de

09

– 14 –

 

Als ich zum Parque Caldas zurückkehrte, war es kurz nach zehn. Ich setzte mich auf eine Bank unter einen riesenhaften Gummibaum. Ich hatte zwar meine eigene – eigentlich Simons – Uhr nicht mehr, aber der Turm hatte eine große Uhr, deren Zeiger ich langsam wandern sah. Und jeder Einwohner oder Besucher von Popayán schien einmal am Tag auf den zentralen Platz und in den Park kommen zu wollen. Es war wie ein Volksfest. Die eine Hälfte wollte der anderen etwas verkaufen.

Ich hatte viel Zeit zum Nachdenken. Wir, mein Vater und ich, waren in eines der Abenteuer hineingeraten, die wir unbedingt hatten vermeiden wollen und von denen wir geglaubt hatten, wir seien davor sicher. Wenn Mama das wüsste!

Ich überlegte, ob ich zurück ins Büro des CRIC gehen sollte. Sie würden mich sicher meine Mutter anrufen lassen. Doch was sollte ich sagen? »Mama, wir sind da in eine dumme Geschichte hineingeraten, aber mach dir keine Sorgen, das kriegen wir schon hin.« Auch in der Herberge hätte ich anrufen können. Aber ich verwarf es. Müdigkeit klebte mich an die Bank. Ich hatte wenig geschlafen in der Nacht und die Sonne wärmte so schön. Solange ich mitten unter Leuten saß, war ich sicher. Ihre Stimmen verschwammen zu einem Brei von Geräuschen. Irgendwann schreckte ich hoch. Ich musste einen Moment eingenickt sein.

Mein erster Blick galt der Uhr. Es war ein Uhr durch. Dann schaute ich mich um und entdeckte Don Antonio, der am Ausgang der Gasse mit der Bar stand, im Schatten des Eckhauses, und die Hand zu einem schnellen Zeichen hob. Er wollte, dass ich zu ihm kam.

Auf einmal begriff ich, warum er mich allein auf den Platz geschickt hatte. Wenn er und seine Leute Feinde von Damián waren, dann würde Damián ihn sofort erkennen. Antonios Narbe war auffällig. Damián hätte sofort gewusst, dass ihm Gefahr drohte, und wäre vermutlich umgekehrt. Das gab mir eine gewisse Freiheit Don Antonio gegenüber. Ich beeilte mich darum auch nicht besonders, zu ihm zu gehen. Langsam stand ich auf, gemächlich überquerte ich die Straße, mich immer wieder nach dem Uhrenturm umblickend, so als ob ich ernsthaft mit Damiáns Erscheinen rechnete und mich nicht zu weit vom Treffpunkt entfernen wollte. Und ich blieb in der Sonne stehen, so weit von dem Major in Zivil entfernt, dass er mich nicht packen und in den Schatten der Straße ziehen konnte, ohne dass es die bewaffneten Polizisten, die überall herumstanden, bemerkt hätten.

»Er ist noch nicht da«, rief ich Antonio zu. »Sicher ist ihm was dazwischengekommen.«

Antonio sah unzufrieden aus.

Ich lächelte. »Aber er wird kommen. Um sechzehn Uhr ist der nächste Termin, den ich mit ihm ausgemacht habe, falls er es bis zehn Uhr nicht schafft. Deshalb möchte ich jetzt kurz was einkaufen gehen. Hygieneartikel. Elena braucht da was. Aber du musst mir Geld geben. Ihr habt mir ja heute Nacht alles abgenommen.«

Antonio griff sich in die Jackentasche. Ich machte zwei Schritte auf ihn zu, blieb dann aber stehen und schaute mich um, so als hätte etwas drüben an der Kathedrale meine Aufmerksamkeit erregt.

»Und du«, fuhr ich fort, »kannst in der Zwischenzeit meinen Vater und die anderen hierherbringen. Dann verlieren wir keine Zeit, wenn Damián aufkreuzt. Dann können wir gleich losfahren zu seiner Schwester in die Berge.«

»Komm!«, rief Antonio. »Komm mal her!«

Ich wich zurück und blickte mich hastig um. Ein junger Mann in blauem Kittel schritt zügig den breiten Weg am Rand des Parque Caldas entlang in Richtung Kathedrale. Mein Herz hüpfte. Aber ich wusste, ich irrte mich, ich hatte heute schon ein Dutzend Mal geglaubt, Damián zu sehen, und dann war er es doch nicht gewesen. Er konnte es ja auch gar nicht sein. Er wusste nicht, dass ich auf ihn wartete. Aber es war meine Chance, Antonio zu entgehen.

Ich rief: »Ich glaube, da ist er!«

Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Antonio sich in den Schatten verdrückte, und lief los, ohne mich noch einmal umzudrehen.

Der Mann im blauen Hemd war bei dem Fotografen stehen geblieben, der Fremden und Einheimischen seine Dienste anbot. Ich versuchte, meinen Blick von ihm zu wenden. Ich konnte unmöglich jedem jungen Indio hinterherschauen wie eine läufige Hündin, dachte ich. Aber meine Augen kehrten schon nach wenigen Schritten wieder zu ihm zurück. Ich würde knapp zehn Meter hinter seinem Rücken vorbeigehen, wenn ich meinen Weg zum Uhrenturm fortsetzte. Er trug eine verwaschene graue Hose und die Gummistiefel derer, die aus dem Urwald kamen oder in den Urwald gingen. Das blaue Hemd war fast zu knapp für die breiten Schultern. Das kurze Haar formte im Nackenwirbel ein kleines Fragezeichen. Mir wurden die Knie weich.

Der Fotograf mit seiner Kamera auf dem Bauch und seiner Kladde Beispielfotos erklärte ihm gerade etwas. Der Indio streckte den linken Arm aus, deutete auf den Uhrenturm und schien sich zu vergewissern, dass er den Fotografen richtig verstanden hatte.

Die Knie wollten mir nachgeben.

Die Uhr!

Der Indio trug am linken Handgelenk eine goldene Uhr mit gewölbtem Glas und altem Lederarmband. Und es war nicht seine Uhr. Ich erkannte sie wieder. Es war Simons Uhr, also meine.

»Damián!«

Was ein Ruf hatte werden sollen, missriet mir zu einem Flüstern. Aber der Fotograf sah mich. Vielleicht hatte mein abruptes Innehalten seine Aufmerksamkeit erregt. Er sagte etwas, und der Indio vor ihm drehte sich um, nicht hektisch, aber schnell.

Damián schien nicht einmal überrascht. Aber ich erschrak zutiefst. Ich hatte vergessen, wie schön sein Gesicht war, wie scharf sein Blick, wie dunkel seine Augen, wie süß seine Lippen. Ein Lächeln zuckte in seinen Mundwinkeln. Doch es verlosch im nächsten Moment. Sein Blick löste sich von mir und suchte den Platz ab. Zwischen seinen Brauen war eine steile Falte erschienen. Reserviertheit und Wachsamkeit beherrschten seine Gesichtszüge.

»Entschuldige«, sagte ich. Ich hatte plötzlich das Gefühl, dass ich ihm lästig fiel, zumindest aber erhebliche Probleme bereiten würde mit dem, was ich ihm gleich erzählen musste.

Er richtete seine schmalen schwarzen Augen wieder auf mich. »Wofür?«

Seine Stimme rann mir in die Seele wie Honig. Es war, als kostete ich erneut etwas, von dem ich schon wusste, wie gut es mir tat, und das mich dennoch überraschte, weil es noch besser war, als ich es in Erinnerung hatte. Er hatte nur ein Wort gesagt, und das mit gerunzelter Stirn, doch ich stand da wie überwältigt, zitternd vor Freude und Entsetzen, vor Scham und Begierde. Mein Körper erinnerte sich an seine Hände und seinen Körper, an seine kräftigen Arme, die mich umfangen hatten, als wir uns auf dem Diplomatenball hinter der Stellwand der Cafeteria im obersten Stockwerk des Bolívar-Hochhauses geküsst hatten. Ich hätte auf der Stelle sterben oder ihm in die Arme fallen mögen. Beides ging nicht.

»Wo kommst du auf einmal her?«, fragte ich. »Ich habe auf dich gewartet.«

Er zog die Brauen hoch.

Es war, zugegeben, nicht besonders logisch. »Du bist in großer Gefahr. Sie wollen dich töten!«, setzte ich hinzu, um das Maß der Unlogik vollzumachen. »Ich meine, Major Antonio und seine Leute! Er wartet da hinten in der Gasse.«

Damián nickte.

Unbegreiflicherweise begriff er sofort. Er wandte sich dem Fotografen zu, verabschiedete sich von ihm, nahm mich am Ellbogen und führte mich, ohne sich nach der Gasse umzublicken, in der Don Antonio vermutlich noch immer stand und uns beobachtete, in die entgegengesetzte Richtung, hinüber zum Portal der Kathedrale.

»Ich war im Büro des CRIC«, sprudelte es aus mir hervor, »und habe mit Rocío gesprochen.«

»Ich weiß. Ich komme gerade von dort. Sie hat mir gesagt, dass du mich suchst. Ich habe gerade den Fotografen gefragt, ob er dich gesehen hat. Gilberto sieht alles.«

»Aber Rocío hat doch gesagt ...« Ich kapierte gar nichts. »Sie hat mit deinem Onkel Gustavo telefoniert. Niemand wusste, wo du bist. Wieso bist du doch da? Es hieß, du seist bei deiner Schwester in den Bergen. Mein Vater ist auch hier und wir wollen ...« Ich stoppte, denn ich konnte mir kaum vorstellen, dass ihn die Tatsache erfreute, dass auch Elena und ihr Vater Leandro Perea, El Gran Guaquero, mit von der Partie waren.

Ein amüsiertes Lächeln zuckte in seinem Gesicht. »Ganz schön clever von dir, das Büro des CRIC aufzusuchen und dort nach mir zu fragen.«

Ich fühlte mich geschmeichelt. »Wie hätte ich dich sonst finden sollen?«

Er schüttelte lächelnd den Kopf. »Du gibst nie auf, was?«

»Oh, nein, so ist das nicht gemeint! Ich ... ich respektiere deine Entscheidung. Ich ... ich laufe dir nicht hinterher. Dass ich hier bin, war nicht beabsichtigt. Außerdem, woher hätte ich wissen sollen, dass du auch hier bist? Es war eine Notlüge, sonst wären wir ...«

»Jasmin!«, sagte er sehr leise, aber bestimmend. »Beruhige dich. Ich höre dir zu. Aber du musst mir alles der Reihe nach erzählen. Sonst verstehe ich gar nichts. Und zunächst müssen wir hier weg.«

Er nahm mich am Arm und führte mich hinein in die Kirche. Drinnen war es kühl und dämmrig und roch nach Weihwasser und Kerzen. Viel Gold und viel Weiß beherrschten das Kirchenschiff; die Säulen und Arkaden waren von barocken Schnörkeln überwuchert. Der Chor bestand aus einer gänzlich vergoldeten Wand, in deren Nischen Heilige standen. Auch wenn die Besucher nicht nur aus frommen alten Frauen bestanden, sondern auch aus Touristen, war es dennoch still. Und Antonio würde es niemals wagen, uns hier mit Waffengewalt aufzustöbern. Nicht in einer Kirche. Damián zog mich in eine der knarrenden Bänke, setzte sich und wandte sich mir zu, die Hand über die Rückenlehne der Vorderbank gelegt.

»Nun erzähl mal«, sagte er. »Was genau ist passiert?«

Automatisch senkte ich die Stimme. Das half mir, ruhig und der Reihe nach zu erzählen, was geschehen war. Ich berichtete von unserem Aufbruch im Hubschrauber von Leandro Perea, von unserer Landung in Campoalegre und unserer Weiterfahrt in zwei Jeeps, von dem Sattelschlepper, der sich festgefahren hatte, von dem Überfall der Gruppe von Major Antonio, von meiner Notlüge mit seiner, Damiáns kranker Schwester, weil Leandro den Guerilleros verschweigen wollte, dass wir eigentlich zur Mine wollten, von der Fahrt im Laster nach Popayán, die in der Herberge und mit unserer Erkenntnis geendet hatte, dass wir vermutlich Geiseln von Don Antonio waren, von meinem Gang ins Büro des CRIC und Rocíos Vermutung, dass es Don Antonio nur darauf ankam, durch mich, ihn, Damián, in die Hände zu bekommen.

Er hörte sich alles schweigend an. Nur als ich von meiner Notlüge mit seiner kranken Schwester erzählte, veränderte sich seine Miene kurz. Und als ich geendet hatte, bemerkte er: »Meine Schwester Clara ist tatsächlich schwer krank.«

»Ich weiß, Damián«, antwortete ich. »Sonst wäre ich doch nie auf die Idee gekommen, dich da so mit reinzuziehen. Deine Mama Lula Juanita hat es mir erzählt.«

Unbehagen trat in Damiáns Gesicht. Aber er schien nicht überrascht. Er wirkte eher wie einer, der an etwas erinnert wird, was er zu vergessen versucht hat.

»Ich ... ich habe sie vor drei Wochen besucht«, beeilte ich mich zu erklären. »Ich wollte ... nun ich wollte wissen, wo du steckst. Ich wollte dir sagen, dass ich ... ich es unmöglich finde, dass die Rektorin dich entlassen hat, nur weil Leandro ...«

Damián schüttelte den Kopf. »Nein! Señora Aldana hat mich nicht entlassen. Ich bin ...« Er zögerte. Sein Gesicht verschloss sich. »Es war meine eigene Entscheidung. Ich wollte ...« Er unterbrach sich. Sein Blick flüchtete in den goldenen Chor, als könne nur die Mutter Maria ihm weiterhelfen.

»Du wolltest zu deiner Schwester?«, schlug ich vor.

Er schwieg.

»Das hat deine Großmutter jedenfalls gesagt«, fuhr ich fort. »Und du müsstest wegen einer Konferenz des Regionalrats in Popayán sein.«

Ich erwähnte nicht, dass Mama Lula Juanita auch von den sieben Leben der Liebe gesprochen hatte, dem Schrecken, der Blindheit, der Wandlung, der Erfüllung, der Zerstörung, dem Opfer und der Erlösung, und dass ich mich jetzt vermutlich im Stadium der Blindheit befand. Ich erzählte auch nicht, dass ich am Schluss zornig erklärt hatte, ich hätte verstanden, warum Damián sich nicht mit mir, einer Weißen aus dem fernen Deutschland, abgeben konnte, bei den großen politischen Plänen, die er hatte.

Aber vielleicht war sowieso alles ein Irrtum, womöglich war er auch nur ein Guerillero und gehörte einer der vielen, einander bekämpfenden Gruppen an, womöglich sogar der Gruppe von Don Antonio, denn er trug ja Simons Uhr, die mir gestern Nacht einer von Antonios Kämpfern abgenommen hatte.

»Hat Juanita dir nichts davon gesagt?«, fragte ich.

Damián blickte mich wieder an, reagierte aber nicht. »Ja«, sagte er schließlich, »es stimmt. Ich habe hier zu tun. Wir bereiten ein großes Treffen der Indígenas vor.«

»Und deine Schwester?«

»Clara!« Ein leidvoller Unterton trat seine Stimme. »Sie ... sie wird sterben, fürchte ich.«

»Kann deine Großmutter ihr denn nicht helfen? Wenn es nur am Weg liegt, Leandro könnte sie mit dem Hubschrauber holen. Wenn ich ihn darum bitte, wird er bestimmt ...«

Damián schüttelte den Kopf. »Meine Großmutter hat schon alles versucht. Sie kann Clara nicht helfen. Die indianischen Heilmethoden sind sehr erfolgreich, wenn ... wenn die Seele mitspielt. Die Kräuter stärken die Abwehrkräfte und die Zaubersprüche fördern den Willen, gesund zu werden.«

»Aber Clara will nicht gesund werden?«, fragte ich vorsichtig nach.

»Sie kann nicht.«

»Was hat sie denn?«

»Es geht ihr schlecht. Sie kann nicht essen. Schon seit vielen Jahren. Sie ... sie hat immer wieder Fieber und Schmerzen in den Gliedern und im Leib.«

»Mein Vater könnte sie untersuchen. Er kann ihr vielleicht helfen.«

Ein trauriges Lächeln huschte über Damiáns Gesicht. »Das möchtest du so gerne, dass dein Vater meiner Schwester hilft, dass er helfen könnte, nicht wahr, Jasmin? Dein Vater ist ein guter Mann, er würde sicher alles tun, was er kann. Aber auch er wird ihr nicht helfen können, fürchte ich. Clara war schon hier im Krankenhaus. Sie haben viele Untersuchungen gemacht.«

»Aber er könnte sie sich doch wenigstens einmal anschauen. Dann ... dann hätte unsere Reise hierher doch noch einen Sinn. Bitte, lass es meinen Vater versuchen!«

Damián senkte den Blick auf seine Hand, die auf seinem Oberschenkel lag. Ich sah, wie er mit sich rang. Seine Brust hob sich unter einem stillen Seufzer. Dann blickte er mich wieder an.

»Okay, Jasmin«, sagte er. »Aber«, fügte er hinzu, ehe ich auf die Idee kam zu jubeln, »vorher müssen wir wohl deinen Vater, deine Freundin Elena und den Großen Guaquero aus Don Antonios Klauen befreien, nicht wahr?«

Ach ja, richtig! Die schwierige Wirklichkeit brach wieder über mich herein. Seltsamerweise hatte ich jetzt auch endlich die Angst, die ich schon die ganze Zeit hätte haben müssen. Jetzt, wo Hilfe so nah war. Damián würde uns helfen, das war gewiss, aber das bedeutete eben auch, er würde sich selbst in Gefahr begeben. Und das machte mir Angst. Wenn ich daran schuld war, dass er diesem narbengesichtigen Major Antonio de Paicol in die Hände fiel und womöglich ums Leben kam, dann würde ich das nicht überleben. Das stand fest. Und so wie es aussah, war ich schuld daran, dass mein Vater, Elena und Leandro sich in der Lage befanden, in der sie sich befanden, denn es war meine Notlüge gewesen, die uns hierhergebracht hatte. Vielleicht wären wir andernfalls längst tot gewesen oder man hätte uns gleich in irgendein Camp in die Berge gebracht, das mochte ja sein, aber Damián wäre nicht in die Geschichte verwickelt worden.

»Ich möchte nicht, dass du dich in Gefahr begibst«, sagte ich.

Damián lachte leise. »Unser Leben ist immer gefährlich. Aber hab keine Angst, Jasmin. Don Antonio ist ein Dummkopf.«

Er überlegte einen Moment. Dann stellte er mir ein paar Fragen über die Art und Weise, wie wir untergebracht waren. Und es beruhigte ihn, dass wir keine Bewacher auf unseren Zimmern hatten. Jedenfalls bisher nicht.

»Wird es eine Schießerei geben?«, erkundigte ich mich.

»Wir Indígenas von Tierradentro tragen keine Schusswaffen«, erwiderte Damián. »Auf unserem Boden wird kein Krieg geführt, dafür haben die Ältesten gesorgt, als sie, allein mit unseren traditionellen Stäben bewaffnet, den Armeen der Drogenbosse aus Medellín und der FARC gegenübertraten und eine Waffenruhe erzwangen.«

Stolz saß er auf der harten Kirchenbank, den einen Arm über die Lehne der vorderen Bank gelegt, die andere Hand auf seinem Oberschenkel. Nur seine Finger zuckten leise. Er strahlte eine unbegreifliche Ruhe aus, eine Kraft und Sicherheit, die mich umhüllte wie eine warme Decke, in die ich mich am liebsten hineingekuschelt hätte. Es war beinahe unerträglich, ihm so nahe zu sein und dennoch von ihm getrennt. Ich traute mich nicht, seine Hand zu ergreifen. Immerhin befanden wir uns in einer Kirche. Vielleicht hatte er mich hier hereingebracht, damit genau das nicht passierte, damit wir das, was zwischen uns stand, nicht übersprangen, damit sich unsere Hände nicht ineinander verflochten und unsere Lippen sich nicht trafen. Und dennoch konnte ich kaum an etwas anderes denken.

»Pass auf«, sagte er, »du gehst jetzt ...«

Ich musste mich zwingen, den Inhalt seiner Worte zu begreifen.

»... zu Don Antonio und sagst ihm, dass ich erst noch ein paar Dinge erledigen muss, bevor wir in die Berge gehen, und dass wir uns morgen um zehn wieder hier am Uhrenturm treffen. Und dann lässt du dich von ihm zurück in die Herberge bringen. So gewinnen wir Zeit. Ihr benehmt euch ganz normal, ihr esst zu Abend, ihr unterhaltet euch, ihr geht ins Bett. Aber ihr zieht euch nicht aus und ihr habt eure Sachen gepackt und griffbereit. Ihr schlaft nicht alle, einer von euch ist immer wach. Ihr haltet euch bereit, jederzeit die Herberge zu verlassen. Und ihr bleibt auf euren Zimmern, egal, was passiert, bis jemand von uns kommt und euch holt. Verstanden?«

»Aber wie soll das gehen? Unsere Bewacher haben Waffen! Gestern Nacht waren es fünf.«

»Ganz ruhig, Jasmin! Wir werden uns etwas einfallen lassen. Hauptsache, ihr seid bereit, jederzeit die Herberge zu verlassen.«

Er stand auf. Ich rutschte aus der Kirchenbank. Die Uhr, meine Uhr oder genauer Simons, die Damián am Handgelenk trug, fiel mir wieder ins Auge. Wie war er an sie gekommen? Wie konnte das gehen? Vor nicht ganz zwölf Stunden hatte mir diese Uhr ein Kämpfer mitten in den Anden abgenommen. Damián musste Kontakt zu dieser Gruppe oder zumindest zu diesem einen jungen Kämpfer haben, wie sonst hätte er in den Besitz dieser Uhr gelangen können? Doch wenn das so war, dann war alles Lüge, was er mir hier gerade vorspielte: dass er uns befreien werde, dass er niemals eine Schusswaffe anrührte. Wenn er zu der Bande gehörte, die uns gefangen hielt, dann konnte es Antonio auch nicht auf ihn abgesehen haben, dann ging es um etwas ganz anderes. Dann war die Falle eigentlich für Leandro, den Großen Schatzsucher, aufgestellt, einen der reichsten und mächtigsten Männer von Kolumbien. Und wir würden mitten in die Falle laufen, wenn wir uns Damián anvertrauten, wenn wir uns von ihm und seinen Leuten zum Schein befreien ließen und mit ihm in die Berge reisten, um seine kranke Schwester Clara zu besuchen. Wir würden uns gewissermaßen freiwillig in die Hände der Banden mit den Gummistiefeln begeben, welche die Nebelberge kontrollierten.

Die Kirchenbänke nahmen die Mitte des barocken Kirchenschiffs ein, deshalb gingen wir an den Pfeilern und Arkaden entlang zum Ausgang. Aber ich hatte keinen Blick für die Pracht der Kirche. Damiáns Gegenwart nahm all meine Sinne ein, und die waren schon verwirrt genug. Mein Verstand, soweit ich über ihn noch verfügte, schwankte zwischen Misstrauen und ungläubigem Staunen: Würde Damián mir so was wirklich antun, mich und meinen Vater als Geiseln nehmen, nur um Leandro Perea zu bekommen? Aber andererseits, was kümmerte ich ihn denn, ich, eine verwirrte Deutsche, die sich in einen Indio verguckt hatte. Keineswegs musste er dasselbe für mich empfinden wie ich für ihn. Wie oft hatte ich bei meinen Klassenkameradinnen schon beobachtet, dass die große Liebe etwas sehr Einseitiges sein konnte.

Und gleich würde Damián sich von mir verabschieden, sich umdrehen und in den Gassen verschwinden und wieder war nichts geklärt, und noch immer wusste ich nicht, wer er war und was er mir verschwieg. So viele Dinge waren zwischen uns ungesagt geblieben und würden nie gesagt werden. Ich würde ihn verlieren, hatte ihn schon verloren, hatte ihn nie besessen. Es war alles nur ein kurzer Traum gewesen, aus dem aufzuwachen ungeheuer wehtat, körperlich. Mit taten alle Glieder weh und es fiel mir schwer zu atmen.

»Ach ja«, sagte Damián, als wir unter die Säulen hinaustraten, und drehte sich zu mir um. »Deine Uhr!« Er löste Simons Uhr von seinem Handgelenk und reichte sie mir. »Ich habe sie heute Nacht in den Bergen auf dem Weg hierher einem jungen Kerl abgekauft. Es ist doch deine, nicht wahr?«

Mir schwindelte. Es war die einfachste Erklärung. Aber war es auch die Wahrheit?

Zum zweiten Mal nahm ich Simons Uhr, das Pfand meiner Rückkehr nach Deutschland, aus seiner Hand entgegen, zum zweiten Mal hatte Damián sie mir gerettet und bewahrt.

»Aber ...«, stammelte ich, während ich sie mir ums Handgelenk schnallte. »Wo hast du ...?«

»Steck sie lieber in die Tasche«, unterbrach er mich lächelnd. »Damit Don Antonio sie nicht sieht.«

Richtig! Etwas beschämt über meine Unvorsichtigkeit nahm ich die Uhr wieder ab und steckte sie in meine Jackentasche. »Was hast du dafür bezahlt, Damián? Ich gebe es dir zurück. Sobald ich wieder Geld habe.«

Damián hob die Hände und lächelte. »Nein, das wirst du nicht tun.«

»Du musst mir sagen, was du dafür bezahlt hast, Damián! Ich möchte nicht, dass du ...«

»He, Jasmin!« Seine Stimme klang sehr bestimmend. »Wo denkst du hin? Nimm es als Geschenk. Mehr kann ich dir nicht geben.«

Ich spürte seine warme Hand an meinem Kinn, sein Daumen strich sanft, aber unnachgiebig über meinen Kiefer, sein Blick tauchte tief in meinen. Ich konnte ihm nicht ausweichen. Alles um mich herum, die Kathedrale, der Platz, die Menschen, verschwand, versank, verflog. Für einen Augenblick gab es nur uns beide auf dieser Welt, wir waren blind für alles andere. Sein Blick aus tintenschwarzen Augen saugte sich fest an meinem. Ich wollte mich losmachen, konnte es aber nicht.

»Hab keine Angst, Jasmin«, murmelte er. »Ich habe nur noch nie Augen gesehen, die so blau sind wie deine. Blau wie der Himmel. Sie sind wunderschön, weißt du das?«

Im nächsten Moment ließ er mich los, drehte sich um, sprang die Stufen hinunter und eilte davon. Im Nu war seine Gestalt mit den schmalen Hüften und den breiten Schultern im blauen Hemd zwischen Touristen, Händlern und herumrennenden Kindern verschwunden.

Der Ruf des Kolibris
titlepage.xhtml
Lehmann_Kolibri_Seitenumb_split_000.html
Lehmann_Kolibri_Seitenumb_split_001.html
Lehmann_Kolibri_Seitenumb_split_002.html
Lehmann_Kolibri_Seitenumb_split_003.html
Lehmann_Kolibri_Seitenumb_split_004.html
Lehmann_Kolibri_Seitenumb_split_005.html
Lehmann_Kolibri_Seitenumb_split_006.html
Lehmann_Kolibri_Seitenumb_split_007.html
Lehmann_Kolibri_Seitenumb_split_008.html
Lehmann_Kolibri_Seitenumb_split_009.html
Lehmann_Kolibri_Seitenumb_split_010.html
Lehmann_Kolibri_Seitenumb_split_011.html
Lehmann_Kolibri_Seitenumb_split_012.html
Lehmann_Kolibri_Seitenumb_split_013.html
Lehmann_Kolibri_Seitenumb_split_014.html
Lehmann_Kolibri_Seitenumb_split_015.html
Lehmann_Kolibri_Seitenumb_split_016.html
Lehmann_Kolibri_Seitenumb_split_017.html
Lehmann_Kolibri_Seitenumb_split_018.html
Lehmann_Kolibri_Seitenumb_split_019.html
Lehmann_Kolibri_Seitenumb_split_020.html
Lehmann_Kolibri_Seitenumb_split_021.html
Lehmann_Kolibri_Seitenumb_split_022.html
Lehmann_Kolibri_Seitenumb_split_023.html
Lehmann_Kolibri_Seitenumb_split_024.html
Lehmann_Kolibri_Seitenumb_split_025.html
Lehmann_Kolibri_Seitenumb_split_026.html
Lehmann_Kolibri_Seitenumb_split_027.html
Lehmann_Kolibri_Seitenumb_split_028.html
Lehmann_Kolibri_Seitenumb_split_029.html
Lehmann_Kolibri_Seitenumb_split_030.html
Lehmann_Kolibri_Seitenumb_split_031.html
Lehmann_Kolibri_Seitenumb_split_032.html
Lehmann_Kolibri_Seitenumb_split_033.html
Lehmann_Kolibri_Seitenumb_split_034.html
Lehmann_Kolibri_Seitenumb_split_035.html
Lehmann_Kolibri_Seitenumb_split_036.html
Lehmann_Kolibri_Seitenumb_split_037.html
Lehmann_Kolibri_Seitenumb_split_038.html
Lehmann_Kolibri_Seitenumb_split_039.html
Lehmann_Kolibri_Seitenumb_split_040.html
Lehmann_Kolibri_Seitenumb_split_041.html
Lehmann_Kolibri_Seitenumb_split_042.html
Lehmann_Kolibri_Seitenumb_split_043.html
Lehmann_Kolibri_Seitenumb_split_044.html
Lehmann_Kolibri_Seitenumb_split_045.html
Lehmann_Kolibri_Seitenumb_split_046.html
Lehmann_Kolibri_Seitenumb_split_047.html
Lehmann_Kolibri_Seitenumb_split_048.html
Lehmann_Kolibri_Seitenumb_split_049.html
Lehmann_Kolibri_Seitenumb_split_050.html
Lehmann_Kolibri_Seitenumb_split_051.html