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Mein erster Schultag verlief typisch Jasmin Auweiler. Ich ging alleine. Meine Mutter lag mit Migräne im abgedunkelten Schlafzimmer, mein Vater operierte. Schon an meinem ersten Schultag in meinem Leben war ich alleine mit der Schultüte losgezogen, weil meine Eltern irgendwie nicht abkömmlich gewesen waren.

Der Schulbus fuhr zwanzig Minuten gen Norden aus der Stadt heraus ins Grüne. An der Pforte musste ich meinen Ausweis zeigen. Außerdem wollte der Pförtner ein Papier von mir, das ich nicht dabeihatte. Eine Autorisation, wie er das nannte. Meine Erklärung, dass ich ab heute hier Schülerin sei, genügte ihm nicht. Er telefonierte erst mit der Verwaltung, ließ sich bestätigen, dass man auf eine Jasmin Auweiler wartete, und winkte mich dann durch. In einer Stadt, in der die Bushaltestellen des TransMilenio bewacht wurden wie bei uns in Flughäfen der Übergang zu den Gates, war das eine fast harmlose Sicherheitsmaßnahme.

Die roten Ziegelgebäude des Colegio Bogotano lagen weit verstreut in einer parkähnlichen Anlage. Überall standen Schülerinnen und Schüler in Gruppen herum, und ich hatte gleich Gelegenheit, die Schuluniform fürchten zu lernen. Die meisten Jungs und viel zu viele von den Mädchen trugen den hellblauen Trainingsanzug mit grünen Streifen. Der Schottenrock war auch nicht schöner. Aber immer noch besser als diese Hosen aus einem hellblauen Stoff, der auf grauenvoll großräumige Weise Jeans imitierte, ohne Jeans zu sein. Dazu gab es blaue Pullover mit Schulemblem, weiße Poloshirts mit grünen Streifen und hellblaue Regenjacken. In der Verwaltung bekam ich als Erstes einen Stapel dieser Kleider des Schreckens überreicht und musste auch gleich Hosen und Pullover anziehen. Da war man streng im Colegio.

Immerhin würde ich so morgens viel Zeit sparen, die ich in Deutschland mit der Frage verbracht hatte, was ich anziehen sollte.

Ich war nicht gerade hübsch. Da machte es nicht wirklich Spaß sich anzuziehen. Meine Freundin Vanessa konnte bauchfrei tragen und Hüftjeans und Piercing im Bauchnabel. Abgesehen davon, dass mir meine Eltern das Piercing verboten hatten – sie waren Ärzte und dachten immer gleich an Infekte und die Übertragung tödlicher Krankheiten durch unsaubere Instrumente –, war mein Bauch auch nicht wirklich flach.

Tante Valentina meinte zwar immer: »Du bist so ein hübsches Mädchen, du siehst wenigstens nach was aus.« Aber das sagten die Erwachsenen immer. Die hatten keinen Blick dafür, wie ein Mädchen mit sechzehn aussehen musste. Sie fanden Hosen total kleidsam, die an den falschen Stellen Falten warfen.

In Uniform betrat ich das Rektorat. Die Rektorin des Colegio Bogotano hieß Claudia Aldana, war einen Kopf kleiner als ich, geschminkt und blond gefärbt und sprach perfekt Deutsch und Spanisch, wenn auch beides mit bayrischem Akzent.

»Und Ihre Eltern?«, fragte sie, irritiert an mir vorbeiblickend, als müsse noch jemand durch die Tür treten.

»Meine Mutter ist krank und mein Vater musste zu einem Notfall ins Krankenhaus«, erklärte ich.

»Na dann, herzlich willkommen«, sagte sie. »Ihre Noten sind gut, wie ich sehe. Sie kommen sicher gut zurecht hier. Es wird Sie gleich jemand in Ihre Klasse bringen. Scheuen Sie sich nicht, sich bei Problemen sofort vertrauensvoll an mich zu wenden. Viel Erfolg.«

Und – wusch – war sie weg.

Eine junge Frau brachte mich ins nächste Gebäude und übergab mich einer Lehrerin, die mich in die 11C einführte und ans Fenster neben Elena Perea platzierte. Elena war eine kleine, knubbelige Person mit schwarzen Haaren und einem südländisch dunklen Teint. Ihre Mutter sei Deutsche, erklärte sie mir sofort flüsternd. Ihr Vater war der berühmte schwerreiche Smaragdminenbesitzer Leandro Perea. Von dem hatte ich bis dahin nie gehört.

»Ich habe einen Leibwächter«, flüsterte Elena. Sie sprach Spanisch. »Ich werde mit dem Auto in die Schule gebracht und abgeholt.«

Ihre Schuluniform peppte sie mit Halstuch, Uhr, iPod-Kopfhörern und Sonnenbrille auf. Und sie musste am Morgen bestimmt eine Stunde vor dem Spiegel verbracht haben.

»Ich bin das geborene Entführungsopfer«, wisperte sie von der Seite auf mich ein. »Natürlich würde mein Vater sofort zahlen. Für mich würde er jede Summe zahlen. Ich bin doch sein Juwel, sein Smaragd, seine Esmeralda! Wenn die FARC mich entführen würde, würde er alles zahlen. Er ist in seinem Herzen ein Sozialist! Du weißt, was die FARC ist? Die Revolutionäre Volksarmee Kolumbiens. Sie entführen Leute und ...«

Ich nickte. »Ich weiß!«

»Aber leider ist nicht nur die FARC das Problem«, fuhr Elena unerschrocken fort. »Auf mich hat es praktisch jeder Kriminelle abgesehen. Ich kann jederzeit auf offener Straße gekidnappt werden. Du solltest auch aufpassen. Sie kommen von hinten auf Motorrädern und schnappen dir die Handtasche weg. Ein lahmer Bettler greift sich deine Geldbörse und rennt davon. Und die Imbissverkäufer tun dir K.-o.-Tropfen in die Cola und dann wachst du zwischen Mülltonnen wieder auf und bist geschändet und ausgeraubt und solche Sachen. Und nimm dich vor den Affen in Acht!«

»Den Affen?« Ich musste lachen. »Hier in der Stadt?«

»Ich spreche von den gezähmten Affen. Man findet sie süß und niedlich und will sie streicheln und währenddessen reißen sie dir die Ohrringe aus den Ohren und klauen dir das Handy aus der Tasche. Meine Landsleute sind leider alle Diebe, weißt du! Sie sind ungebildet und faul. Sie wollen alle das schnelle Geld und Party und Marlboro-rote Autos.«

»Ruhe, bitte!«, sagte die Lehrerin.

Elena war immerhin bis zur Pause halbwegs still. Dann fuhr sie fort, mich vor dem gefährlichen Pflaster zu warnen, das Bogotá darstellte. Aber eigentlich war sie ganz in Ordnung. Irgendwie bewunderte sie mich sogar. Das kannte ich von Vanessa gar nicht. Für Vanessa war ich immer die kleine Schwester gewesen, die man mal mitnahm, aber auch mal einfach sitzen ließ. Elena dagegen erklärte mir alles, zeigte mir die Mensa, die Bibliothek und ihre Computerräume. Außerdem stellte sie mich ihrer Clique vor und lud mich ein, mit ihnen allen zusammen am Wochenende ins Kino zu gehen, wenn es meine Eltern erlaubten. Schon nach einer Woche nahm sie mich mit zu sich nach Hause. Und als sie hörte, dass ich daheim geritten war, lud sie mich ein, sie in den Reitstall zu begleiten und auf einem von den fünf Pferden zu reiten, die ihrem Vater gehörten.

Ich musste zugeben, dass die Schule total okay war.

Inzwischen trat meine Mutter auch ihre Stelle im Labor der Privatklinik an, in der mein Vater arbeitete. Sie war eigentlich Fachärztin für Labormedizin und Mikrobiologie. Für die Laborstelle im San Vicente war meine Mutter zwar überqualifiziert, aber »besser als daheim herumsitzen«, wie sie meinte. »Vielleicht findet sich ja bald etwas Interessanteres. Und soll ich den ganzen Tag mit den Engländerinnen Tee trinken? Jasmin ist ja den ganzen Tag in der Schule.«

Genauer, bis vier Uhr nachmittags. Bis ich an der Haltestelle Pepe Sierra aus dem Schulbus gestiegen und nach San Patricio hineingelaufen war, war es halb fünf. Dann dauerte der Tag noch anderthalb Stunden. Denn in dieser Gegend am Äquator gibt es keine Jahreszeiten. Die Sonne scheint immer nur zwölf Stunden. Sie geht um sechs auf und um sechs unter. So gingen die ersten Wochen dahin.

Der Ruf des Kolibris
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