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– 6 –

 

Ich war nicht dazu gekommen, mit Elena meine Beobachtungen, die Damián betrafen, zu besprechen. Vielleicht hatte ich auch nicht dazu kommen wollen. Die nächsten Tage hielt ich nach ihm Ausschau, wenn ich übers Schulgelände ging. Aber ich sah ihn nicht. Vielleicht hatte er ja von sich aus gekündigt, nachdem er mich hier gesehen hatte und wusste, dass ich aufs Colegio Bogotano ging und ihn jederzeit entlarven konnte.

Am Freitag fragte mich Elena beim Mittagessen, ob ich wieder was von dem Gärtner gehört hätte, der mich beklaut hatte.

Ich gab mich zerstreut. »Wer? Ach der. Übrigens arbeitet er hier, in der Hausmeisterei. Er heißt Damián Dagua.«

»Was?«

»Ja, ich habe ihn gesehen, am Montag, glaube ich, war das. An einem Computer in der Bibliothek. Jemand hat mir dann gesagt, wie er heißt und dass er hier arbeitet.«

»Aber er hat dich beklaut!«

»Nein. Er hat mir die Uhr zurückgegeben. Vergiss es, Elena!«

»Aber wenn er hier auch klaut!«

»Hör mal, jeder gilt als unschuldig bis zum Beweis des Gegenteils.«

»Du musst mit ihm reden!«

»Das werde ich auf keinen Fall tun. Was geht’s mich an?«

»Da sind doch kürzlich Materialien in der Hausmeisterei weggekommen. Erinnerst du dich nicht?«

Das war vor meiner Zeit gewesen. Im Dezember hatte es einen Einbruch in den Wirtschaftsräumen gegeben. Die Einbrecher hatten hauptsächlich Elektrokabel und Werkzeug gestohlen, aber auch Putzmittel und Gärtnereibedarf, darunter eine Kettensäge.

»Das passt doch!«, stellte Elena fest. »Damián spioniert aus, was es wo gibt, und sagt es dann seinen Leuten. Wetten, dass er selber ein Alibi hat. Das weiß man doch, wie so was geht.«

»Vorsicht!«, warnte ich sie noch einmal, ohne mir Rechenschaft darüber abzulegen, warum ich das tat, »das ist nur ein vager Verdacht. Wir wissen nicht, ob es so ist. Und wenn wir solche Gerüchte in die Welt setzen und es stimmt nicht und er wird deshalb entlassen, dann ist das auch nicht richtig.«

Zum Glück setzten sich ein paar Mädchen aus der C zu uns und wir sprachen über etwas anderes. Aber Elena fing in jeder Pause wieder davon an. Schließlich platzte mir der Kragen.

»Jetzt mach mal einen Punkt!«, fuhr ich sie an. »Du verdächtigst ihn doch nur, weil er ein Indio ist. Das ist Rassismus! Jedenfalls bei uns in Deutschland.«

»Du weißt nicht, wie es hier ist!«, antwortete Elena. »Die erschießen dich wegen ein paar Tausend Pesos! So ist das hier. Man muss sich schützen!«

Mehr sagte sie dazu nicht. Ich merkte, dass sie gekränkt war. Sie hatte schnell mal den Eindruck, dass ich auf sie hinabschaute, weil sie Kolumbianerin war. Hier galten wir Deutsche als stark und diszipliniert, aber auch als ein bisschen arrogant. Elena war in der Frage besonders empfindlich, weil ihre Eltern, wenn sie sich stritten, irgendwann bei den Nationalitäten anlangten und ihr Vater ihrer Mutter vorhielt, sie sei eine typische Deutsche, geizig, dickköpfig und arrogant, und sie ihm vorwarf, er sei ein echter Latino, stolz und undiszipliniert und ein Macho.

Zum Glück konnte Elena mir nicht lange böse sein. Und außerdem gab es aufregendere Dinge als ein Hausmeistergehilfe, nämlich den Diplomatenball am nächsten Tag. Alle redeten von nichts anderem. Zumindest diejenigen, deren Eltern eingeladen waren und die mitgehen durften. Das waren etwa zwei Drittel der Klasse C. In den anderen, den spanischsprachigen Klassen waren es vermutlich nicht so viele.

Die britische Botschaft hatte für das Großereignis den Ballsaal und das Restaurant im dreißigsten und einunddreißigsten Stock des Bolívar-Hochhauses angemietet. Papa hatte nach längerer ironischer Streiterei, die meine Mutter schier in den Wahnsinn trieb, eingesehen, dass er sich einen Smoking leihen musste, weil der leicht vertrottelte Charme seines Vollbarts und seiner heilenden Hände allein nicht reichen würde, um den Briten und der anwesenden kolumbianischen Prominenz Respekt zu erweisen.

Vormittags ging er noch einmal kurz in die Klinik, während wir Weiber uns aufstylten. Mama hatte für solche Gelegenheiten ein langes schwarzes Kleid, das ihre schmale Figur betonte. Sie fand es zeitlos, ich fand es ein bisschen altmodisch. Von ihrem Schmuck hatte sie nur die Perlenkette mitgenommen. Die Reiseführer hatten davon abgeraten, Reichtum zur Schau zu stellen. Sie sah blass und edel aus. Ihr dunkles Haar hatte sie hochgesteckt.

Papa kam am späten Nachmittag nach Hause. Wir standen schon alle bereit, das Taxi wartete, da kam es noch einmal kurz zur Krise, als mein Vater sich eine Aktenmappe unter den Arm klemmte.

»Was willst du denn damit?«, fragte Mama entgeistert.

»Das sind die Unterlagen für mein Konzept für eine ambulante Versorgung der Slums.«

»Papa!«, rief ich.

»Du wirst doch die Leute heute Abend nicht mit Konzepten belästigen«, sagte Mama mahnend.

»Nur deshalb gehen wir dorthin.«

»Dann wirst du ohne mich gehen«, sagte Mama.

»Aber ...«

Meine Mutter drehte sich um und ging in ihr Zimmer.

»Papa, bitte!«, flehte ich.

»Also gut.« Mit unendlichem Bedauern trug er seine Unterlagen ins Arbeitszimmer zurück und ging Mama besänftigen. Dann endlich brachen wir auf. Mein Vater hakte sich zwischen uns beide, »seine beiden Hübschen«, und so gingen wir durch die Anlage zum Tor. Ich wollte es nicht, aber ich konnte nicht anders, als mich verstohlen umblicken, ob Damián in den Grünanlagen stand und mit der Schere Bananenstauden beschnitt. Er war nicht da. Enttäuschung verfinsterte meine Laune. Ich versuchte sie abzuschütteln.

Aber die freudige Erregung, die auch mich in den letzten Tagen erfasst hatte, war plötzlich in sich zusammengefallen. Zum ersten Mal konnte ich nachvollziehen, wie mein Vater sich fühlte. Er mochte die Reichen nicht, er benutzte sie nur, um seine Ziele zu verfolgen. Er fühlte sich nicht wohl im Smoking und er würde sich die ganze Zeit langweilen. Allerdings würde er es sich nicht anmerken lassen, denn er konnte mit jedem reden. Aber ich sah ihm an, dass er nur auf den Moment wartete, wo er sich den Menschen nähern konnte, die ihm wichtig waren, dem Präsidenten, dem Bürgermeister, möglichen Spendern für seine Slumambulanz.

Auch ich würde mich den ganzen Abend langweilen. So viel stand fest. Wir würden zwar ständig schwatzen, Elena, unsere Klassenkameradinnen und ich, und uns scheinbar prächtig unterhalten, aber im Grunde war es Zeitverschwendung. Alle Probleme, die wir hatten und emsig besprachen, waren banal und albern verglichen mit denen, die die meisten in diesem Land hatten: Hunger zum Beispiel. Fast schämte ich mich wegen meines teuren Kleids und der Feierlichkeit, mit der wir auf die Straße traten. Auf einmal war ich sogar froh, dass Damián mich nicht in diesem Aufzug gesehen hatte. Was musste er denken? Mit welchem Neid musste er uns betrachten? Er war Schüler am Colegio Bogotano gewesen und jetzt doch nur Hausmeistergehilfe und Gärtner. Mehr würde einer wie er nie erreichen.

 

Am Eingang des Bolívar-Hochhauses lag sogar ein roter Teppich. Ein Dutzend Sicherheitskräfte bewachte den Aufmarsch der Konsuln, Minister und Magnaten mit ihren aufgehübschten Frauen, glitzernden Töchtern und schlaksigen Söhnen. Im Saal im dreißigsten Stock standen festlich gedeckte Tafeln. Kronleuchter funkelten von der Decke herab, polierter dunkler Marmorboden spiegelte jedes einzelne Licht. Obstkörbe und Blumenbouquets schmückten die Anrichten. Hundertschaften von Kellnern und Serviermädchen standen im Hintergrund.

Von den Fenstern hatte man einen grandiosen Ausblick über die Siebenmillionenstadt mit ihren Hochhausnadeln im Meer erdfarbener Hausdächer, die im Dunst verschwammen. Wolken veranstalteten ihr tägliches Theater über dieser Stadt, an einer Stelle ballten sie sich dunkel, an einer anderen rissen sie auf und ließen den schrägen Strahl der Abendsonne auf ein Stadtviertel fallen. Und im Hintergrund immer die blauen Berge der Anden mit ihren unendlichen Urwäldern und Nebeln in den Tälern.

»Ja«, sagte plötzlich ein Mann, der zu mir ans Fenster getreten war, »dort im Dschungel hinter den blauen Bergen herrscht die FARC.«

Der Mann war jung, fast jugendlich noch, blond, blass, blauäugig und von schmaler Gestalt. Er sprach Spanisch mit starkem englischem Akzent, aber sehr korrekt. »Die FARC hält derzeit 26 Geiseln in ihrer Gewalt.«

»Oh!«, sagte ich. »So viele?«

»Manche befinden sich bereits seit vielen Jahren in Gefangenschaft. Zum Beispiel die Lehrerin aus Ihrem Land, Susanne Schuster. Sie ist seit drei Jahren verschwunden. Der Präsident von Venezuela hat sich sehr für sie eingesetzt, aber eine Befreiungsaktion im Februar ist im letzten Moment geplatzt.«

»Woher wissen Sie, dass ich Deutsche bin?«, fragte ich. »Sieht man mir das an?«

Der junge Mann lächelte. »Sie sind die Tochter von Dr. Markus Auweiler, nicht wahr? Das schließe ich daraus, dass Sie mit ihm und Ihrer Frau Mutter den Saal betreten haben. Darf ich mich vorstellen: John Green, Militärattaché an der britischen Botschaft.«

Sein Händedruck war nicht sonderlich fest.

»Wir kennen uns hier alle untereinander«, fuhr er lächelnd fort. »Eine kleine eingeschworene Gemeinschaft. Sie werden sie auch alle kennenlernen. Das da drüben ist Mrs Montafort, die mit dem hellgrünen Kleid und dem Hut, eine Britin, wie sie im Buche steht, Geschäftsführerin einer der größten Modeketten in Kolumbien, und der kleine Dicke neben ihr, das ist unser Botschafter, Sir Thomas Darell. Man sieht ihm an, dass Winston Churchill sein großes Vorbild ist. Für eine kubanische Zigarre würde er alles wagen, und no sports.«

John fuhr fort, mir die nach und nach in Smoking und raschelnden Kleidern eintreffenden Damen und Herren vorzustellen. Ich kam mir vor wie in der Welt eines Romans aus dem neunzehnten Jahrhundert, wo es noch Adlige gab, reiche Kaufleute und junge Mädchen, die zum ersten Mal in die Gesellschaft eingeführt wurden. Genau so ein Mädchen war ich, und John war mein Kavalier, der mich später um den ersten Tanz bitten würde. Danach kamen die Verwicklungen des Herzens. Allerdings war ich mir ziemlich sicher, dass John mein Herz nicht ernsthaft in Gefahr bringen würde, auch wenn er mich mit seinem britischen Humor immer wieder zum Lachen brachte.

Ich stellte ihm meinen Vater vor. Er stellte meinen Vater dem britischen Botschafter vor. Ich präsentierte ihn meiner Freundin Elena, die endlich zusammen mit ihren Eltern eingetroffen war und mir nun auch zum ersten Mal ihren Vater vorstellen konnte. Leandro Perea war ein kleiner agiler Mann mit scharfem Blick und kräftigem Kinn, der sich natürlich gar nicht für mich, sondern weit mehr für meinen Vater interessierte. Womöglich hatte er ein gesundheitliches Problem, das er besprechen wollte, jedenfalls nahm er meinen Vater schnell beiseite. Elenas Mutter hatte ich schon ein paarmal gesehen. Sie war eine schmale Frau mit langem blondem Haar, die an Hals, Handgelenken und Fingern die in Gold gefassten, geheimnisvollen grünen Smaragde trug, die ihr Mann in seinen Minen förderte. Sie sah müde und gelangweilt aus. Wenn ich sie bei Elena daheim getroffen hatte, dann hatte sie kaum etwas gesagt und nie gelächelt. Wahrscheinlich würde ich auch trübsinnig werden, wenn ich mein Leben im Schutz von Bodyguards hinter Mauern mit Stacheldraht und Überwachungskameras verbringen müsste. Sie war einst ein Hippie gewesen, hatte Elena mir erzählt, bevor sie sich in den damals noch jungen und keineswegs reichen Abenteurer Leandro Perea verliebte, der dann Elenas Vater wurde.

Als wir uns zum Abendessen an die Tische begeben wollten, geschah, was mir immer passierte: das Missgeschick.

Die aufgeschossene Tochter eines Bankers trat unvermittelt einen Schritt zurück und stieß dabei einer Kellnerin den spitzen Ellbogen in die Rippen. Das Serviermädchen schrie auf und taumelte. Dabei verloren die Getränke auf dem Tablett das Gleichgewicht. Eine Mischung aus Sekt, Obstsaft und Rotwein ergoss sich über mein Kleid.

Wieso musste immer mir so etwas passieren?

Alle Blicke richteten sich auf den Tumult, also auf uns, auf mich. Meine Mutter sagte: »Das schöne Kleid!« Die aufgeschossene Tochter des Bankers entschuldigte sich und verteidigte sich lautstark, sie habe hinten keine Augen, wieso müsse die blöde Kellnerin auch so dicht hinter ihr vorbeigehen. Die Kellnerin weinte fast und begann an meinem Kleid herumzuwischen. Elena schlug ihr die Hand weg. »Das muss man mit warmem Wasser rausmachen«, sagte Elenas Mutter. Ein Chefkellner eilte herbei und keifte die Kellnerin zusammen. Es war alles total peinlich. Das Kleid klebte mir nass am Schenkel. John guckte etwas verlegen. Und wieder einmal machte ich mich auf die Suche nach den Waschräumen. Mitleidige Blicke folgten mir. Alle anwesenden Frauen waren heilfroh, dass das ihnen und ihrem teuren Kleid nicht passiert war. Wieder einmal würde ich mit einem Fleck herumsitzen, wieder einmal würde ich nicht tanzen können, weil dann alle mein Missgeschick sehen konnten.

Elena wollte mich begleiten, aber ich lehnte ab, weil ich sah, dass es ihrer Mutter nicht recht war. Denn es war Zeit, sich an die Tische zu begeben oder vielmehr sich von den Bediensteten zu den Tischen führen zu lassen, an denen immer jeweils zehn Personen Platz hatten. Gegen den langsamen Strom all derer, die sich in den Saal bewegten, schlängelte ich mich hinaus. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie die kleine Kellnerin von ihrem Chef aus dem Saal geschickt wurde.

Ich suchte nach dem Schild zu den Toiletten. Sie befanden sich in einem mit spiegelndem Marmor ausgelegten Gang. Auch die Waschräume spiegelten, der Boden glänzte, die Waschbecken waren blitzblank. Ein großer Spiegel an der Wand offenbarte mir mein ganzes Elend. Der Fleck auf meinem Schenkel war groß und dunkelrot.

»Oje!«, bemerkte eine ältere Dame, als ich ein Papiertuch aus dem Spender zog und den Wasserhahn anstellte.

Sie war knochig, steckte in einem zippeligen Gewand aus grauem Stoff und hatte kurz geschorene graue Haare, ein verschmitztes Lächeln in den Augen, knallrote Lippen und knallrote Ohrklips aus Plastik.

Das Papier klumpte sofort unter dem Wasserhahn und schon beim ersten Strich über den Stoff hinterließ es Knötchen.

»Stopp!«, rief die Frau. »Das ist Wein. Da muss Salz drauf.«

»Guter Tipp, aber wo bekomme ich jetzt Salz her?«

»Aus der Küche, mein Kind. Soll ich dich hinbringen? Oder schaffst du das alleine?«

Ihre Augen blitzten spöttisch.

»Ja, lachen Sie nur!«, entfuhr es mir ungewollt heftig. »Meine kleinen Missgeschicke sind ja so lustig. Und es ist auch voll komisch, dass es mir peinlich ist, in irgendeiner dampfigen Küche nach Salz zu fragen, und alle starren mich an und lächeln amüsiert, während ich mir Salz aufs Kleid schütte. Wirklich irre komisch!«

Die Dame wurde ernst. »Ein Fleck auf dem Kleid ist doch kein Beinbruch! Denk nur, falls eine Kellnerin daran schuld ist, verliert sie ihren Job.«

»Das ist mir jetzt gerade scheißegal!«, schrie ich. »Ich bin nicht verantwortlich dafür, dass es in diesem Scheißland so scheißungerecht zugeht.«

»O Gott! Kindchen!«, sagte die Dame. »Du bist ja ganz durch den Wind! Reg dich nicht auf. Das kriegen wir wieder hin. Vertrau einer alten Ballveteranin. Setz dich da hin, lass das Wasser in Ruhe, ich bin gleich wieder da.«

Sie nahm ihre Handtasche und verschwand. Von den Toiletten kam noch eine Frau, wusch sich die Hände, puderte sich und ging. Dann war ich allein. Ich zupfte mir den feuchten Stoff vom Schenkel, wagte aber nicht, irgendwas an dem Fleck zu machen. Das »Bin gleich wieder da« zog sich hin. Vermutlich würden Elena oder meine Mutter mich bald suchen kommen. Noch peinlicher!

Am liebsten hätte ich mich zum Fahrstuhl geschlichen und wäre nach Hause gefahren. Der Ball war mir vergällt. Ich hatte ohnehin keine Lust gehabt. Dann hatte es besser angefangen, als ich befürchtet hatte. Ich hatte sofort jemanden kennengelernt, ich war nicht links liegen geblieben wie so oft, wenn ich mit Vanessa irgendwohin gegangen war und sie sofort alle Blicke auf sich gezogen hatte. Doch wie immer, wenn ich gerade anfing, mich ein bisschen wie Vanessa zu fühlen, als Prinzessin, als junge Frau von Interesse, als Dame von Welt, dann passierte etwas, was alles zunichtemachte. Dann hatte ich eine Laufmasche, der Absatz brach mir ab oder eine Taube schiss mir auf den Kopf.

Als ich auf meine, eigentlich Simons Uhr guckte, hatte ich das Gefühl, zehn Minuten seien bestimmt vergangen. Vielleicht gehörte es zu dem seltsamen Humor dieser Dame, dass sie mich einfach vergaß. Ich öffnete die Tür zum Gang und spähte hinaus.

Ein paar Meter von mir entfernt, an den Türen zum Treppenhaus, standen zwei Männer und diskutierten leise, aber heftig miteinander. Der eine war offensichtlich ein Kellner in einem etwas zu großen schwarzen Anzug, der andere steckte in einem Smoking und kehrte mir den Rücken zu. Erst nach einem Moment wurde mir bewusst, was nicht stimmte. Sie waren beide Kolumbianer, was nicht weiter befremdlich war. Denn unter den Ballgästen waren etliche Kolumbianer, auch solche, die nicht europäisch aussahen, wie Leandro Perea, Elenas Vater mit seinem Viertel indianischem Blut in den Adern. Aber der Mann im Smoking hatte das pechschwarze Haar der Indígenas, der Ureinwohner. Es war kurz geschnitten, und zwar erst unlängst und von einem guten Friseur.

Das waren alles Dinge, die ich nebenbei registrierte, während ich nach der grauhaarigen Dame in dem grauen Zippelgewand Ausschau hielt und überlegte, ob ich mich vielleicht nicht doch selbst auf den Weg in die Küche machen sollte, wo auch immer sie war, und mir mit Salz oder Putzmitteln aushelfen ließ. Zwei Minuten noch, dachte ich und wollte die Tür gerade wieder schließen, als es an der Tür zum Treppenhaus eine Bewegung gab.

Ein Handgemenge war zwischen den beiden Kolumbianern entstanden. Der Indio im Smoking wich zurück, der Kellner sprang vor, packte ihn am Revers und rief: »Nehmt euch in Acht, dein Onkel und du! Ich brauche bloß zu sagen, was ich weiß!«

»Hijo de puta!«, knurrte der Indio und entzog sich dem Griff des Kellners mit einer kleinen, aber kraftvollen Bewegung. »Dann pass aber gut auf deine Mutter und deine Schwestern auf!« Und damit gab er dem Kellner einen Stoß in Richtung Treppe.

Mir lief es kalt den Rücken runter. Das Schlimme war, so was passierte, im Zuge solcher Streitereien wurden ganze Familien ausgelöscht, Kinder, Frauen, Alte. Ein Menschenleben galt nicht viel, es sei denn, es gehörte den eigenen Familienangehörigen, dann löste ihr Tod eine fürchterliche Rache aus und ein weiteres Töten.

Der Kellner stieß einen Fluch aus, den ich zum Glück nicht verstehen konnte, denn mit Sicherheit hatte er uns allen Pest und Wahnsinn an den Hals gewünscht, und verschwand durch die Tür ins Treppenhaus.

Der Indio fuhr sich mit den Händen glättend und ordnend über den feinen Stoff seines edlen Anzugs und blickte sich um.

Ich erstarrte in meiner Tür. Auch er erstarrte.

Es war Damián Dagua.

»Hallo!«, stotterte ich. Und ich war stolz darauf, dass ich überhaupt einen Ton herausbrachte.

»Guten Abend«, erwiderte er auf Englisch.

Ich antwortete auf Spanisch: »Guten Abend. Was ... äh ... hat er denn ...?«

Mir schien, dass er um einen Hauch blasser wurde, als er erkannte, dass ich den Wortwechsel mit dem Kellner verstanden hatte.

Der schimmernde Anzug stand Damián übrigens irrsinnig gut. Ich meine, ich hätte erwartet, dass ein Indio in einem europäischen Smoking irgendwie blöd aussah, weil Gesicht und Kleidung nicht zusammenpassten. Aber das war nicht der Fall. Im Gegenteil. Damiáns Erscheinung kam mir natürlicher vor als die von John Green oder dem britischen Botschafter mit ihrem europäischen Gebaren, das so gar nicht nach Südamerika gehörte. Sie waren die Fremdkörper in dieser Stadt, während Damián mit seinen breiten Wangenknochen, den funkelnden Kohleaugen, den scharfen Bögen seiner Brauen und dem schön geschnittenen Mund mit den vollen Lippen hierher gehörte. Es war sein Land. Wir waren die Eindringlinge, wenn auch seit Hunderten von Jahren. Eines Tages würden er und seine Leute uns vermutlich vertreiben. Ja, er wirkte wie der Prinz eines Volks, das im Verborgenen lebte. Die Aura einer unbekannten urtümlichen Magie, einer Macht von Göttern verliehen, die ich nicht kannte, umgab ihn.

»Der Kellner ...«, antwortete Damián mir auf meine gestammelte Frage. Er sprach auch nicht viel flüssiger: »Er ist ein Dieb!«

»Ein Dieb?«, sagte ich mit bemüht ironischem Unterton.

Wäre ich im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte gewesen und hätte ich nicht immer an den Fleck denken müssen, der mein Kleid verunstaltete – ein Kleid, das ich eigentlich für ihn, den geheimnisvollen Indianer, oder vielmehr in Gedanken an ihn, Damián, ausgesucht hatte, ohne realistische Hoffnung, dass er mich darin sehen würde –, dann hätte ich das sicher nicht gesagt. Und ich hätte auch nicht dabei spöttisch die Brauen hochgezogen. Er musste es so verstehen, als spielte ich auf die Tatsache an, dass auch er sich als Gärtner im Besitz meiner Uhr befunden hatte, wenn auch nur für ein paar Stunden.

Ein Schatten fiel auf seine Züge.

»Wir Indígenas sind alle Diebe«, erwiderte er. »Das weiß man ja.«

Jetzt hätte ich unbedingt fragen müssen, was er hier machte. Aber ich wusste nicht, wie ich das tun sollte, ohne durchblicken zu lassen, wie erstaunt ich war, einen Gärtner und Hausmeistergehilfen beim größten gesellschaftlichen Ereignis von Bogotá im Smoking zu sehen. Ich überlegte zu lange.

Damián verbeugte sich leicht und sagte: »Dann wünsche ich Ihnen noch einen schönen Abend.«

Damit wandte er sich um und verließ den Gang durch die Tür zum Vestibül, zu der eben auch die ältere Dame hereinkam, die mir mit meinem Fleck hatte helfen wollen. Sie stießen fast zusammen. Er entschuldigte sich, sie blickte ihn nur kurz an und wandte ihren Blick rasch ab.

»Was wollte der von dir?«, war ihre erste Frage, als sie bei mir an der Tür ankam.

»Wer?«

»Na gut. Komm, Kindchen, ich habe Fleckenwasser. Ein richtiges Zaubermittel. Ich wusste doch, dass meine Freundin immer was dabeihat für solche Fälle. Es hat leider ein bisschen gedauert, bis ich sie gefunden habe. Dann schauen wir mal.«

Der Ruf des Kolibris
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