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Kälte weckte mich trotz der warmen Alpakadecken, die über mir lagen. Elena schlief noch. Neben ihr lag Leandro. Aber der Platz meines Vaters war leer. Das Haus bestand aus zwei Räumen. Vorne schlief Damiáns Familie, hinten hatte man uns zwischen Säcken mit Mais und Zucker, Töpfen mit Wollfarbstoff und Wollballen auf dem Boden Lager bereitet.

Ich stand auf, sehnte mich nach einer Dusche, tadelte mich für den Wunsch nach minimalem Luxus und verließ durch die hintere Tür die Hütte. Die Sonne ging gerade auf, rosiger Nebel kroch durch die Schluchten herab und verdampfte. Im Osten standen die Berge nicht ganz so hoch. Das Tal von Yat Pacyte, in dem wir uns befanden, stieg klar und tauglitzernd gen Südwesten an, bis die bewaldeten und schroffen Hänge es abfingen. In zweiter und dritter Reihe wurden die Gipfel der Anden immer blauer.

Die Kinder befanden sich am Bach, der die tiefste Stelle des Tals durchschnitt. Ana war bei ihnen, Alejandra sah ich über die Weiden auf eine Kuh mit Kalb zustapfen. Sie hatte einen Eimer in der Hand. Ich holte Zahnbürste und Zahnpasta, die wir gestern Vormittag zusammen mit ein paar notwendigen Kleinigkeiten mithilfe von Leandro noch gekauft hatten, denn er hatte auf einer Bank Geld holen können, und begab mich ebenfalls zum Bach. Ana war dabei, Geschirr und Töpfe aus Blech zu spülen. Sie lächelte, schien aber nicht zu wissen, was sie sagen sollte. Ich sagte, ich hätte gut geschlafen. Sie nickte und lächelte.

»Es ist schön hier«, ergänzte ich. »Es gefällt mir.«

Sie lächelte immer noch. »Aber es ist sicher auch schön, in der Stadt in einer Wohnung zu wohnen, wo das Wasser aus der Wand kommt und wo man Brot in einem Laden kaufen kann.«

»In der Stadt ist es laut und staubig«, sagte ich, kam mir dabei aber vor, als würde ich etwas schlechtreden, was ohne Zweifel einfach besser war. Fließendes Wasser, elektrischer Strom und vor allem ein Klo im Haus. Elena hatte mir gestern Nacht erklärt, dass das Loch in der Erde hinter dem Bretterverschlag, über das diese Ansiedlung verfügte und aus dem die Fliegen stiegen, fast schon Luxus war. Vielerorts gingen die Leute einfach auf die Weide und hockten sich zwischen Lamas und Schafen nieder.

Die Kinder guckten, als ich mir die Paste auf die Bürste quetschte und mir die Zähne zu putzen begann. Das Wasser war eisig kalt und glasklar. Kleine Fische schossen darin herum.

Ich fragte Ana, ob ich ihr abwaschen helfen sollte, aber sie schüttelte den Kopf. Also ging ich zurück. Elena und ihr Vater schliefen immer noch, als ich meine Zahnbürste und die Tube zurücklegte.

An der Feuerstelle vor dem Haus saßen, mit dem Rücken zu mir auf dem Boden, mein Vater und Damián. Mein Vater blätterte in Papieren, wie ich erkennen konnte, und Damián stocherte mit einem Stock im Feuer. Auf dem gemauerten Herd standen ein Topf und eine große Kanne, in der, wie ich hoffte, Kaffee kochte. Die beiden hatten mich noch nicht bemerkt, und ehe ich mich bemerkbar machen konnte, wandte sich mein Vater an Damián. »Diese Untersuchungen hier«, fragte er, »sind vor einem halben Jahr im Krankenhaus gemacht worden?«

Damián nickte. Er trug, obwohl es kühl war, ein graugrünes T-Shirt, unter dem seine Schulter- und Rückenmuskeln spielten.

»Die Nierenwerte sind nicht gut«, sagte mein Vater. »Die Blutwerte deuten auf eine Entzündung hin. Was haben die Ärzte damals diagnostiziert?«

»Eine Stoffwechselerkrankung«, antwortete Damián. »Sie haben gesagt, es sei ein Gendefekt. Es ist unheilbar.«

Mein Vater nickte vor sich hin. »An eine Stoffwechselkrankheit habe ich auch schon gedacht. Wenn es das ist, was ich vermute, dann kann man es behandeln. Clara könnte ein normales Leben führen. Sie müsste allerdings ein bestimmtes Enzym nehmen, und das ein Leben lang. Und sie müsste wohl in die Stadt ziehen, damit sie regelmäßig Infusionen bekommen kann. Leider sind diese Enzyme ...« Er stockte.

»Sie sind teuer«, bemerkte Damián.

Papa nickte. »Es ist eine sehr seltene Krankheit. Man gewinnt die Enzyme aus Zellkulturen des chinesischen Hamsters.«

Damiáns Rückenmuskeln zuckten, er stocherte schweigend im Feuer, das mit ärgerlichen Funken antwortete.

»Eine Portion Infusionslösung kostet«, fuhr mein Vater fort, »über siebentausend US-Dollar. Clara brauchte alle vierzehn Tage eine Infusion. Das würde also ungefähr 15.000 Dollar im Monat kosten. Ich denke, die Umrechnung in eure Pesos kann ich mir sparen.«

Damián lachte trocken auf und warf den Stock ins Feuer.

Es war Zeit, dass ich mich bemerkbar machte. Eigentlich hätte ich das nicht hören dürfen, denn, wie gesagt, mein Vater legte großen Wert auf die ärztliche Verschwiegenheit. Niemals hätte er mit mir oder gar in Gegenwart von Leandro und Elena über Claras Krankheit gesprochen.

Ich trat kräftig auf und ließ ein Steinchen rollen.

Damián fuhr herum.

»Buenos días!«, sagte ich und vermisste wieder mal unter den spanischen Grüßen das »Guten Morgen«.

Damián sprang auf, murmelte etwas, was als Gruß gelten mochte oder als Erklärung, dass er etwas zu tun habe, und verließ die Feuerstelle in Richtung Bach.

Mein Vater faltete die Papiere zusammen und steckte sie in einen abgegriffenen Umschlag zurück. Sie enthielten, wie ich immerhin sehen konnte, Zahlenreihen von labortechnischen Untersuchungen unter dem Briefkopf eines Krankenhauses von Popayán.

»Schlechte Nachrichten?«, fragte ich.

»Hm.«

»Ich habe eben aus Versehen ein bisschen was mitgehört«, gestand ich. »Eine Krankenversicherung gibt es nicht, die die Kosten übernimmt, oder?«

Mein Vater blickte mich mit seinen grauen Augen an. »Kolumbien hat eine vergleichsweise gute Krankenversorgung. Bei Angestellten funktioniert das mit den Krankenkassen wie bei uns in Deutschland. Und für die Arbeitslosen, die Vertriebenen und die Indígenas gibt es das sisben, eine Sozialversicherung, wo die Eigenbeteiligung je nach Einkommen abgestuft ist. Im Notfall muss jedes staatliche Krankenhaus die Menschen erst einmal kostenlos behandeln.«

»Na dann!«

»So einfach ist es nicht, Jasmin. Falls Clara derzeit nicht krankenversichert ist, kann sie einen Antrag stellen. Kein Problem. Aber man würde kommen und sie zu Hause besuchen und schauen, wie viel ihre Familie besitzt. Und das ist vergleichsweise viel. Tiere, ein Haus, es gibt Einkommen, das die Frauen mit Wolle und Stricken verdienen. Das sisben hat verschiedene Niveaus. Wenn jemand gar nichts hat, muss er auch nichts zuzahlen. Aber schon bei Niveau 1 müssten Clara oder ihre Familie fünf Prozent der Kosten für Behandlung und Medikamente übernehmen. Fünf Prozent von 15.000 Dollar im Monat, das wären 750 Dollar! Das ist unvorstellbar viel für so eine Familie. Und es ist auch sehr die Frage, ob die Sozialkasse überhaupt eine so teure Spezialbehandlung zahlen würde. Vermutlich müsste man es mit Anwalt einklagen. Und bis es so weit ist, dass die Kasse zahlt, müsste jemand die Kosten für die Behandlung auslegen.«

»Das könnte Leandro doch machen. Ich meine, der hat doch Geld wie Heu und außerdem ist er Damián verpflichtet und ...«

»Stopp, Jasmin!«

»Aber wenn man ihn fragen würde ... «

»So geht das nicht. Du wirst auf keinen Fall irgendjemandem etwas erzählen! Weder Elena noch Leandro. Dem schon gar nicht! Das ist Sache von Clara und ihrer Familie. Du darfst dich da nicht einmischen.«

»Aber ...«

»Kein Aber. Du kannst nicht einfach fremde Leute verpflichten, dass sie womöglich über Jahre hinweg, wenn nicht ein ganzes Leben lang, die Behandlung für einen ihnen fremden Menschen finanzieren. Das würde nämlich auch bedeuten, dass Clara ein Leben lang von diesen Leuten abhängig wäre. Und was, wenn sie plötzlich nicht mehr zahlen können oder wollen? Dann würden sie sie zum Tod verurteilen. Nein, Jasmin. Es klingt zwar hart, doch das sind Probleme, die man mit privaten Mitteln nicht lösen kann.«

»Aber dann wird sie sterben, oder?«

»Langsam! Wer weiß, ob das, was ich jetzt vermute, wirklich stimmt. Damit ich eine genaue Diagnose stellen kann, müsste Clara mit uns nach Bogotá kommen. Bei uns im San Vicente haben wir sehr viele Möglichkeiten.«

»Okay. Dann nehmen wir sie mit. Ihre Großmutter lebt ja dort.«

Mein Vater lächelte schwach. »Das scheint nicht so einfach zu sein.«

»Wieso nicht?«

»Das habe ich auch nicht kapiert. Anscheinend ist der Onkel dagegen.«

»Welcher Onkel?«

»Der Mann von Damiáns Tante Maria.«

»Und wo ist der?«

Mein Vater zuckte mit den Schultern. »Das wollte Damián mir nicht so genau sagen. Jedenfalls ist er derzeit nicht hier, und ich hatte den Eindruck, dass das ganz gut so ist.«

Mein Vater rieb sich fröstelnd die Hände. Sein Bart war struppig, gekämmt hatte er sich auch nicht. Eigentlich sah er voll süß aus. Wieder einmal war ich ein bisschen stolz auf ihn. Er hatte bisher keinen Stress gemacht, im Gegenteil. Es schien ihm Spaß zu machen. Nie hätte ich gedacht, dass er sich auf so ein Abenteuer einlassen würde. Ich hätte eher erwartet, dass er darauf bestanden hätte, dass wir in Popayán blieben, zur Polizei gingen, die Rückreise planten.

Das würden wir Mama nie erklären können. Ich musste innerlich lachen. Sie würde ihm nachträglich alle die Risiken und Gefahren vor Augen führen, die er in Kauf genommen hatte. »Wie konntest du das nur tun?« Völligen Mangel an Verantwortung als Vater würde sie ihm vorhalten, Unvernunft, romantische Vorstellungen, Vertrauensseligkeit. »Fünf Stunden auf dem Pferd? Bist du von allen guten Geistern verlassen? Du kannst doch gar nicht reiten!« Es würde klingen, als ob sie ein kleines Kind ausschimpfte. »Was hast du dir nur dabei gedacht?«

»Hast du mal mit Mama telefoniert?«, erkundigte ich mich.

»Gestern Abend. Alles okay! Ich soll dir Grüße ausrichten.« Er zwinkerte mir zu.

»Hast du ihr gesagt, wo wir sind?«

Mein Vater grinste. »In einem idyllischen Dorf in den Bergen bei gastfreundlichen Leuten.«

Ich lachte.

»Ist es denn nicht so?« Papa feixte. »Allerdings habe ich langsam Hunger.«

Ich hob den Deckel von dem Topf, der auf dem Herd stand. Knoblauchduft warf mich fast um. Was da brodelte wie Lava, war eine Changua, eine Suppe aus Milch, Wasser, Zwiebeln und Eiern. Die Hauptmahlzeit eben.

»Der Hunger treibt’s rein«, murmelte mein Vater. »Übrigens sollen wir nur abgekochtes Wasser trinken, sagt Mama. Und nur unter Malarianetzen schlafen.«

Wir lachten.

Maria kam aus dem Haus mit Bechern für den Kaffee und Löffeln für die Suppe. Sie lächelte freundlich und erklärte, dass Alejandra gleich mit der Milch komme. Sie begann Kochbananen zu schälen und legte sie zum Braten auf ein Blech. Die Kinder wuselten inzwischen ebenfalls bei uns herum. Leandro und Elena erschienen verschlafen und gähnend.

»Wo kann man sich die Zähne putzen?«, fragte Elena morgenmuffelig.

»Am Bach«, sagte ich und wies in die Richtung. »Das Wasser ist absolut klar und sauber. Soll ich mitkommen?«

Elenas Gesicht hellte sich auf und wir machten uns auf den Weg. Alejandra kam mit ihrem Eimer die Weide herab. Unsere Pferde hatten sich ziemlich weit entfernt, wie ich jetzt sah. Drei von ihnen hatten sich hingelegt, wie es Pferde gerne taten, wenn es am Morgen wieder hell wurde.

Damián war auf dem Weg hinauf zu ihnen. Ohne Hast, aber zügig schritt er aus.

»Was hat seine Schwester denn eigentlich nun?«, erkundigte sich Elena.

»Keine Ahnung. Mein Vater spricht mit mir nicht über die Krankheiten anderer Leute.«

»Hm.«

»Aber er würde sie gerne mit nach Bogotá nehmen.«

Elena machte nur noch Geräusche, denn sie hatte begonnen, sich die Zähne zu putzen. Sie hob das Kinn in Richtung von Damiáns Gestalt und stieß unartikulierte Zahnpastalaute aus, die klangen wie: »Hm-hmm-hm-hm-hmmmm?«

»Ganz recht«, antwortete ich lachend. »Ich gehe ihn holen. Gleich gibt es Frühstück.«

Und damit setzte ich mich in Marsch.

»He!«, rief mir Elena hinterher. Was sie sonst noch sprudelte, klang wie: »Warte doch mal!«

»Ich bin doch gleich wieder da!«, rief ich ihr zu.

Elena zog eine fatalistische Grimasse und winkte mir zu, dass ich mich vom Acker machen sollte.

Der Ruf des Kolibris
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