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Gleich am nächsten Tag gingen Elena und ich in der Shoppingmall von Bogotá Ballkleider kaufen. Die Mall war eine mehrstöckige, überdachte Einkaufsstraße, an deren gläsernen Eingangstüren in Kniehöhe kreisrunde Verbotsschilder klebten, auf denen eine Kamera, ein Getränk, ein Hamburger, ein Inlineskater, eine Pistole und ein deutscher Schäferhund abgebildet waren, alle durchgestrichen. Ich hatte längst aufgehört, über das Waffenverbotsschild zu lachen.

Kleiderkaufen war für mich eher grausig. Elena jubelte zwar jedes Mal, ich sähe toll aus, aber ich sah nur meine runden Hüften und fand mich in jedem Kleid zu dick und zu groß. In meiner Größe gab es außerdem nicht viel Auswahl. Die Kolumbianerinnen waren alle kleiner als ich. Elena reichte mir auch nur bis zur Schulter. Sie war übrigens auch nicht gerade spindeldürr, sie hatte durchaus Hüften und Busen, aber sie wirkte dennoch zierlich, temperamentvoll, elegant und sehr spanisch, obwohl ihre Mutter Deutsche war. Das Kleid in Rot und Beige mit den Volants eines Flamenco-Rocks stand ihr total gut mit ihren schmalen Fesseln. Unter dem Kleid ein paar dezente Netzstrümpfe und Stilettos, das war’s.

Aber ich? Oje! Egal, was ich anhatte, ich sah aus wie ein Konstanzer Bodenseemädel, das im nächsten Moment auf den Saum tappen und stolpern würde.

Vanessa war in dieser Hinsicht besser gewesen, wenn wir zusammen einkaufen gingen. Sie war immer sofort taktlos herausgeplatzt mit ihrem: »Das macht einen total fetten Arsch.« Oder: »Das schlägt voll hässliche Falten.« Oder: »Das ist zu knapp am Busen.« Aber Elena sagte so etwas nicht. Sie schaute mich nur mit großen entsetzten Augen an und rief: »Wunderbar siehst du aus!«

Ich war dicht davor, den Ball sausen zu lassen. Ehe ich wie eine Tomate im Hochzeitsgewand auflief, blieb ich lieber zu Hause. Die Blamage konnte ich mir sparen, von meinem Vater zu allem Überfluss auch noch dem kolumbianischen Präsidenten vorgestellt zu werden und beim Händeschütteln auf den Pumps umzuknicken und der Länge nach hinzuschlagen. Aber plötzlich näherte sich uns eine ältere Verkäuferin, die ich bisher noch nicht gesehen hatte. Sie kam aus den Tiefen des Ladens mit einem Kleid, das eigentlich nach nichts Besonderem aussah. Ein Stück Stoff in indianischen Farben mit violetten und roten ineinanderfließenden Streifen.

Elena schaute gar nicht hin. Sie suchte schon nach einem Schal. Die Verkäuferin schob mich lächelnd in die Umkleidekabine und drückte mir das Kleid in die Hände. »Probier es. Es passt zu dir, hübsch wie du bist.«

Ich war skeptisch. Aber tatsächlich war das Kleid wie für mich gemacht. Es bestand aus einem etwas groben, aber weich fließenden Webstoff und setzte sich zusammen aus einem Etuikleid und einem kurzen Bolero, der von meinem gebärfreudigen Becken ablenkte und meine Schultern betonte. Die Farben waren ziemlich folkloristisch, weshalb ich das Kleid nie selbst vom Kleiderständer gezogen hätte. Ich hätte auch nicht gedacht, dass meine rötlichblonden Haare und meine helle Haut zu den violett-roten Farben passten. Normalerweise trug ich Blau und Schwarz und Weiß. Aber aus dem Spiegel blickte mir auf einmal eine hübsche und lebenslustige Person entgegen, lächelnd mit leuchtenden blauen Augen und goldfarbenen Haaren.

Elena war nicht begeistert. »Du siehst aus wie unsere Putzfrau Pepita«, sagte sie.

Die Verkäuferin dagegen lächelte und brachte mir noch ein Handtäschchen aus demselben Stoff und ein Paar flache Schuhe aus golddurchwirktem violettem Leinenstoff. Meine Mutter würde vermutlich aufschreien: »Diese Farben! Kind!«

Aber ich konnte mir nicht helfen, mir gefiel es. Ich gefiel mir. Es war, als wollte das Kleid mich haben. Der Stoff schmeichelte meiner Haut, die Farben spielten mit meinem Teint und verwandelten meine Haare in üppiges Goldblond. Das Kleid erfüllte meine Glieder mit Lust auf Tanz und Festlichkeit. In diesem Kleid würde ich zur Not sogar einen Laufsteg oder einen roten Teppich entlanggehen können, ohne zu stolpern.

»Ich nehme es!«, sagte ich. Der Preis, den mir die Verkäuferin nannte, war akzeptabel, auch wenn ich immer eine Weile brauchte, bis ich die Hunderttausende von Pesos in Euro umgerechnet hatte. Zwei Euro waren gut fünftausend Pesos wert. Aber in solchen Läden standen sowieso meist gleich Dollarpreise dabei.

Ich war zum ersten Mal nicht unzufrieden mit dem, was ich gekauft hatte. Es war kein Kompromiss zwischen Mode und meiner Figur, sondern es passte. Dennoch beschlich mich ein kleines seltsames Gefühl von schlechtem Gewissen, als wir mit Tüten und Taschen den Laden im ersten Stock verließen und auf die Galerie traten. Zuerst dachte ich, typisch Jasmin! Wenn ich mir etwas nicht zugestehen wollte, dann, dass ich hübsch war. Ich war es einfach gewöhnt, ein bisschen zu plump zu sein, nie wirklich scharf, zu sportlich, ein bisschen zu füllig und ziemlich öde. Damit konnte ich umgehen. Wenn Vanessa mir sagte, ich hätte zu dicke Schenkel, dann kränkte mich das nicht. Aber wenn mein Vater mir sagte, ich sei hübsch, oder wenn einer seiner Kollegen mir Komplimente machte, dann war mir das höllisch unangenehm. Sie logen doch nur, dachte ich, sie sagten mir nur was Nettes, um mich in Verlegenheit zu bringen. Außerdem fanden Männer sowieso alle jungen Frauen hübsch. Die sahen gar keine Unterschiede. Denen ging es auch nicht wirklich um mich. Unlängst war mir aufgefallen, dass manche älteren Kollegen von Papa mich anstarrten, als hätten sie mich schon ausgezogen. Vanessa gefiel so was, mir nicht. Es war ja auch gar nicht mein Ziel, den Jungs oder Männern zu gefallen. Ich wollte nicht geheiratet werden, ich wollte Ärztin werden.

Doch das Gefühl, mit dem ich jetzt meine Neuerwerbung für den Diplomatenball in der Einkaufstüte durch die Galerie trug, war nicht so sehr Ekel, Abscheu oder Ärger, es ähnelte eindeutig eher einem schlechten Gewissen. Aber was war es, was mich störte? Worum ging es? Warum war ich einerseits glücklich und andererseits beschämt? Durfte ich nicht glücklich sein?

Auf der Rolltreppe fiel es mir plötzlich ein, und ich fühlte, wie ich errötete und wie mein Atem schneller ging. Wird das Kleid Damián gefallen?, hatte ich gedacht. Ich hatte es mehrmals gedacht, als ich vor dem Spiegel stand, ich hatte mich mit Damiáns Augen betrachtet. Was würde einem Indio gefallen, der mit einer Alten zusammenlebte, die noch die alte Tracht trug? Wenn ich mich auf dem Ball in diesem Kleid präsentierte, dann zeigte ich ihm, dass ich mich für die Ureinwohner interessierte, für ihn, für seine Welt. Ich machte deutlich, dass ich in seine Welt wollte, die der bunten Farben. Ich hatte mich für ihn schön gemacht.

Mir wurde schwarz vor Augen. O Gott! Wie peinlich! Ich übersah das Ende der Rolltreppe und stolperte.

»Sag mal!«, kicherte Elena. »Was ist denn los?«

»Nichts. Ich überlege nur ...«

Ich würde das Kleid nicht anziehen können. So viel stand fest. Am besten, ich brachte es gleich zurück.

»Was überlegst du?«

»Ich überlege, ob ich das Kleid zurückbringe.«

Aber was würde die Verkäuferin sagen, die sich so viel Mühe gegeben hatte? Wie sollte ich ihr das erklären? »Es gefällt mir nicht« wäre eine Lüge gewesen, und sie wüsste es, denn sie hatte gesehen, wie ich mich anschaute und dass es mir gefiel. »Es ist mir zu teuer« ging auch nicht. Elenas Kleid hatte das Doppelte gekostet, und wir beide sahen nicht so aus, als könnten wir uns die Kleider nicht leisten. Elena hatte der Verkäuferin sogar erzählt, dass wir am Samstag auf den Diplomatenball gehen würden.

»Zurückbringen?«, fragte Elena nach. »Warum denn?«

»Du fandst doch auch, dass ich darin aussehe wie eure Pepita.«

»Du siehst gut aus darin. Du als Deutsche kannst so was tragen. Ich könnte es nicht, ich als Kolumbianerin. Aber du kannst das tragen.«

»Warum kannst du als Kolumbianerin so was nicht tragen?«

»Mein Vater sagt, wir können uns nicht anbiedern bei den Ureinwohnern. Obwohl er indianisches Blut in seinen Adern fließen hat, wie er sagt. Aber hauptsächlich hat er spanisches Blut. Er stammt auch von den Eroberern ab, und die haben die Indios getötet, früher einmal. Wenn wir in Indioklamotten rumlaufen, dann wäre das ... na ja, wie Hohn und Spott. Verstehst du?«

»Deshalb habe ich jetzt auch gedacht, ob es nicht besser ist, wenn ich was anderes anziehe, irgendwas aus Chiffon mit Volants, was Hellblaues oder so.«

Hellblau! Mir grauste jetzt schon. Tante Valentina hatte einmal festgelegt: »Hellblau, das steht der Jasmin. Da sieht sie frisch und fröhlich aus.«

Meine Mutter hatte leider überhaupt keinen Geschmack. Deshalb vertraute sie in Kleiderfragen ihrer Schwester Valentina, die zwar keine Kinder hatte, dafür aber zu allem eine Meinung.

Doch frisch und fröhlich wollte ich auf keinen Fall aussehen. Auch wenn das den Erwachsenen am besten gefiel.

»Aber das Kleid steht dir«, sagte Elena. »Und richtig echt Folklore ist es doch auch nicht. Die Frau von Präsident Uribe hat kürzlich auch mal so was angehabt. Das ist jetzt Mode. Außerdem ist es schon spät. Der Chauffeur wartet. Und wenn du willst, dass ich dich mitnehme ...«

Und davon abgesehen: Damián würde mich in diesem Kleid doch niemals zu Gesicht bekommen. Ein Hausmeistergehilfe wurde nicht auf einen Diplomatenball eingeladen.

Der Ruf des Kolibris
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