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Es wurde schnell heller im Fensterviereck des kleinen Zimmers im Hotel von San Andrés de Pisimbalá. In knapp zwei Stunden würden wir zu den unterirdischen Gräbern des geheimnisvollen Volks der Nasas aufbrechen, in denen man Abschied nahm von den Irrtümern des Lebens und sie zurückließ wie Tote. Damián stand am Fenster. Ich fröstelte, allein auf dem Bett.

Noch immer trug er die blaue Wetterjacke, deren Rascheln mich vor zwei Stunden geweckt hatte. Noch immer lag ich in Kleidern und Schuhen auf dem Bett, so wie ich mich am Abend hatte fallen lassen, halb tot vor Trauer und so kraftlos, dass ich geglaubt hatte, selbst zum Schlafen zu müde zu sein.

Irgendwo draußen sang ein Vogel, laut und traurig. Es war der einzige Ton, den man hörte.

»Damián!«, sagte ich. Meine Stimme klang klein und verzagt.

Er drehte sich um und lehnte sich gegen das Fensterbrett. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, aber so hell war es schon, dass die Kerze auf dem Nachttisch fahl und sinnlos wirkte.

»Das alles habe ich dir erzählt, Jasmin, damit du mich verstehst. Ich hätte dir schon viel früher von meinen Gedanken und Gefühlen erzählen sollen. Ich hätte nicht immer weglaufen dürfen. Stattdessen hätte ich mich auf unsere Tradition besinnen sollen. Wir erzählen uns lange Geschichten, wir haben viele Legenden und Sagen. Sie dienen dazu, dass wir verstehen, was wir fühlen.«

»Die Legende von der Liebe des Kolibris und des Bären zum Beispiel«, bemerkte ich.

Er schaute mich überrascht an. »Ach so«, fiel ihm dann ein. »Du hast ja angefangen, dir von Juanita unsere Legenden erzählen zu lassen und sie aufzuschreiben.«

»Diese hat mir Tano erzählt«, erklärte ich. »In Yat Wala. Ich bin beinahe gestorben vor Angst dabei. Sie endet fürchterlich.«

Damián nickte. »In gewisser Weise erzählt sie von uns, Jasmin.«

»Wir haben auch so eine alte Geschichte: Romeo und Julia

»Shakespeare, ich weiß.« Er strich sich über die Haare. Sein Blick ging ins Leere. Für eine Weile starrte er verloren vor sich hin, dann sah er auf und lächelte traurig. »Es sind uralte Wahrheiten, Jasmin. Wir können uns nicht gegen sie stellen.«

»Doch, wir können!«, widersprach ich aufgebracht. »Wir leben im 21. Jahrhundert. Und heute«, fiel mir ein, »ist Día de la Raza, Tag der Rassen.«

»Ganz recht«, sagte er. »Heute gedenken wir Indígenas unserer Unterwerfung und Vernichtung durch die Spanier, die Kolumbus folgten.«

»Aber wenn der Tag irgendeinen Sinn hat, Damián, dann doch den, dass wir die Brutalität überwinden müssen. Wir müssen lernen, einander zu achten und zu vertrauen. Wir beide, Damián! Wir können das. Wer, wenn nicht wir! Wir lieben uns. Dagegen kann keiner etwas machen. Wir müssen eine neue Legende schaffen!«

Es kam mir vor wie ein letztes Aufbegehren vor dem Untergang.

»Ich gehe mit dir, wohin du willst, Damián!«

Er stieß sich vom Fenster ab und fiel mehr auf mein Bett, als dass er sich setzte. Er ergriff meine Hände. »Jasmin, es ehrt mich und es macht mich glücklich, dass du mir vertraust. Aber ich kann dich nicht mit mir nehmen. Schon deshalb nicht, weil du noch nicht volljährig bist. Dein Vater kann dir verbieten, mit mir zu gehen.«

»Dann haue ich eben ab. Damián, ich ...«

Er schüttelte den Kopf. »Es käme einer Entführung gleich, wenn ich dich mit mir nähme.«

»Na und! Wer würde uns finden? Sie suchen seit drei Jahren nach der entführten Deutschen und haben sie nicht gefunden. Und in zwei Jahren bin ich achtzehn, dann darf ich selbst entscheiden, wo ich leben will.«

»Du willst Medizin studieren, hast du mir erzählt.«

»Ach, das ...«

Er unterbrach mich. »Und dazu musst du einen Schulabschluss machen. Du kannst dich nicht zwei Jahre lang im Urwald verstecken.«

»Und wenn ich gar nicht Medizin studieren will?«

Er hob erstaunt die Brauen.

Ich schämte mich sofort meines trotzigen Satzes. In Kolumbien wäre so mancher junge Mensch dankbar, wenn er sich seinen Traum erfüllen und Medizin oder etwas anderes studieren könnte, mit dem er gutes Geld verdient und das Land weiterbringt, und ich wollte das einfach so wegwerfen? Ich besann mich. »Und wenn ich in zwei Jahren wiederkomme?«

Damiáns Augen blitzten kurz auf. Er konnte es nicht verbergen, jedenfalls nicht vor mir, wie viel Hoffnung in ihm aufflammte, wild und verzweifelt.

Ich redete ebenso verzweifelt weiter: »In neun Monaten werde ich mit meinen Eltern zurück nach Deutschland gehen müssen, so wie die Dinge liegen. Aber ich komme wieder, Damián. Ich mache mein Abitur, und sobald ich volljährig bin und meine Eltern nicht mehr darüber bestimmen können, wo ich lebe, komme ich zu dir zurück. Dann studiere ich hier Medizin. Vielleicht sogar an der Universität, die du inzwischen gegründet hast.«

»Das klingt schön«, sagte er leise. »Das wäre wunderschön. Aber es ...«

Es klopfte an der Zimmertür.

Damián zuckte zusammen und sprang auf.

»Jasmin!«, rief Felicity Melroy und klopfte noch einmal. »Bist du wach?«

Damián huschte leise zur Wand hinter der Tür. Aber Felicity kam nicht herein. Sie hatte mich offenbar nur wecken wollen. »In einer Viertelstunde gibt es Frühstück!«, rief sie von draußen.

»Ja«, antwortete ich laut. »Ich bin schon am Aufstehen.« Ich schwang meine Beine aus dem Bett, das ordentlich knarrte.

»Wir brechen gleich nach dem Frühstück auf«, fügte sie hinzu.

»In Ordnung.«

Wir hielten beide den Atem an, bis ihre Schritte im Gang verklungen waren. Dann löste sich Damián von der Wand, kam zu mir, schlang die Arme um mich und küsste mich leidenschaftlich. Ich zitterte vor Aufregung, Angst und Kälte und wahrscheinlich auch vor Müdigkeit.

»Wir müssen uns noch mal sehen«, sagte ich. »Am besten heute Abend. Da gibt es Musik und Tanz hier im Hotel. Ich sage einfach, mir sei nicht gut, und gehe auf mein Zimmer.«

Damián strich mir die Haare aus dem Gesicht. Seine Miene war zärtlich und ernst. Seine Finger berührten die Haut meiner Wangen zart wie Spinnweben. Sein Blick schmolz. Doch wieder rückte er von mir ab.

»Jasmin! Du ... du weißt noch nicht alles!«

Eigentlich wusste ich es längst. Insgeheim war es mir klar. Doch auch jetzt wagte ich nicht zu fragen, zu sehr fürchtete ich seine Antwort, die mir keine Wahl mehr lassen würde.

»Du erinnerst dich an den Kellner, mit dem ich mich auf dem Diplomatenball gestritten habe?«, begann er stockend.

Ich nickte.

»Ich habe dir erzählt, dass ich ihn unter den Toten von Don Antonios Männern wiedererkannt habe. Ich bin schuld daran, dass er tot ist.«

Ich konnte nichts sagen. Ich verspürte Erleichterung. Solange es nur um diesen Kellner ging. Ich rief mich aber zur Ordnung. Auch der Kellner hatte ein Recht auf Leben.

»Als ich ihn unter den Toten sah«, fuhr Damián leise fort, »wusste ich bereits, dass er Don Antonios Truppe tatsächlich vor gut einem halben Jahr verlassen hatte, um in Bogotá ein ehrliches Leben zu führen. Er hatte eine Anstellung in der Catering-Firma gefunden, die beim Ball serviert hat. Sein Pech war, dass ich ihn erkannte, ohne zu wissen, dass er nicht mehr zu Antonios Kämpfern gehörte, und dass ich ihn zur Rede stellte und ihm damit drohte, dass ich seinem Chef sagen würde, wo er herkam. Damit habe ich ihm sein neues Leben zerstört. Er hatte keine andere Wahl, als in den Cauca zurückzukehren und sein altes Leben wieder aufzunehmen und ... zu sterben.«

»Aber du konntest doch gar nicht wissen ...«

Damián hob die Hand. »Der wahre Grund, warum ich ihm damit gedroht habe, ihn als Spion der FARC zu denunzieren, war, dass er auch mich erkannt hatte, den Neffen von Tano el Carnicero, Tano dem Schlachter, der vor drei Jahren die deutsche Lehrerin, Susanne Schuster, entführt hat. Ob meine Gönner eigentlich wüssten, fragte er mich grinsend, dass der gute Junge mit dem Stipendium des CRIC ein mieser kleiner Verbrecher sei.«

»Er wollte dich erpressen?«, sagte ich aufgebracht.

»Nein, Jasmin. Er hat mir zeigen wollen, dass wir beide im selben Boot sitzen, dass ich nicht besser bin als ein Kellner, nur weil mir der Botschafter die Hand geschüttelt hat und ich einen Smoking trage.«

»Trotzdem konntest du nicht wissen, dass der Mann wieder zu Don Antonio zurückkehrt und später von deinem Onkel und seinen Leuten getötet werden würde.«

Damián blickte mich lange an und nickte dann. »Nein, wissen konnte ich das nicht. Aber ich habe einen Fehler gemacht. Ich habe nur an mich gedacht. Denn wenn der Kellner sich tatsächlich an die Behörden gewandt hätte, dann hätte mein Onkel Tano kaum Schwierigkeiten bekommen – denn ihn hätten sie erst einmal festnehmen müssen –, ich aber umso mehr.«

Ich nickte und merkte nicht, dass ich immer noch nichts verstanden hatte und dass Damián bereits begonnen hatte, mir das zu sagen, was ich so sehr fürchtete, weil es mir – weil es uns beiden – keine andere Wahl mehr ließ.

»Die Polizei«, sagte ich, »hätte dich vernommen zum Entführungsfall Susanne Schuster.«

»Nicht die Polizei, Jasmin. Sondern Spezialeinheiten des Militärs. Sie sind nicht zimperlich mit uns, wenn es darum geht, Entführungsfälle zu lösen. Ich wäre entweder für viele Jahre im Gefängnis verschwunden, falls ich nicht überhaupt spurlos verschwunden wäre, oder ich hätte den Aufenthaltsort der Geisel verraten müssen. Und damit hätte ich wiederum nur bewiesen, dass ich in die Sache verwickelt bin.«

»Aber sie hätten es dir doch auch beweisen müssen, Damián. Leandro würde dir einen Anwalt stellen, da bin ich sicher. Elena ist meine Freundin, sie wird ...«

Damián legte mir den Finger auf die Lippen. »Scht, Jasmin. Ehe du meine Verteidigung vor Gericht organisierst, musst du eines wissen: Ich war tatsächlich an der Entführung von Susanne Schuster beteiligt.«

Nun hatte er es doch gesagt: den Satz, vor dem ich Angst hatte, seit Clara von Susanne Schuster erzählt und ich Onkel Tano in die bösen, kalten Augen gesehen hatte.

»Ich habe die Lehrerin in den Hinterhalt gelockt«, fuhr Damián fort. Sein Blick war wild und verzweifelt. »Ich war das, Jasmin, ich!«

»Aber ...« Ich verschluckte mich fast. »Warum?«, fragte ich verzweifelt. »Warum, Damián?«

Er senkte den Blick.

Das also war das Ende, dachte ich. Es war ein unsagbar niederschmetternder Gedanke. Der Mann, der vor mir auf meiner Bettkante saß, breitschultrig, stark und mit dieser kraftvollen Leichtigkeit in den Bewegungen, die mich von Anfang an fasziniert hatte, wirkte auf einmal müde und kraftlos.

»Warum?«, schrie ich fast. »Sag es mir!«

»Ja, warum?« Er blickte mich an. Seine Augen waren wie erloschen. »Wie soll ich dir das erklären?« Er schaute sich im Zimmer um. Das Hotel war inzwischen erwacht. Man hörte Türen gehen, Stimmengemurmel, Schritte auf dem Gang. Noch ein paar Minuten, dann würde Felicity wieder klopfen. »Und jetzt«, fuhr er fort, »ist auch nicht mehr die Zeit, es zu tun.«

Ein Funke Hoffnung blitzte in mir auf. Ich klammerte mich daran. Wenn er mir noch etwas erklären musste, dann ... dann war es doch noch nicht das Ende.

»Ich möchte es aber verstehen«, sagte ich. »Du musst mir die Chance geben.«

Er lächelte leicht. Er durchschaute meinen Versuch und vielleicht empfand er genauso wie ich. Solange es noch etwas zu besprechen gab, solange noch nicht alles gesagt war, mussten wir uns wiedersehen, bestand Hoffnung.

»Und dann überlegen wir, wie wir es wiedergutmachen können«, sagte ich eifrig. »Wir müssen den Behörden sagen, wo die Geisel ist. Du kannst es wiedergutmachen.«

Er lachte hart. »Auf Verrat steht der Tod. Sie werden mich umbringen.«

»Wer, die Militärs?«

»Nein, die Organisation. Die Geisel ist seit einem Jahr nicht mehr in Tanos Besitz. Er hat sie an eine andere, viel größere Gruppe der FARC verkauft. Die Organisation bestraft jeden Verrat mit dem Tod. Ich dürfte bestenfalls hoffen, dass sie mich zuerst töten und ich nicht mit ansehen muss, wie sie Tante Maria, meine Cousinen Alejandra und Ana und deren Männer umbringen. Die Einzigen, die sie vielleicht am Leben lassen werden, sind die Kinder. Willst du das, Jasmin?« Sein Blick bohrte sich in meinen. »Wenn du das wirklich willst, dann tue ich es!«

Wie konnte ich das wollen? Nein, natürlich wollte ich das nicht! Aber ich konnte auch nicht einfach sagen: »Tu es nicht!« Das hätte mich zur Komplizin der Geiselnehmer gemacht. Ich hätte dazu beigetragen, dass Susanne Schuster vielleicht noch viele weitere Jahre in Geiselhaft litt, womöglich sogar starb.

Wie sollte ich die richtige Antwort finden, in den wenigen Minuten, die Damián und mir blieben in dem inzwischen taghellen Zimmer des El Refugio von San Andrés de Pisimbalá in den Nebelbergen von Kolumbien? Ich fand keine.

Der Ruf des Kolibris
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