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09

– 40 –

 

Außer Estrellecita war niemand zu Hause, als ich kurz vor sechs eintrudelte. Sie saß mit dem fertigen Abendessen in der Küche. Im Wohnzimmer war gedeckt.

»Wo sind sie alle?«, fragte ich.

Sie zuckte mit den Schultern. Es hatte auch niemand angerufen, um zu sagen, dass sie später kämen.

Ich erlöste Estrellecita und schickte sie nach Hause, damit sie sich um ihren kranken Großvater kümmern konnte. Sie bedankte sich überschwänglich und eilte davon.

Ich blieb in der leeren Wohnung zurück und sichtete hastig die Anrufliste meines Handys, aber niemand hatte versucht, mich zu erreichen. Ich wählte die Nummer der Abteilung meines Vaters im San Vicente. Eine der Schwestern erklärte mir: »Ihr Vater ist bei Ihrer Mutter.«

Ich fiel aus allen Wolken. Meine Mutter war im Krankenhaus. Was sie genau hatte, konnte oder wollte mir die Schwester nicht sagen. Sie sei auf der neurologischen Abteilung. Die Schwester versprach, meinem Vater zu sagen, dass er mich anrufen solle. Mein Vater benutzte im Krankenhaus sein Handy nicht. Deshalb konnte ich mich nicht mit ihm in Verbindung setzen. Ich überlegte, ob ich doch lieber gleich ins Krankenhaus fahren sollte. Mit dem Bus oder mit einem Taxi? Doch wenn ich jetzt losfuhr, kam ich womöglich im Krankenhaus an, nachdem mein Vater sich eben – vielleicht zusammen mit meiner Mutter – auf den Heimweg gemacht hatte.

Seltsamerweise machte ich mir um meine Mutter keine besonders großen Sorgen. Das Essen wurde kalt auf den Herdplatten in der Küche. Warum rief mein Vater nicht an? Starb meine Mutter gerade? Oder war sie schon tot und er mochte mir das am Telefon nicht sagen? Ich kam zu dem Schluss, dass ich ins Krankenhaus fahren musste. Wenn meine Mutter tot war, brauchte mein Vater mich jetzt. O Gott, wenn Mama tot war ... Panik flackerte in mir auf.

Ich hatte mich gerade wieder angezogen und den Schlüssel eingesteckt, als das Telefon klingelte. Es war Papa. Er fragte zuerst: »Wo hast du gesteckt? In der Schule warst du nicht und zu Hause auch nicht. Oder es war besetzt!«

Er hätte auf meinem Handy anrufen können. Aber das sagte ich nicht. Es war nicht der Moment für große Erklärungen. »Was ist mit Mama?«, unterbrach ich ihn.

»Sie ist auf der Straße umgekippt«, antwortete er. »Heute früh. Man hat sie zunächst in ein städtisches Krankenhaus gebracht. Die Ärzte dachten, sie hätte die akute Höhenkrankheit, ein Hirnödem. Jemand hat ihr die Handtasche geklaut, deshalb hatten die Ärzte keinen Ausweis. Aber zum Glück hat irgendwann ein Kollege sie erkannt und mich angerufen.«

»Aber ...« Mir fielen ganz viele Aber ein. Wenn meine Mutter sich am Morgen im Labor krankgemeldet hatte, was ging sie dann raus auf die Straße? Wenn sie etwas gebraucht hatte, aus der Apotheke zum Beispiel, hätte sie Estrellecita schicken können. Doch es war jetzt auch nicht der Moment für mein Aber.

»Ich habe sie dann hierher geholt«, fuhr mein Vater fort.

»Und was hat sie jetzt?«

»Das ist unklar. Kopfschmerzen, Bewusstseinsstörungen.«

»Soll ich kommen?«

»Nein, das ist nicht nötig. Du kannst hier nichts tun. Mach dir keine Sorgen, Jasmin. Ich werde die Nacht im Krankenhaus verbringen.«

»Okay. Wenn du meinst ...« Ich war unsicher. »Sie kommt doch wieder in Ordnung?«

»Ich denke schon. Aber vielleicht müssen wir ...« Er unterbrach sich. »Darüber reden wir später.«

»Und was ist mit der Polizei? Ich muss noch mein Protokoll machen, oder?«

»Da habe ich schon angerufen. Wir gehen morgen oder übermorgen. Es eilt nicht.«

Ich empfand ganz ungehörige Erleichterung. Außerdem war ich froh, dass mein Vater momentan nicht den Kopf hatte, nachzufragen, warum ich heute Mittag weder in der Schule noch zu Hause erreichbar gewesen war. Gleich darauf überfiel mich das schlechte Gewissen. Ich hätte mich um meine Mutter sorgen müssen, aber ich hatte nur an mich und an Damián gedacht.

Und ich dachte auch jetzt sofort an die Möglichkeiten der unverhofft geschenkten Freiheit dieser Nacht. Ich konnte sofort zum Waldhaus fahren und mich Juanitas Reinigungszeremonie unterziehen. Ich musste nichts erklären, nicht lügen – jedenfalls jetzt noch nicht –, ich musste nicht über den Balkon flüchten. Ich konnte meine Verabredung mit Damián einhalten. Alles war plötzlich ganz leicht.

Zwei Minuten stand ich im Flur und überlegte. War da irgendwo ein Haken? Würde mein Vater sich umentscheiden und doch noch nach Hause kommen?

Ich holte Papier aus meinem Zimmer, schrieb: »Übernachte bei Elena, Küsschen Jasmin«, und legte den Zettel auf den Esstisch. Damit er meinem Vater auch auffiel, falls er doch noch heimkam, musste ich noch schnell das Geschirr abräumen, das Estrellecita gedeckt hatte.

Alles erledigt? Dann los!

Sonderlich gut fühlte ich mich nicht, als ich den Bus bestieg. Ich hätte meinen Vater wenigstens fragen müssen. Meine Mutter lag im Krankenhaus, womöglich starb sie, und ich war nicht da. Ich versuchte mich damit zu beruhigen, dass ich jederzeit auf meinem Handy erreichbar war. Erst auf den letzten Metern zum Tor des Waldhauses gelang es mir, die Stachel meines Gewissens abzuschütteln. Ich tat ja nichts Böses. Ich tat nichts, was gegen alle Vernunft war.

»Was ist los?«, fragte Juanita, als ich in die Hütte eintrat, in der sie und Clara am Tisch saßen. Damián war auch schon da.

»Meine Mutter ist im Krankenhaus«, antwortete ich.

Es berührte mich ganz sonderbar, Damián in der Hütte seiner Mama Lula Juanita zu sehen. Es schien, als gebe er ihr eine besondere Wärme, als fülle er sie mit Kraft und Energie. Zum ersten Mal fiel mir auf, wie klein die Hütte war.

»Oh!«, rief Clara erschrocken. »Was Schlimmes?«

»Ich weiß nicht«, sagte ich.

»Aber Angst musst du um sie nicht haben«, bemerkte Juanita. Erst viel später wurde mir klar, dass sie in diesem Moment nur meine Gefühle las und keineswegs eine Zukunftsprognose abgab. Ich war außerdem gänzlich mit Damiáns Lächeln beschäftigt, mit dem Glitzern in seinen dunklen Augen, dem Widerschein des Feuers und der Öllampen auf seiner seidig glatten Haut.

Er stand auf und gab mir einen kurzen Kuss, so wie es unter Liebenden üblich war. Clara lächelte breit. Und mir schwindelte vor Glück. Zum ersten Mal gab es so etwas wie Normalität zwischen Damián und mir. Wir mussten uns nicht verstecken. Die kleinen Gesten der Zuneigung und Zärtlichkeit waren nicht verboten. Auf einmal kam mir alles, was ich in den letzten Wochen gedacht und gefühlt hatte, meine Qualen der Unsicherheit, der Zweifel und die Schmerzen, nur noch halb so dramatisch vor. Vielleicht hatte Damián und mir immer nur die Normalität gefehlt, der Anstandsbesuch bei meinen Eltern, ein Kinobesuch, Kaffeetrinken in einer Bar, Spazierengehen, ein paar Partys.

Juanita stellte mir einen Tinto hin, einen Kaffee.

»Trink! Wir gehen gleich los«, sagte sie und machte sich daran, ein paar Dinge von den Regalen, aus ihren Körben und Hausecken in eine Decke zu sammeln, die sie nach der typischen Art der Indios zusammenrollte und sich vor dem Schlüsselbein verknotete, sodass der Inhalt wie ein Rucksack auf ihrem Rücken hing.

»Wo gehen wir hin?«, fragte ich.

»Eine Reinigungszeremonie muss an einem fließenden Gewässer stattfinden«, erklärte Clara. Sie wirkte heiter und unbeschwert, so als hätte sich für sie bereits alles geklärt. Ich nahm mir vor, sie nachher zu fragen, ob sich für sie etwas Glückliches ergeben hatte, ein Job, eine erste Liebe ...

»Und wo gibt es hier ein fließendes Gewässer?«, fragte ich. Mir fielen eigentlich nur Abwasserkanäle ein.

Clara zwinkerte. »Vertrau dich Mama Lula an. Sie kennt den Berg.«

Damián nahm mich bei der Hand. Ich spürte, wie meine zappeligen Finger in seinen noch einmal kurz aufbegehrten und dann ruhig wurden.

Es war eine laue Nacht, die Luft war geschwängert mit dem Duft von Nachtblüten, die um Nachtfalter warben. Das ewige Rauschen der Stadt wurde gelegentlich übertönt von den Rufen und Schreien von Getier. Es hätte mich nicht gewundert, einen Jaguar brüllen zu hören, so komplett war die Illusion von Urwald und Wildnis am Hang hinter der Hütte.

Juanita ging mit ihrem humpelnden Schritt voran. Sie trug die Petroleumlampe. Damián hatte dagegen eine starke Taschenlampe dabei. Clara kam wie selbstverständlich auch mit.

Von mir aus hätte der Weg nie enden müssen. Nie hatte ich mich Damián näher gefühlt. Seine Finger waren locker durch meine geflochten, manchmal schloss er die Hand, als ob er sich versichern wollte, dass ich noch da war und ihn spürte, und als ob er mir sagen wollte: Ich bin bei dir, und ich freue mich, dass du bei mir bist.

Wir gingen in den Himmel.

 

Plötzlich standen wir an einem Bach. Im Licht unserer Lampen sprang das Wasser blitzend über Steine und verschwand zwischen Gebüsch und Wurzeln in der Dunkelheit. Juanita legte ihren Sack ab, schlug die Decke auseinander und begann die Gegenstände zu ordnen und zu verteilen. Sie füllte eine Tonschale mit Wasser und streute Pulver.

Ich wollte schon fragen, wann es losging, dann merkte ich, es hatte längst begonnen. Die Zeit war vorüber, wo ich, Jasmin Auweiler aus Konstanz, noch was zu sagen gehabt hätte. Längst hatte Juanita Zeit und Raum übernommen. Sie band Damián und mir Wollfäden ums Handgelenk, sie umrundete uns und streute dabei schwarzes Pulver um uns herum, sie befeuchtete den Finger und malte uns mit dem Pulver Zeichen auf die Stirn. Dabei murmelte sie atemlos und beinahe tonlos Worte und Sätze, die ich nicht verstand.

Ehrlich, ein bisschen lächerlich war es schon. Sogar ziemlich lächerlich. Wenn ich das Vanessa erzählt hätte, oder Vanessa so etwas mir erzählt hätte, wir hätten uns totgelacht. Da standen Damián und ich, so wie wir vorhin unsere Häuser verlassen hatten, ganz und gar moderne Menschen, in Jeans und Regenjacken mit Turnschuhen an den Füßen und – zumindest ich – Handy in der Tasche beim Schein einer Petroleum- und einer Taschenlampe und ließen uns die Stirn zeichnen und von einer hinkenden Alten mit langen Zöpfen umrunden, die indianische Sprüche murmelte, mit einem Federbündel wedelte, uns mit Wasser besprengte, mit Staub bewarf, wieder besprengte, uns die roten Wollfäden von den Handgelenken riss und schließlich ein verdorrtes Tier ins Mondlicht hielt, das – wie mir schlagartig einfiel – der mumifizierte Fötus eines Lamas sein musste.

Ich schaute Damián an. Er lächelte und ergriff meine Hand. Ich fand es beruhigend, dass man lächeln durfte. Mir fiel auf, dass wir überhaupt die ganze Zeit Menschen blieben. Es war nichts dabei, wenn Clara hustete oder kurz auflachte oder Juanita sich ausgiebig am Hals kratzte und einmal nicht recht weiterzuwissen schien. Ich fragte mich, wo eigentlich der Zauber war. Ich spürte nichts.

Der Wind strich mir übers Gesicht, und ich wischte einen Tropfen weg, der mir in den Kragen zu rollen drohte. Sterne leuchteten zwischen den Baumkronen. Ich konnte mich nicht erinnern, dass ich in Bogotá jemals die Sterne gesehen hatte. Wenn nicht dicke Sturmwolken sie verdeckten, dann verschleierte sie die Dunstglocke über der Stadt.

Und dann hörte ich Damiáns Stimme. Doch sie kam nicht von ihm, der neben mir stand, mit geschlossenen Lippen, die Augen auf seine Mama Lula Juanita gerichtet, und meine Hand hielt. Seine Stimme war in mir.

»Wir werden uns wiedersehen«, sagte er. »Irgendwann.«

»Das klingt, als würdest du dich gerade von mir verabschieden, Damián.«

»Es gibt keinen Abschied zwischen uns beiden«, antwortete seine Stimme in mir. »Wir gehen nur zwei verschiedene Wege, die zum selben Ziel führen. Wir werden uns wiedertreffen. Doch jetzt braucht deine Mutter dich und dein Vater braucht dich auch noch. Du kannst sie nicht verlassen. Sie würden es nicht verstehen. Du würdest sie zornig und traurig zurücklassen.«

»Unmöglich!«, protestierte ich. »Das ist mein Leben!«

»Ja, das ist dein Leben, Jasmin. Du musst es so leben, wie es dir bestimmt ist. Und ich muss mein Leben leben. Ich kann nicht mit dir gehen. Ich kann meine Schwester und meine Großmutter nicht ihrem Schicksal überlassen. Ich habe noch etwas zu tun, Jasmin. Ich muss etwas in Ordnung bringen.«

»Meinst du das mit der Geisel?«

»Auch.«

»Aber du willst dich doch nicht opfern, Damián! Du wirst nicht sterben?«

»Nein. Ich will mich nicht opfern, Jasmin. Cuene, der Gott des Blitzes, hat uns vor vielen hundert Jahren schon das Menschenopfer erlassen.«

»Wie Gott im Alten Testament dem Abraham, der seinen Sohn Isaak opfern wollte und im letzten Moment dafür einen Widder erhielt.«

»Ja, so. Deshalb opfert Juanita ihm heute ein ungeborenes Lama. Es ist im Mutterleib gestorben mit einer Seele, die ganz Liebe ist und nichts weiß von Falschheit und Lüge. Auch wir müssen vielleicht ein Opfer bringen, Jasmin. Aber wir müssen nicht uns opfern. Unsere Liebe darf nur nicht auf Egoismus gegründet sein. Wir können denen, die wir bisher geliebt haben, nicht den Rücken kehren. Du würdest es dir nie verzeihen, wenn deine Eltern an dich künftig nur mit Trauer und Enttäuschung denken könnten, und ich würde nicht vergessen können, wenn ich meine Leute enttäuscht und im Stich gelassen hätte.«

»Aber ich will nicht leben ohne dich. Mein Leben hätte keinen Sinn mehr!«

»Scht! Jasmin!«, raunte er in mir. »Unsere Liebe ist noch nicht zu Ende gelebt. Wir sind jung. Wir haben noch viel Zeit. Viele Jahre, Jasmin. Und es werden andere Zeiten kommen in diesem Land. Es wird Frieden herrschen. Dann werden wir uns wiedertreffen. Je mehr wir daran arbeiten, desto eher wird das sein. Wir müssen unsere Ziele mit Leidenschaft und Ehrlichkeit verfolgen, und wenn unser Leben nur durch unsere Liebe Sinn bekommt, dann werden sich unsere Wege unweigerlich wieder treffen. Hab Geduld, Jasmin. Vertrau dir selbst. Du kennst deinen Weg.«

»Ich habe Angst, Damián.«

»Ich auch, Jasmin. Aber es ist unnötig.«

Juanita rieb erst mir, dann Damián mit einem Bündel aus würzigen Kräutern das schwarze Zeichen von der Stirn. Und so unmerklich, wie sie begonnen hatte, war die Zeremonie vorüber. Die Alte räumte ihren Krempel zusammen, wickelte den schaurigen Lamaembryo sorgfältig in ein Tuch und machte eine Bemerkung darüber, dass man sie nur noch in Peru bekam.

Ich schaute Damián an. Er erwiderte meinen Blick ruhig. Ich wusste plötzlich, dass unser Gespräch wirklich stattgefunden hatte, wenn auch nur in unserem Inneren.

Hand in Hand gingen wir den Weg zurück. Ich weiß nicht, was Clara und Juanita taten, ich achtete nicht auf sie. Wir sprachen kein Wort. Es musste nichts mehr gesagt werden.

Vorhin war es mir vorgekommen, als gingen wir in den Himmel. Jetzt kamen wir von ihm herab. Aber es war kein Weg in die Hölle, es war der ins Leben. Ich erwartete nicht, dass es einfach werden würde, aber ich hatte doch auch die Hoffnung, dass es erträglich würde. Ich würde studieren, immer mit dem Ziel, nach Kolumbien zurückzukehren. Wir würden uns schreiben, wir würden telefonieren. Meine Eltern würden sich allmählich an ihn gewöhnen. Vielleicht konnte Damián mich sogar einmal in Deutschland besuchen kommen. Wozu sonst war er auf eine deutsche Schule gegangen.

Als wir an der Hütte anlangten, kam es mir vor, als wäre ich lange weg gewesen. Die Stadt begann wieder zu rauschen. Meine Sorgen kehrten zurück: Meine Mutter lag im Krankenhaus, mein Vater war voller Angst und tief unglücklich. Aber ich fühlte mich erfrischt und munter. Ich würde es schaffen, mit all dem klarzukommen.

Ich erinnerte mich, dass ich auf dem Weg hierher davon ausgegangen war, dass ich die Nacht mit Damián verbringen würde, dass diese Nacht uns allein gehören, dass es unsere Nacht werden würde, auch wenn mir nicht recht klar gewesen war, wie das hätte gehen sollen in dieser Hütte, die nur einen Raum besaß, in dem Juanita und Clara lebten. Ich hatte vage gedacht, irgendwie werde das Schicksal uns schon günstig sein, irgendetwas werde sich ergeben. Doch jetzt erkannte ich meinen Irrtum. Es war Wunder genug, dass die Krankheit meiner Mutter mir unverhofft ein paar Stunden Freiheit geschenkt hatte.

»Ich muss jetzt wohl heim«, sagte ich.

Juanita nickte. Ich bedankte mich bei ihr, so gut es ging. Die kleine Alte mit den Zöpfen drückte mich so heftig an sich, dass ihr der Hut vom Kopf fiel. Darüber lachte sie herzlich.

»Ich bringe dich nach Hause«, sagte Damián.

Auch Clara umarmte mich zum Abschied. Ich erklärte ihr, dass ich wohl die nächsten Tage nicht kommen könne. Sie nickte und strich mir über die Wange. »Ich werde nie vergessen, was du und dein Vater für mich getan habt.«

 

Schweigend gingen Damián und ich den Weg zum Tor hinab. Unten empfing uns die helle Stadt mit ihrem rasenden Verkehr.

Ich dachte daran, wie Damián mir im obersten Stock des Bolívar-Hochhauses die Stadt erklärt hatte. Äonen war das her. Wie erschrocken waren wir beide damals gewesen. Total unsicher, ob unsere Empfindungen sich mit denen des anderen deckten. Ich musste lächeln. Es war aufregend gewesen, fast zu aufregend. Noch mal wollte ich das nicht erleben. Der Beginn einer Liebe war, ehrlich gesagt, fürchterlich. Was hatte ich gelitten! Diese Zweifel! Ein Moment Glückseligkeit und in der nächsten Minute Tränen der Verzweiflung. Nie wieder!

Wir bestiegen den Bus. In der dunklen Scheibe spiegelten sich unsere Gesichter. Damián hatte meine Hand ergriffen. Ich genoss die Ruhe zwischen uns beiden.

»Wenn ich wieder in Deutschland bin«, überlegte ich, »könnte ich versuchen, ob meine Schule eine Patenschaft für dein Uniprojekt übernimmt.«

Damián lächelte.

»Wir könnten Geld sammeln und Informationsveranstaltungen machen. Und dann werden wir dich natürlich auch mal einladen müssen. Praktischerweise kannst du Deutsch.«

»Das wäre schön. Ich würde gerne einmal Deutschland sehen.«

Die Fahrt war viel zu kurz.

Damián brachte mich bis zur Pforte der Wohnanlage El Rubí und blieb dann stehen.

Auf einmal schlug mir das Herz bis zum Hals. Jetzt musste ich ihn nur noch fragen, ob er mit hinaufkommen wollte. Die Wohnung war leer. Wir hatten – wiederum unverhofft – diese Nacht für uns allein. Aber traute ich mich wirklich?

»Damián ...«

Er fasste mit beiden Händen mein Gesicht und küsste mich, erst auf den Mund, dann auf die Nase, dann auf die Stirn und dann wieder auf den Mund.

»Wenn du möchtest, wir könnten ...«, versuchte ich es erneut. »Meine Eltern sind nicht ...«

Er küsste mich lang und sehnsüchtig. Er schlug die Arme um mich und drückte mich so heftig, dass mir buchstäblich die Luft wegblieb.

Ich spürte die Härte seines Geschlechts, ein Schauer von unbekanntem Verlangen schüttelte mich. Das war es wohl. Ich war bereit. Ja, ich war bereit.

»Komm!«, sagte ich, sobald ich wieder Luft bekam.

Nur widerstrebend lockerte er seine Umarmung. Doch ganz ließ er mich nicht los.

Wir standen eng voreinander.

»Jasmin«, flüsterte er und strich mir das Haar aus dem Gesicht. »Du bist mein Leben, mein Atem, das Haus meines Herzens. Ich möchte dich in meinen Armen halten und nie wieder loslassen. Aber ...«

Er blickte zur dunklen Scheibe des Pförtnerhäuschen hinüber.

»... ich kann da nicht hinein, Jasmin. Der Pförtner kennt mich. Und die Häuser haben Augen. Jemand würde deinem Vater davon erzählen.«

»Ich will nicht klug sein, Damián.«

Er lächelte. »Ich auch nicht, Jasmin.« Er küsste mich. »Aber wir müssen.«

»Und wann sehen wir uns wieder?«

»Morgen, Jasmin, oder übermorgen. Ich melde mich bei dir. Ich habe ja deine Handynummer. Ich rufe dich an.«

Und noch einmal küsste er mich, so überwältigend und heftig, so atemberaubend und mit solcher Brutalität und männlicher Begierde, dass ich in seinen Armen erstarrte wie ein kleines Tier in den Fängen des Jaguars, gelähmt von unsagbarer Vorfreude auf eine mir unbekannte, aber unzweifelhaft unaussprechlich lustvolle Erfüllung. So also fühlte sich Hingabe an, grenzenloses Vertrauen, völlige Selbstaufgabe, unsägliches Glück.

Irgendwann aber musste auch das enden. Damián riss sich von mir, wandte sich ab und ging mit langen Schritten davon.

Der Ruf des Kolibris
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