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09

– 22 –

 

Gegen Mittag hielten wir auf einer kleinen Lichtung mitten im grünen Urwald. Clara brauchte eine Pause. Sie hatte Schmerzen in Armen und Beinen. Mein Vater spritzte ihr ein Schmerzmittel und empfahl eine halbe Stunde Ruhe, bis die Wirkung voll eingesetzt hatte. In der Mitte der Lichtung befand sich eine kalte Feuerstelle. Auf den Steinen, die sie umgaben, waren die geometrischen Gesichter gemalt, die ich von Juanitas Torpfosten kannte. Das Sonnenlicht drang kaum bis zur Erde durch, so hoch ragten die Bäume empor. Sie standen auf mächtigen Wurzelsockeln, und fünf Männer hätten es nicht geschafft, sie zu umfangen.

»Pass auf!«, wisperte mir Elena ins Ohr, als wir den Pferden die Zügel hochbanden, damit sie fressen konnten. »Das ist bestimmt ein heiliger Ort. Wenn wir irgendwas abbrechen, dann ziehen wir den Zorn der Götter auf uns, und aus dem Wald tauchen Eingeborene auf und schießen mit vergifteten Pfeilen auf uns.«

Damián, der ein feines Ohr hatte, drehte sich um und grinste. »Ihr Weißen seid noch abergläubischer als wir.«

Elena lächelte ertappt. »Na ja! Aber das hier ist doch ein bestimmter Ort.«

Damián nickte. »Allerdings. Und wenn ihr wollt, dann zeige ich euch, was das für ein Ort ist. Hört ihr das?«

Er hob den Finger.

Jetzt hörte ich es auch. Es war ein fernes Rauschen.

»Wasser?«, fragte ich.

»Ein Wasserfall?«, jubelte Elena. »Ein See? Oh! Kann man darin baden?«

Damián nickte lächelnd.

Wenige Minuten später führte er Elena, meinen Vater und mich durchs Dickicht, wo nur er einen Pfad sah, in den Urwald hinein. Schon nach wenigen Schritten umgab uns das üppige und feuchte Grün so undurchdringlich, dass ich mir nicht mehr zugetraut hätte, den Rückweg zu finden. Große Käfer stolperten über Äste, Insekten schwirrten, knallbunte Frösche hockten im Gezweig und auf der schwarzen Erde.

Elena schrie auf und blieb stehen. »Pfeilgiftfrösche!«

»Interessant!«, sagte mein Vater und beugte sich hinab.

»Nicht anfassen!«, kreischte Elena. »Sie sind tödlich giftig!«

»Ich weiß. Es ist ein Kontaktgift, und man weiß nicht genau, wie sie es herstellen.«

Elena schüttelte sich. »Hier geh ich keinen Schritt weiter!«

»Sie greifen nicht an«, sagte Damián trocken. »Außerdem sind wir gleich da.«

Elena ließ sich bewegen weiterzugehen. Das Grün öffnete sich plötzlich und gab den Blick frei. Es war wie ein Eckchen vom Paradies. Ein Rinnsal klaren, hellen Wassers fiel über eine grüne Kante einen vielleicht fünf Meter hohen Felsen herab in einen unvermutet großen smaragdgrünen See, dessen Ausfluss sich im Schatten zwischen Bäumen und großblättrigen Stauden verlor. Das grüne Leuchten des Sees entstand dort, wo die Sonne auf die Wasserfläche fiel.

»Wir nennen ihn den Smaragdsee«, sagte Damián.

»Die Männer drüben, wir hier!«, ordnete Elena an. Sie hatte sich schnell wieder gefangen und ihren Sinn für praktischen Anstand in Gang gesetzt. Damián und mein Vater begaben sich hinter die mannshohen Wurzeln eines Baums, sodass Elena und ich uns in Ruhe ausziehen konnten.

Ich probierte mit der Zehenspitze. Das Wasser war eiskalt. Es hatte auf keinen Fall mehr als 18 Grad. Ich hörte, wie mein Vater und Damián sich ins Wasser warfen. Es wurde Zeit, dass auch wir hineinkamen. Ich ergriff Elena am Arm und zog sie mit mir. Sie kreischte. Ich warf mich ins Nass. Als Elena die Männer sah, ließ sie sich ebenfalls fallen. Sie japste. Es war so kalt, dass man einfach schwimmen musste, um nicht tot zu versinken.

Ich schaute mich nach Damián um. Er schwamm mit langen kräftigen Zügen in den See hinaus. Mein Vater keuchte vor Kälte. Wie ich ihn kannte, würde er nicht lange im Wasser bleiben. Elena kreischte und kicherte permanent und schaufelte mir Wasser ins Gesicht. Ich spritzte zurück und versuchte sie zu überzeugen, dass sie ein paar Meter mit mir schwamm. Aber sie gab schon nach ein paar Zügen auf. Jetzt durfte es nicht so aussehen, als würde ich Damián hinterherschwimmen. Auf keinen Fall! Ich peilte die Sonnenstelle im See an und streckte mich im Wasser. Es tat gut. Nach zehn Zügen spürte ich die Kälte nicht mehr. Das Wasser war klar und schmeckte süß. Der ferne Wasserfall trieb kleine Wellen über die Fläche. Manchmal sah ich Fische fliehen.

Wo die Sonne auf die Fläche traf und das eigenartige grüne Leuchten hervorrief, war das Wasser deutlich wärmer. Die Sonne schien mir direkt in die Augen und glitzerte in den Tropfen, die mir in den Wimpern hingen. Ich wischte mir das Wasser aus den Augen und drehte mich zum Ufer um. Mein Vater und Elena waren schon wieder aus dem Wasser gestiegen und dabei, sich links und rechts vom Baum anzuziehen.

Und wo war Damián?

Ich entdeckte seinen schwarzen Schopf sehr viel weiter drüben. Auch er war auf dem Rückweg. Eine kleine Enttäuschung zuckte in mir. Ich versuchte, sie zu vertreiben. In Wahrheit hatte ich, als wir zum See gingen, hektisch darüber nachgedacht, ob sein Schamgefühl ein anderes war als meines und ob ich es fertigbrachte, mich einfach nackt auszuziehen. Und würde er sich gänzlich entkleiden? Zumindest seinen schlanken und muskulösen Oberkörper, den ich unter dem Gärtnerhemd schon erahnt hatte, würde ich wohl zu sehen bekommen. Und nun? Nichts dergleichen. Aber vielleicht war es besser so. Ich wäre entweder augenblicklich in Ohnmacht gefallen oder unendlich befangen gewesen.

Ich versuchte im Wettkampfrhythmus zu schwimmen und konzentrierte mich auf meinen Atem. Das Ufer tauchte schneller vor mir auf, als ich erwartet hatte. Allerdings war ich von der Richtung abgekommen. Ein Baum stand schräg in den See hinein. Seine Blätter bildeten einen Vorhang zwischen mir und der Stelle, wo sich mein Vater und Elena befanden. Daneben leuchtete ein kleiner von der Sonne beschienener Fleck.

Ich machte noch ein paar Züge und schwenkte dann um. Urplötzlich tauchte Damiáns Kopf vor mir auf.

Sein Haar troff und glänzte, seine Augen blitzten zwischen tausend Tropfen, seine Lippen waren halb geöffnet, Wasser lief ihm das Gesicht hinab. Er stoppte, ließ die Beine sinken und hielt sich nur mit ein paar sparsamen Handbewegungen über Wasser. Ich sah seine Gestalt im grünen Licht unter der Oberfläche, im Spiel der Wellen wabernd, aber dennoch deutlich. Auch ich stoppte. Ich wusste, er sah von meiner Gestalt genauso viel wie ich von seiner, nur dass meine Haut viel heller leuchtete, fast schneeweiß.

Die geheimnisvollen Strömungen im See oder unsere unwillkürlichen Paddelbewegungen trieben uns zueinander. Er tat nichts dagegen, ich auch nicht. Unsere Hände trafen sich. Er flocht seine Finger in meine. Mir war, als hielte der See den Atem an, keine Welle bäumte sich zwischen uns auf, als sich unsere Lippen berührten. Erst waren es nur unsere Lippen, dann unsere Beine, dann unsere Körper, die sich fanden. Wir versanken. Ich fühlte seine Arme mich heftig und verlangend umschlingen, ich spürte sein Geschlecht an meiner Scham. Eine jähe Erregung raubte mir die Besinnung. So fühlte sich also die Ohnmacht an, die ich die ganze Zeit befürchtet hatte: sanft und mächtig, süß und schmerzhaft. Keinen Gedanken verschwendete ich an die Sorge, dass wir ertrinken würden.

Wir sanken auf den Seegrund. Nie werde ich das Gefühl vergessen, als er mich losließ, mein fürchterliches Bedauern, meine Trauer, meine Verzweiflung darüber, dass ich zum Luftholen nach oben musste. Und nie werde ich den Anblick seines Körpers vergessen, wie er im smaragdgrünen Wasser über dem Seegrund schwebte: seine schmalen Hüften mit dem Geschlecht, die breiten Schultern, die langen Beine, die Arme, denen ich entglitten war, ohne es zu wollen, nach mir ausgestreckt. Seine Augen waren offen wie meine, sein Blick folgte mir gegen das Licht des Wasserspiegels.

Als ich wieder Luft bekam und die Welt ihre normale Lautstärke zurückgewonnen hatte, hörte ich Elena nach mir rufen und schwamm mit ein paar Zügen in ihr Blickfeld.

Damián kam später und aus einer ganz anderen Richtung ans Ufer geschwommen. Da hatten Elena und ich uns längst wieder angezogen.

Am Pfad zur Lichtung trafen wir uns mit den Männern. Die Kleider juckten etwas auf der feuchten Haut. Aber mein Vater sah erfrischt aus und lächelte vergnügt.

»Entschuldige«, raunte Damián mir zu, kurz bevor er den kaum sichtbaren Rückweg betrat.

»Wofür?«, fragte ich leise zurück.

Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, wie ich es noch bei keinem Menschen gesehen hatte und wie es wohl nur Männer im Moment der tiefsten Freude zeigten, kurz bevor die Frau, die sie begehrten, sich ihnen hingab.

Wie ein Schatten fiel Elenas Warnung in meine Erinnerung. Erst erklären sie, dass sie dich respektieren und dann ... Aber Elena hatte keine Ahnung. Was zwischen Damián und mir war, war anders. Da ging es nicht nur um Sex. Außerdem wollte ich genau das. Ich wünschte mir, was unser kurzes Treffen im Wasser verhieß. Es war wie ein Versprechen, das er einlösen musste. Er musste! Ich sehnte es herbei wie eine Erlösung.

War das schon das vierte der sieben Leben der Liebe, die mir Damiáns Großmutter aufgezählt hatte? Erst kam der Schrecken, dann die Blindheit für die Fehler des anderen, dann meine Wandlung zur Frau und dann ... die Erfüllung. War es wirklich nur schnöde Erfüllung, die ich herbeisehnte und die mir wie eine Erlösung vorkam? War ich am Ende gegen die bösen Leben der Liebe gefeit – Zerstörung und Opfer –, solange ich noch nicht mit Damián geschlafen hatte? Zumindest redete ich mir das ein.

Die nächsten Stunden auf dem Pferd hatte ich jede Menge Zeit, den unwirklichen Moment im Smaragdsee immer wieder und wieder nachzuerleben. Jeden Blick, jeden Atemzug, unsere kurze Umarmung unter Wasser und die Sehnsucht unserer Körper, beieinander zu sein, sein ernster Blick, das Glühen in seinen schwarzen Augen, seine leise Entschuldigung danach. Was für Köstlichkeiten, was für ein Glück! Leider wollte es auch Elena ganz genau wissen. Ihr war natürlich nicht entgangen, dass Damián und ich im See für eine Weile nicht zu sehen gewesen waren.

»Ich habe gar nicht gesehen, wo Damián war«, behauptete ich.

Elena lachte ungläubig. Ich hoffte, dass mein Vater sich nicht ähnliche Gedanken machte wie Elena.

»Du willst mir aber nicht erzählen«, insistierte sie, »dass dir entgangen ist, wie total gut er aussieht, eh?«

»Na, so viel hat man ja nun nicht gesehen.«

Ich versuchte, den lockeren Ton anzuschlagen, den solche Gespräche hatten, die Vanessa und ich Kichergespräche genannt hatten. Jetzt wusste ich, dass Vanessa niemals ernsthaft verliebt gewesen sein konnte, wenn es ihr Spaß gemacht hatte, mit mir oder anderen Küsse und Körper eines total süßen Typs zu besprechen. Sie hatte mir sogar von ihrem ersten Mal mit Steffen erzählt, gleich danach, brühwarm. Sie hatte in der Badewanne gesessen und mit mir telefoniert. Es erschien mir inzwischen ganz und gar unmöglich, wenn man wirklich liebte. In meinem Fall wäre das eine Sache nur zwischen Damián und mir gewesen. Dessen war ich mir sicher.

Um Elenas Neugierde zu entkommen, ließ ich mein Pferd zurückfallen und setzte es neben Clara.

Die Schmerzmittel taten ihr gut. Sie wirkte vergnügt und wollte wissen, wie es bei uns in Deutschland war. An ihren Fragen erkannte ich, dass Susanne ihr und den anderen Schülerinnen viel erzählt hatte von Jahreszeiten mit Schnee und Eis oder Sonne und Hitze, von Frühling und Herbst, von unseren Dörfern mit Steinhäusern, von Unmengen Autos auf den Straßen. Clara wusste, welche Nutzpflanzen wir anbauten und was wir hauptsächlich aßen. »Ihr esst viel Brot«, sagte sie. »Ganz viele verschiedene Sorten, dunkles Brot.« Fast alle meine Antworten dienten ihr zur Bestätigung dessen, was sie schon wusste.

»Wo aus Deutschland kam Susanne her?«, erkundigte ich mich. Ich hatte bei den Gesprächen über die Entführte nie genau genug hingehört, um mir das gemerkt zu haben.

»Aus Berlin«, antwortete Clara. »Hier hat sie sich Susanne Zapatero genannt. Sie hat mir erklärt, dass so Schuster auf Spanisch heißt.«

Auch für Clara war der deutsche Name schwer auszusprechen. Spanischsprachige Zungen verknoteten sich, wenn sie »sch« sagen mussten.

»Was meinst du?«, erkundigte ich mich. »Wird sie hier irgendwo in der Gegend gefangen gehalten?«

»Das kann ich dir nicht sagen«, antwortete Clara. »Es ist gefährlich, darüber zu sprechen. Verrat wird mit dem Tod bestraft. Bitte, frag nicht weiter!«

 

Am späten Nachmittag gelangten wir auf ein Plateau, von dem aus man gen Süden Hunderte von Kilometern weit schauen konnte. Hintereinander schichteten sich die Bergzüge in Reihen, die von Mal zu Mal blauer wurden. Die Hänge waren von Urwald bedeckt, der die Gipfel überzog wie eine Schicht Samt. So dicht standen die Bäume, dass man in den Tälern keine Bäche sah. Nur manchmal glitzerte wie ein Silberfaden ein Wasserfall an einer Steilwand. Nebelschwaden krochen durch die Schluchten. Obwohl man immer irgendwo Vögel pfeifen und Affen und Papageien schreien hörte, stieg eine immense Stille aus den Tälern herauf zu unserem Plateau.

Damián führte uns zu einer Holzhütte, die am Waldrand stand. Sie war nach einer Seite offen und diente wohl Hirten als Regenschutz, wenn sie hier oben Rinder bewachten.

»Hier könnten wir die Nacht verbringen«, schlug Damián vor.

Wir stimmten zu.

Mein Vater holte tief Luft und ließ den Blick schweifen. Er genoss unsere ungeplante Reise. Ein bisschen staunte ich immer noch, wie gelassen und freundlich er sich den Umständen anpasste. Zu Hause war er eigentlich ganz anders: pingelig mit dem Essen, geräuschempfindlich, ungeduldig und gereizt, wenn etwas nicht gleich so ging, wie er es sich vorgestellt hatte.

»Schau mal, Jasmin, ein Kondor!«, rief er.

Der Vogel, der ohne einen einzigen Flügelschlag seine Kreise zog, war weit weg und wirkte dennoch riesig.

»Sie nutzen die Thermik wie ein Segelflugzeug«, erklärte mein Vater. »Sie fliegen erst, wenn es warme Aufwinde gibt. Stimmt’s, Damián?«

Damián nickte.

Leandro schlug vor, Feuerholz zu sammeln. Wir sattelten die Pferde ab. Mein Vater kümmerte sich um Clara, die offensichtlich mehr Kraft und Ausdauer besaß, als sie sich selbst zugetraut hatte. Elena, Leandro und ich sammelten trockenes Holz, Zweige und Äste, schichteten sie auf einen Haufen und legten aus Steinen einen Ring darum. Maria hatte uns Maisbrot, Maiskolben, Kochbananen und Dörrobst, in ein Tuch gewickelt, mitgegeben. Den Mais rösteten wir am Feuer, Clara kochte in einem Topf starken schwarzen Kaffee.

Damián brachte aus dem Wald außerdem Wurzeln, Zwiebeln und etwas, das aussah wie kleine rote Ananas. Es waren die Blütenstände der Ananas, wie uns Clara erklärte. Deren Böden schmeckten süßlich. Clara lachte. »Mein Bruder ist ein e’shavytjas. Das heißt in unserer Sprache: ›als ob er ein Bär wäre‹. Er ist als kleines Kind ein paar Tage einer Bärin und deren Jungen gefolgt.«

»Einem Andenbären?«, fragte mein Vater. »Sind die nicht äußerst selten?«

»Sie leben nur sehr verborgen«, antwortete Damián.

»Wir nennen sie Brillenbären«, erklärte mein Vater, »wegen der weißen Zeichnung im Gesicht. Man weiß fast nichts über sie.«

»Damián hat fast mit ihnen gelebt«, erklärte Clara voller Stolz auf ihren Bruder. »Er war im Urwald verloren gegangen und die Bärin hat ihn nicht verjagt. Sie hat ihm gezeigt, was man essen kann im Urwald und wie man sich im Baum für die Nacht ein Nest baut. Dann hat sie ihn zu uns zurückgeführt. War es nicht so, Damián?«

Er lächelte verlegen. »Ich erinnere mich nicht genau. Ich war damals fünf Jahre alt. Ich hatte Glück, dass die Bärin keine schlechten Erfahrungen mit Menschen gemacht hatte.«

»Du hast sogar eine Nacht bei den Jungen und ihr in so einem Baumnest geschlafen«, sagte Clara.

Damián lachte. »Das behauptet Mama Lula Juanita immer und Tante Maria erzählt es auch so. Es könnte aber auch nur ein Traum sein, den Juanita mir erzählt hat.« Er wandte sich an meinen Vater und erklärte: »Sie ist eine Piache, eine Traumdeuterin.«

»Aber du hast das Zeichen des Bären auf deinem Rücken, Damián.« Clara wandte sich uns zu. »Es sind Kratzspuren der fünf Krallen. Sie kommen daher, dass die Bärin ihn wie ihre Jungen auf den Schlafplatz im Baum hinaufgezogen hat.«

»Wirklich?«, rief Elena. »Zeig mal!«

»Man sieht sie kaum«, wehrte Damián ab.

»Es gibt nur wenige Menschen«, erklärte uns Clara eifrig, »die jemals den großen Bären zu Gesicht bekommen. In unserer Kultur, der Kultur der Nasas, wird derjenige, der mit einem Bären Freundschaft schließt, einmal ein großer weiser Mann sein, ein Friedensstifter.«

Leandro hob seinen Kaffeebecher und prostete Damián zu. »Auf den künftigen Präsidenten von Kolumbien!«

»Zeig doch mal dein Zeichen des Bären«, insistierte Elena. Sie blinzelte mir zu. »Stell dich nicht so an!«

Damián hatte ihr Augenzwinkern aufgefangen. Sein Blick schoss mir in die Augen, erstaunt und fragend. Ich schüttelte leise den Kopf. Elenas taktlose Zweideutigkeiten begannen mir auf die Nerven zu gehen.

»Es ist ihm peinlich!«, lächelte Clara.

»Was ist daran peinlich?«, fragte Elena.

Damián richtete seine ernsten Augen auf sie. »Glaubst du an Bärenzeichen und indianische Götter?«

Elena richtete sich auf. Ihre grünen Augen blitzten. »Ich nicht. Aber ist es nicht eure Kultur? Du solltest daran glauben.«

»Wieso denn? Damit ihr über uns lächeln könnt?« Damiáns Gesicht war hart geworden. »Weil wir noch an Naturgötter und Magie glauben und unsere Zukunft aus den Träumen alter Frauen ablesen. Ihr würdet uns Indígenas, unsere bunten Kleider und Hütten doch am liebsten unter Naturschutz stellen wie die Affen im Urwald. Ihr hättet es am liebsten, wenn wir Computer für einen Zauber hielten, der uns die Seele raubt, damit ihr, wenn ihr vor uns steht, vom einfachen Leben in Harmonie mit der unberührten Natur träumen könnt. Aber wir Indios wollen eure Träume vom einfachen Leben nicht einlösen. Wir wollen überall Zugang zum Internet!«

Elena stöhnte. »Entspann dich, Damián! Muss du immer gleich politisch werden? Weiße, Mestizen, Schwarze, Indígenas ... wir sind doch alle nur Menschen. Und jeder soll so leben, wie es ihm gefällt, wenn du mich fragst.«

»Dann ist es ja gut«, antwortete Damián.

»Trotzdem verstehe ich nicht, warum du deine Bärennarben nicht zeigen willst.«

»Hast du auch ein Muttermal oder eine Narbe, die du uns zeigen möchtest?«

Elena schnaubte entrüstet. Leandro, mein Vater und Clara lachten. Damián lächelte schließlich auch.

»Übrigens ist eine Bärin mit ihren Jungen hier in der Gegend«, sagte er. »Ich habe ihre Spuren gesehen.«

»Was?«, rief Elena alarmiert. »Eine Bärin! Und das sagst du uns erst jetzt? Wie soll ich da heute Nacht ein Auge zutun? Ich werde die ganze Zeit denken, dass sie uns überfällt.«

»Bären schlafen nachts auf ihrem Baum«, erwiderte Damián. »Die Bärin wird nicht zu uns kommen, wir haben nichts, was sie interessiert.«

»Na hoffentlich.« Elena seufzte.

Die Abenddämmerung war kurz, aber gigantisch. Die Sonne versank hinter den blauen Reihen der Berge und färbte die Wolken erst rosa, dann orangerot und schließlich violett. Was für einen Aufwand die Natur doch trieb, dachte ich, was für Farben! Und für wen? Wir Menschen wussten es zu schätzen, unseren Augen und Sinnen tat es gut. Doch auch wenn es uns Menschen nicht gegeben hätte, dann hätte die Natur das Schauspiel veranstaltet. Für nichts und niemanden.

Damián verließ unser Lagerfeuer und schaute nach den Pferden. Leandro nahm sein Satellitentelefon und rief seine Bodyguards an, die in Popayán auf Anweisungen warteten, wo sie uns mit dem Hubschrauber auflesen konnten. Dann rief er seine Frau Sandra an und gab sie an Elena weiter. Ich überlegte, ob ich unauffällig aufstehen und nach Damián schauen gehen konnte. Aber jetzt übergab Leandro das Handy an meinen Vater, der Mama anrief. Also musste ich bleiben und warten, bis er das Telefon an mich weiterreichte. Mama klang nach Migräne, wie ich gleich an ihrer Stimme hörte.

Sie erzählte, dass John Green nach mir gefragt und dass Felicity Melroy angerufen habe, um mich zu einem Ausflug einzuladen. »Aber du bist ja nicht da.« Es klang vorwurfsvoll. Plötzlich wusste ich, dass meine Mutter tief unglücklich war. Nur meinem Vater zuliebe war sie nach Kolumbien mitgekommen. Und jetzt sehnte sie sich nach Zuhause, wo sie aber auch nicht wirklich glücklich war. Ich glaube, für meine Mutter war das Glück immer dort, wo sie gerade nicht war. Zum ersten Mal in meinem Leben sah ich ganz deutlich, dass die Ehe meiner Eltern keineswegs so perfekt und harmonisch war, wie ich es in meiner kindlichen Naivität bis jetzt angenommen hatte.

Mein Vater blickte auch nicht sonderlich froh drein, als ich ihm das Telefon zurückgab. Er sah aus, als hätte meine Mutter ihm das kleine Abenteuer vermiest, das er genoss.

Als wir mit diesen bescheuerten Telefonaten durch waren, war auch Damián wieder da. Wir richteten uns für die Nacht, so gut es ging, mit Decken und unseren Regencapes auf dem Boden unterm Dach der Hütte ein.

»Ganz schön anstrengend, dein Damián«, wisperte Elena mir ins Ohr, als wir nebeneinander ausgestreckt lagen.

»Er ist eben kein Dummkopf!«, antwortete ich.

»Aber warum macht er so ein Geschiss um diese albernen Bärenkratzer? Ich habe doch gar nicht behauptet, dass er ein primitiver Indio ist. Wie kann man nur so empfindlich sein! Solange die Indígenas sich immer gleich wegen ihrer Herkunft benachteiligt sehen, kommen sie nie weiter, das sagt auch Papa. Ihnen fehlt es an Selbstbewusstsein und Biss.«

»Aber du bist gar keine Rassistin, was, Elena?«, raunte ich bissig zurück.

»Nein, bin ich nicht!«, zischelte sie zurück. »Aber es gibt einfach Unterschiede in der Mentalität.«

Ich lag noch eine ganze Weile mit offenen Augen und dachte nach. Auch meine Eltern hätten jederzeit den Vorwurf von sich gewiesen, sie hätten irgendwelche Vorurteile gegen Schwarze, Indios oder Türken. Meine Eltern waren keine Rassisten. Natürlich nicht. Menschen anderer Hautfarbe waren nicht weniger wert, das nicht. Aber auch sie hatten von der anderen Mentalität und kulturellen Unterschieden gesprochen, als ich ihnen eröffnet hatte, dass ich Damián heiraten würde. Es war zwar total peinlich, wenn ich mich an die Szene erinnerte, aber ich wusste seitdem, dass meine Eltern nicht so vorurteilsfrei waren, wie sie immer getan hatten. »Willst du künftig wie eine Wilde im Urwald leben, ihm fünf Kinder zur Welt bringen und Lamas hüten?«, hatte meine Mutter gefragt.

Inzwischen hatte ich die Hütte in den Bergen am Bach gesehen, wo Damián herkam. Natürlich wollte ich dort nicht leben. Nicht mein ganzes Leben lang. Doch das stand ja gar nicht zur Debatte. Damián wollte es auch nicht. Und im Gegensatz zu mir hatte er bereits das Abitur und studierte.

Der Ruf des Kolibris
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