die Leute von Major Antonio handeln. Aber er selbst ist nicht unter den Toten.«

Mein Herz begann heftig zu pochen.

»Man hat sie im Wald gefunden, nicht weit von unserer Herberge entfernt.«

»Und wer war es?«, fragte Elena etwas beklommen.

»Wer wird das wohl gewesen sein?«, antwortete Leandro hart. Er nickte mit dem Kinn voraus, wo mein Vater und Damián aus unserer Sichtweite verschwunden waren. »Es wäre ein Wunder gewesen, wenn es ohne Blutvergießen abgegangen wäre. Das war zu erwarten gewesen.«

»Und was bedeutet das für uns?«, fragte Elena.

»Wollen wir hoffen, dass meine Spende an den CRIC groß genug war. Jedenfalls befinden wir uns jetzt in seiner Hand. Hoffen wir, dass er es ehrlich mit uns meint. Denn uns schuldet er ja nichts, während wir ihm unser Leben schulden, so wie es aussieht.«

Auf Deutsch hieß das: vom Regen in die Traufe. Aber mir fiel die Übersetzung nicht ein. Und eigentlich wollte ich es auch gar nicht aussprechen. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass wir Geiseln von Damián sein sollten.

»Dann verstehe ich jetzt«, sagte Elena mit Angst in der Stimme, »warum wir so überstürzt aufbrechen mussten. Er wollte nicht, dass wir erfahren, was mit Antonios Leuten passiert ist.«

»Wahrscheinlich gab es keinen anderen Weg«, überlegte Leandro. »Während Antonio und seine Leute mit dem Scharmützel abgelenkt waren, konnte man uns in aller Ruhe aus der Herberge holen, ohne Gefahr, dass Verstärkung anrückte.«

Die glückliche Erregung, die eben noch in mir gegluckert hatte wie ein klarer Quell, versiegte. Die böse Realität der Berge Kolumbiens hatte mich endlich eingeholt und kroch mir eisig in die Glieder. Es hatte so stolz und selbstsicher geklungen, als Damián mir erklärte, dass die Indianer seines Stammes keine Schusswaffen trugen, es hatte klug und pazifistisch geklungen, so als gäbe es ein Häuflein Vernünftiger und eine Chance auf Frieden in diesem Land, in dem jeder gegen jeden kämpfte. Aber es war eine Lüge gewesen, ein schöner Traum, eine Illusion. Im besten Fall hatte er mich beschwichtigen wollen, mich, das naive Mädchen aus Deutschland, das man mit den Gewalttätigkeiten dieses Landes nicht erschreckte. Im schlechtesten Fall hatte er mir den guten Menschen mit Prinzipien vorgespielt, um uns in seine Gewalt zu bringen, aber nicht mich, denn mein Vater und ich waren nichts wert verglichen mit Leandro Perea, El Gran Guaquero.

»Los, weiter!«, sagte Leandro.

»Und wenn wir einfach umkehren?«, fragte Elena.

»Und mein Vater?«, rief ich.

Leandro schüttelte den Kopf. »In zwei Stunden wird es dunkel. Bei Nacht finden wir den Rückweg nicht. Außerdem, wie könnten wir Markus allein lassen ...«

»Er ist Arzt!«, sagte Elena. »Ihm werden sie nichts tun. Sie lassen ihn bestimmt wieder laufen. Sie wollen doch nur dich!«

»Elena!«, donnerte ihr Vater. »Was soll denn Jasmin von dir denken?«

Elena senkte den Blick. »Entschuldige, Jasmin«, murmelte sie.

»Ich habe auch Angst«, antwortete ich.

»Los dann!«, forderte uns Leandro erneut auf. »Nicht, dass wir noch den Anschluss verlieren. Und solange das Telefon funktioniert, sind wir nicht verloren. Ich habe GPS, ich kann meinen Leuten immer haargenau sagen, wo wir sind.«

Der Ruf des Kolibris
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