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Ich habe nichts gesagt!«, schwor Elena am Dienstag in der Schule. »Ich hätte auch gar nichts sagen können, denn ich habe schon wieder vergessen, wie der Ort hieß, von dem du gesprochen hast.« Das Entsetzen sickerte langsam in ihr Gemüt. »Ist das wirklich wahr? Damián hat Susanne Schuster entführt, er und dieser fürchterliche Onkel Tano! Kann man denn diesen Indios nie trauen? O Gott, wenn ich mir das überlege. Wir waren tatsächlich praktisch in der Höhle des Löwen!«

»Damián hat uns das Leben gerettet, Elena! Schon vergessen?«

»Einen Nutzen wird er davon schon auch gehabt haben«, bemerkte sie.

»Was willst du damit sagen?«, fragte ich erregt.

Die Ankunft des Lehrers unterbrach uns.

Eine Stunde lang dachte ich darüber nach, ob es nicht doch Elena gewesen war, die etwas erzählt hatte, vielleicht ihrer Mutter, und die hatte es dann ihrem Mann erzählt oder irgendeiner Freundin. Doch Elenas Mutter hätte dann sicher sofort meine Mutter angerufen. Also doch der Professor? Oder war John Green noch dabei gewesen, als ich Elena erzählt hatte, ich wüsste, wo die Geisel ist? Nein, definitiv nicht. Aber vielleicht hatte es Elena ihm später erzählt.

»Wie steht es eigentlich mit John und dir?«, fragte ich sie in der nächsten Pause.

Sie zwinkerte mir zu. »Er ist total verknallt in mich, so viel steht fest.«

»Und du?«

Sie zuckte desinteressiert mit den Schultern. Doch ihre Augen glitzerten verräterisch. Ich kannte das von Vanessa. Wenn sie ein bestimmtes Gesicht aufsetzte, so eines, in dem ständig ein Lächeln zuckte, dann war sie verliebt, und ich war regelmäßig für die nächsten Wochen abgemeldet gewesen, genauso wie Simon. Dann hatten Simon und ich auf meinem Zimmer Tee getrunken und über Liebe und Freundschaft philosophiert. Dabei hatte er an Vanessa gedacht und ich an ihn.

»Du bist aber auch ganz schön verknallt, Elena!«, neckte ich sie. »Was macht ihr denn so zusammen? Was hast du ihm erzählt?«

»Worüber?«

»Über dich, über uns, über Damián?«

»Nichts! Was hätte ich ihm erzählen sollen?«

Sie hatte recht. Was hätte sie ihm erzählen können, was nicht jeder wusste? Susanne Schuster war im Cauca entführt worden.

»Er sagt übrigens, dass die Deutsche längst ...« Elena stoppte, hielt sich den Mund zu und fing dann an zu lachen.

»Dann habt ihr also doch darüber gesprochen!«

»Jeder spricht über die deutsche Geisel, Jasmin. Das ist nichts Besonderes. John hat mir nur erzählt, dass die Regierung immer noch eine Befreiung plant, obwohl die erste im Februar schiefgegangen ist. Sie haben jetzt einen Spitzel bei der FARC eingeschmuggelt. Sie wissen genau, wo die Geisel ist. Aber das darfst du niemandem erzählen, Jasmin. Auch Damián nicht.«

»Wieso Damián nicht? Du denkst doch nicht wirklich, dass er losrennt und die FARC warnt!«

Elena schwieg verstockt. Dann wurde sie hektisch. »Ich muss los. Wir reden nachher weiter, in der Mittagspause.«

Es war die letzte Stunde vor der Pause, in der die Klasse zu unterschiedlichen Wahlkursen auseinanderströmte. Elena hatte Theater belegt, ich Ethnologie. In der Mittagspause passte ich sie vor dem Theatersaal ab, schleppte sie im Galopp zur Essensausgabe und zog mich mit ihr an einen Zweiertisch in der Ecke bei den Klos zurück, damit unsere Clique uns nicht dazwischenkommen konnte.

Elena erklärte mir lang und breit, was John Green ihr alles über Geiselnahmen erzählt hatte. »Den kleinen Guerillagruppen geht es nur ums Geld für Waffen und Sold und so. Aber bei der deutschen Lehrerin ist nichts zu holen. Deshalb hat die kleine Guerillagruppe sie vor einem Jahr oder so an die FARC verkauft. Das ist eher ein Nachteil, sagt John, denn bei der FARC geht es um Politik. Unsere Regierung verhandelt aber nicht mit der FARC. Die FARC kann Susanne Schuster noch jahrelang irgendwo versteckt halten, und zwar so lange, bis Deutschland die Nerven verliert und was zahlt. Die deutsche Regierung zahlt letztlich immer, heißt es.«

»So.« Ich überlegte, wie ich Elena dazu brachte, mir zu verraten, was sie dem britischen Militärattaché über Damiáns Familie erzählt hatte. »Du hast doch deinem John sicher erzählt, dass Damián uns das Leben gerettet hat?«

Elena zog die Brauen hoch. »Hat er das denn wirklich?«

»Spinnst du? Natürlich hat er. Zum Beispiel hat er verhindert, dass es in Yat Wala eine Schießerei zwischen euren Bodyguards und Tanos Truppe gab.«

»Falls es wirklich so war.«

»Wie denn sonst?«

»Nun ja.« Elenas Augen glitzerten schlau. »Es könnte doch auch alles Show gewesen sein. Damit wir glauben, wir würden ihm unsere Rettung verdanken.«

»Schwachsinn! Wozu sollte das gut sein?«

»Mein Vater hat viel Geld an diese Organisation gespendet, diesen Indianerrat. Vielleicht hofften sie auf mehr. Ein Mann wie mein Vater kann ihnen lebend und in Freiheit mehr nützen als als Geisel, verstehst du?«

»Ich hätte deinen Vater wirklich für dankbarer gehalten. Aber anscheinend ist er auch nur einer von diesen ...«

»Vorsicht!« Elenas Augen blitzten. »Sag jetzt nichts Falsches, ja! Du sprichst von meinem Papa! Verstehst du?«

Ich verstand plötzlich. So sah die Dankbarkeit des Gran Guaquero aus. Er leugnete, dass er sich in Gefahr befunden hatte, er erklärte die Handlungen seines Retters zur großen Show. So befreite er sich aus seinen Verpflichtungen beispielsweise der Sache der Indígenas vom Cauca gegenüber und kehrte in sein altes Leben zurück, in dem er der König der Smaragde war und Elena sein Prinzesschen. Ich spürte, wie die kalte Wut in mir hochstieg.

»Ja, ich verstehe, Elena!«, sagte ich. »Ihr seid euch alle einig, dass Damián ein Verbrecher ist, der nur an seinen Vorteil denkt. Die Indios sind alle Diebe, nicht wahr? Und wenn ihr ihm jetzt noch eine Geiselnahme anhängen könnt, müsst ihr ihm nicht mehr dankbar sein, dann gilt alles nichts mehr, was er für uns getan hat.«

»Wir haben ja auch was für ihn getan!«, warf Elena ein. »Wir haben seine Schwester mitgenommen. Dein Vater hat sie gesund gemacht.«

»Ah so. Dann schuldet ihr Damián nichts mehr, meinst du? Wunderbar. Und vielleicht erschießt ihn ja jetzt das Militär, dann kann dein Vater sich die Killer sparen, die ihn eines Tages ermorden müssten, wenn er als Politiker zu unbequem wird.«

Elena war kurz sprachlos. »Wie ...«, stotterte sie, »wie kommst du dazu, meinem Vater so etwas zu unterstellen?«

»Bist du wirklich so naiv, Elena?«, legte ich in meinem blinden Zorn nach. »Glaubst du wirklich, dein Vater hätte nicht den einen oder anderen Menschen auf dem Gewissen? Er ist Minenbesitzer! Einer wie er hat viele Feinde! Und er hat viele vernichtet, sonst wäre er nie so weit gekommen. Das muss dir doch klar sein, Elena! So dumm kannst du doch nicht sein!«

Tränen schossen ihr aus den Augen. Wortlos stand sie auf und lief aus der Kantine. Das Tablett hatte sie stehen lassen.

Ich war erschrocken. Sollte ich ihr nachrennen? Die entscheidende Frage hatte ich Elena gar nicht gestellt, fiel mir plötzlich ein. Hatte sie John oder ihrem Vater erzählt, wo sich Clara aufhielt? Und hatte John es der Polizei weitererzählt? Elena wusste nur, dass Clara bei ihrer Großmutter wohnte. Aber wo die Großmutter wohnte, das herauszufinden war nicht schwierig, galt sie doch in den Kreisen, in denen Elenas Mutter genauso wie Mrs Melroy verkehrte, als Wunderheilerin. Aber vielleicht war das nicht einmal mehr die entscheidende Frage. Die Polizei hatte mit meinen Eltern gesprochen. Und zwar auch über unsere Reise Anfang der Ferien nach Yat Pacyte. Mein Vater hatte sicher erzählt, dass wir Clara mitgebracht hatten. Jetzt brauchte die Polizei nur bei der staatlichen Krankenversicherung nachzufragen, wo Clara sich aufhielt. Die Sozialdienstler hatten die genaue Adresse, sie waren ja dort gewesen. Und wenn das Militär sich Clara holte, dann war Damián erpressbar.

Scheiße!

Ich musste Clara warnen! Und Damián!

Stopp! Machte ich mich damit nicht endgültig zur Komplizin? Und wenn die Polizei nichts von Clara wusste? Vielleicht sollte ich zunächst meinen Vater anrufen und ihn fragen, was er der Polizei genau erzählt hatte. Das hatte ich gestern Abend versäumt. Gestern Abend hatte ich mich meinen Eltern gegenüber genauso verhalten wie heute Elena gegenüber: Statt zuzuhören und so viel wie möglich zu erfahren, hatte ich herumgeschrien, mich und Damián ungerecht behandelt gefühlt und Vorwürfe verteilt.

Der Lärm in der Mensa war tumultartig. Ich kam kaum zum Nachdenken. Und schon überfiel mich der nächste Schrecken. Wenn tatsächlich weder mein Vater noch Elena der Polizei irgendetwas über Damián, Clara und das Schwarze Wasser erzählt hatten, wenn es wirklich nur der Professor gewesen war, dann bedeutete es, dass die Polizei Susanne Schuster womöglich tatsächlich inzwischen wieder in der Gegend von Damiáns Heimat vermutete, weil sie mir unterstellte, ich hätte die allerneuesten Informationen über ihren Aufenthaltsort. Also war ich schuld, wenn jetzt Damián und seine Familie ins Visier von Militär und Polizei gerieten.

Hilfe? Was musste ich tun? Ich rannte hinaus in die Grünanlagen und fragte mich immer wieder: Was soll ich nur tun? Was muss ich tun?

Zu allem Unglück hatte ich auch noch Elena tödlich gekränkt. Ich war wütend auf mich gewesen und auf Damián, auf unsere ausweglose Situation und hatte eine Schuldige gesucht. Ich hatte ihr wehtun wollen und das war mies gewesen. Das Schlimme daran war, dass ich das, was ich gesagt hatte, nicht mehr zurücknehmen konnte. Ich hatte Elenas Vater als Mörder bezeichnet. Ohne einen einzigen Beweis. Ich hatte es getan, weil Damián es behauptet hatte. Ich hatte es ihm einfach nachgeplappert.

Auf einmal steckte ich ganz tief drin in der Scheiße, die dieses verfluchte Land regierte. Krieg, Verbrechen, Feindseligkeit, Unversöhnlichkeit. Ich, Jasmin Auweiler aus Konstanz, sechzehn Jahre, war unversehens Teil des großen bösen Kriegs geworden. Womöglich hing es sogar von mir ab, ob Susanne Schuster befreit wurde, lebte oder starb, und ich hatte keine Ahnung, was ich tatsächlich tun musste, damit es für sie gut ausging, und für mich und für Damián und, nicht zu vergessen, für Clara und Juanita.

Es war niemand da, den ich um Rat fragen konnte. Für meine Eltern wäre der Fall klar gewesen. »Du musst der Polizei alles erzählen, was du weißt. Das ist nicht unsere Sache, Jasmin.« Wenn es nach ihnen ging, musste ich Damián verraten. Er war der Böse, wir die Guten.

Was hätte Felicity Melroy mir geraten? Tu, was dein Herz dir sagt. Die Liebe kennt kein Gut und Böse, sie kennt nur blinde Treue.

Mir fiel das Handy schier aus der Hand vor Hektik. Aber es ging nur die Haushälterin dran. Mrs Melroy sei ein paar Tage außer Haus, verkündete sie. Mein Vater war ebenfalls nicht zu erreichen. Er operierte gerade.

Also gut. Vielleicht war es ein Zeichen, dass ich zuerst einmal Elena suchen ging, um sie irgendwie um Entschuldigung zu bitten. Aber entweder ich suchte nicht gründlich genug, weil ich mich insgeheim vor der Szene fürchtete, oder sie war heimgegangen. Eine gute Idee! Ich hätte mich sowieso nicht mehr auf den Unterricht konzentrieren können.

Ich täuschte Übelkeit vor, entschuldigte mich und setzte mich in den Bus.

Vom Colegio Bogotano fuhr man über die große Autopista a Tunja auf die Wolkenkratzer von Santafé zu. In der blauen Ferne zackten sich die immensen Gipfel der Anden. Wieder einmal fiel mir die krasse Mischung aus Gelassenheit und Raserei, Eselskarren und Limousinen, Hütten und Hochhäusern auf, die Bogotá ausmachte. Die Straßen waren so breit, dass sie selten voll wirkten, obwohl ständig vom Verkehrskollaps die Rede war, die Sonne tauchte die Asphalt- und Steinlandschaft im Dunst der Stadt in ein gelbes Licht, auf den Fußwegen spiegelten Pfützen vom letzten Regen. Das alles war mir längst vertraut. Wie oft war ich mit dem Bus die Strecke gefahren und hatte mich gefragt, ob ich hier leben wollte. Das war, als ich noch dachte, wenn ich mich für dieses Land entscheiden würde, könnte ich Damián davon überzeugen, dass es mit uns beiden ging.

Meine Mutter war nicht zu Hause. Estrellecita saß auf dem Sofa und telefonierte. Sie sprang auf und beendete hektisch das Gespräch, als ich eintrat.

»Mama ist nicht zu Hause?«, fragte ich.

Estrellecita schüttelte den Kopf.

»Dann ist sie heute doch arbeiten gegangen?«

Estrellecita nickte.

Eigentlich hatte ich angenommen, dass meine Mutter sich heute wegen Migräne wieder mal eine Auszeit genommen hatte, nach der Szene gestern. Aber gut.

Die Wohnung war wie üblich grabeskalt. Ich ging in mein Zimmer, zog die Schuluniform aus und Jeans, Shirt und Weste an und nahm die Regenjacke, ohne die man nie aus dem Haus ging. Immer noch steckte das Kondom in der Tasche. Gut, dass meine Mutter nicht dazu neigte, meine Jackentaschen zu durchwühlen. Ich sagte Estrellecita, dass ich zum Abendessen wieder da sein würde, und verließ das Haus. Ich machte mich auf den mir so unendlich vertrauten Weg nach Santa Ana.

Als ich das blaue Tor zwischen den beiden mit Motiven aus Uyu oder Tierradentro bemalten Pfosten öffnete und auf dem schmalen Weg über die Bretter balancierte, die über die Pfützen und matschigsten Stellen gelegt waren, musste ich daran denken, mit welch bangen Gefühlen ich den Weg zum ersten Mal hinaufgegangen war, in diesem unheimlichen Spalier indianischer Magie, die mich an Giftpfeile und rituelle Tänze erinnert hatte.

Juanita hockte auf dem Boden vor der Tür und zerstieß Kräuter in einem Mörser. Die Hühner scharrten in der Erde nach Würmern, die Ziege meckerte hinterm Haus. Der kleine Hund namens El Tonto, der Idiot, lag in der Sonne. Er bellte schon lange nicht mehr, wenn ich kam. Ganz so idiotisch konnte er also nicht sein. Es war alles wie immer, ruhig und friedlich. Clara war noch nicht da, sie kam erst abends aus der Schule.

Die Alte lächelte.

»Ich brauche deinen Rat, Juanita«, sagte ich.

Sie musterte mich einen Moment. Dann nickte sie und stand auf. Dabei knickte sie wie immer über der linken Hüfte ein. »Komm!«

Auf dem Holzofen stand ein Topf mit Canelazo, einem sirupsüßen Getränk aus Zuckerrohrwasser mit Anisschnaps, Zimt, Nelken und Orangenschalen. Juanita nahm zwei Steingutbecher, schnitt eine Zitrone auf, benetzte die Ränder der Becher mit Zitronensaft, tauchte sie in die Schale mit Rohrzucker und füllte das Getränk hinein. Allein die Zeremonie beruhigte. Der Becher wärmte meine Hände und das Gesöff meine Kehle und meinen Magen.

Viele Stunden hatte ich in diesem Sommer, der keiner war, mit Clara an dem grob zusammengezimmerten Tisch verbracht. Aber jetzt erinnerte ich mich wieder an das erste Mal, als ich auf dem Schemel gesessen und mich kaum getraut hatte, aufzuschauen zu den Regalbrettern voller Kräuter, Dosen, Knochen, Wurzeln, Totems und Decken. Inzwischen war mir Juanitas Welt vertrauter. Ihr brauchte ich nichts vorzumachen. Sie schaute Menschen genau ins Gesicht und schloss aus kleinen Zeichen in der Mimik, Körperhaltung und Stimme auf das, was sie »böse Träume« nannte.

Auch jetzt hatte ich wieder das Gefühl, dass ich ihr eigentlich gar nichts erzählen müsste. Aber ich tat es doch, einfach, weil ich es so gewohnt war, vielleicht auch, weil ich das Schweigen nicht ausgehalten hätte.

»Die Polizei war bei meinen Eltern«, sagte ich. »Sie denkt, ich wüsste den Aufenthaltsort der deutschen Geisel Susanne Schuster. Ich muss heute oder morgen Abend mit meinem Vater hin und zu Protokoll geben, was ich weiß.«

»Und was weißt du?«, erkundigte sich Juanita, ohne sich von meinem gehetzten Ton anstecken zu lassen.

»Ich habe einen Fehler gemacht«, erklärte ich. »Ich habe einen Professor an der Uni gefragt, ob er einen Ort namens Schwarzes Wasser kennt. Und jetzt denkt er, dort werde Susanne Schuster gefangen gehalten.«

»Du glaubst also, dass Susanne Schuster am Schwarzen Wasser gefangen gehalten wird.«

»Clara hat es mal erwähnt. Aber ich weiß, dass die Geisel vermutlich nicht mehr dort ist und ...« Ich stockte.

»Und du glaubst, dass Damián etwas damit zu tun hat«, vollendete Juanita.

Ich nickte. »Er hat es mir selbst gestanden.«

Juanita schaute mich nachdenklich an. »Und warum kommst du zu mir? Möchtest du von mir wissen, ob das, was du glaubst, stimmt? Oder soll ich dir sagen, was du tun musst?«

Ich nickte heftig. Genau das war es, was ich wollte: dass sie mir sagte, was die Wahrheit war und was ich damit anfangen sollte. Die törichte Hoffnung durchflutete mich, dass sie mit ihrem verschmitzten Goldzahnlächeln alles ungeschehen machen könnte: Damián hatte Susanne Schuster nicht entführt, hatte seinem Onkel nie geholfen, und es hing nicht von mir ab, ob sie litt, lebte oder starb.

»Ich kann weder das eine noch das andere tun«, sagte Juanita. »Aber ich kann dir eine Reinigungszeremonie anbieten. Danach wirst du wissen, was richtig ist und was du tun kannst.«

Das war nun gar nicht das, was ich erhofft hatte. Ich spürte leisen Ärger in mir aufsteigen.

»Und Damián soll daran teilnehmen«, fuhr Juanita nachdenklich fort. »Er muss endlich seine Eitelkeit ablegen.«

»Wie?« Ich verstand nichts. »Hier geht es doch nicht um Eitelkeit!«

Die Alte kicherte gemütlich. »Damián ist ein bisschen eitel. Ist dir das noch nicht aufgefallen? Er glaubt, alles hinge von ihm ab. Doch wenn er für alles die Verantwortung übernimmt, kann er nicht mehr handeln, dann zwingen ihn die anderen zu handeln.«

Ich verstand nur Bahnhof. »Was willst du damit sagen, Juanita?«

»Ich will damit sagen, dass es dumm und eitel ist, wenn man für etwas, was ein anderer tut, die Verantwortung übernimmt.«

»Und das bedeutet ...« Ich verschluckte mich halb vor Aufregung. »... dass er die Verantwortung für eine Geiselnahme übernimmt, mit der er nichts zu tun hat?«

Juanita schwieg auf die Art, die ich als Ja zu deuten gelernt hatte.

»Warum tut er das?«

»Jasmin, du hast es immer noch zu eilig.« Sie überlegte kurz, dann holte sie tief Luft und sagte: »Auch ich weiß nichts anderes, als dass Damián seinem Onkel Tano geholfen hat, Susanne zu entführen. Aber ich war nicht dabei.«

»Und warum? Verdammt, warum?«

»Weil er selbst ein Gefangener war.« Juanita blickte mich ernst an. »Er war damals kaum älter als du, Jasmin. Böse Träume beherrschten ihn des Nachts, und am Tag lebte er das harte Leben der Berge. Er ist mit dem Schmerz im Herzen aufgewachsen, dass sein Vater von den Paramilitärs erschossen wurde, als er sein Haus verteidigen wollte, und seine Mutter geschändet und erschlagen wurde vor seinen Augen und denen seiner Schwester. Clara erinnert sich, sie war damals fünf, aber Damián war drei, er hört das Geschrei nur in seinen Träumen. Ich war nicht im Dorf, als es geschah. Als ich einen Tag später aus dem Wald zurückkam, rauchten die Häuser nur noch. Das Gesumm der Fliegen lag in der Luft, Raben stritten sich im Flug, der Kondor kreiste am Himmel. Mit den Kindern bin ich zu meiner Tochter Maria nach Yat Pacyte gegangen. Hätte Damián bei seiner Begegnung mit der Bärin nicht verstanden, wie viel Kraft in der Ruhe liegt, so wäre er wohl völlig unter Tanos Macht geraten. Denn Tano erkannte Damiáns kindlichen Zorn und förderte ihn, er erzog ihn zum Kämpfer. Als er vierzehn Jahre alt war, schien Damiáns Leben entschieden, genau so wie das vieler anderer junger Männer meines Volks. Entweder er würde als Tagelöhner sein Geld verdienen oder auf Kriegs- und Beutezügen.«

»Aber er hat Tano nicht gemocht. Tano hat ihn geschlagen«, warf ich ein. »Deshalb ist er weggelaufen.«

Juanita lächelte fein. »Nein, Tano hat ihn nicht geschlagen und Damián ist nicht weggelaufen. Ich habe ihn zur Bärin geschickt. Damián war damals fünf Jahre alt. Er erinnert sich nur noch an das, was ich ihm später, als er älter war, erzählt habe.«

»Und warum hast du ihm erzählt, dass Tano ihn geschlagen habe?«

»Weil ich nicht wollte, dass Damián seinen Onkel bewundert. Tano ist ein gewalttätiger Mann mit großem Hass im Herzen. Er hasst sein Leben, er träumt vom Reichtum, er glaubt, andere enthielten ihm den Wohlstand vor, der ihm zusteht, und er müsse sich das Seine mit Gewalt holen. Er hat nie verstanden, dass er sich selbst bewegen muss, wenn er ein anderes Leben haben möchte. Er fand, das Glück müsse zu ihm kommen. Daraus entstand der große Konflikt mit Clara, als die Deutsche in unsere Gegend kam und anfing, unsere Kinder zu unterrichten. Susanne kleidete sich wie die Frauen von uns, sie sprach unsere Sprache, sie besuchte uns in unseren Häusern in den Bergen, sie redete auf die Eltern ein, ihre Töchter in richtige Schulen zu schicken. Vor allem Clara hatte es ihr angetan. Sie erklärte uns, Clara sei zu intelligent, um ihr Leben lang Pullover zu stricken. Aber Tano wollte nicht, dass Clara zu den Weißen geht und lebt und denkt wie die Weißen. Dabei denkt er selbst wie ein Weißer. Er glaubt, es müssten die alten Männer sein, die bestimmen, weil sie das Land mit ihrem Blut verteidigen. Doch als vor vierhundert Jahren die ersten Spanier ins Land kamen, geführt von Pedro de Añazco, und als dieser einen Mann aus unserem Volk tötete, der sich nicht vor ihm hatte verbeugen wollen, da war es eine Frau, die ihn rächte. Die Mutter des Mannes wurde zur Kriegerin und führte mit Waffen in der Hand den Widerstand gegen die Spanier an. Man nannte sie La Gaitana. Sie nahm Pedro de Añazco gefangen, stach ihm die Augen aus und tötete ihn.«

Ich nickte. Ich kannte die Geschichte. Aber ich hatte längst gelernt, dass man sich an den Herdfeuern der Indígenas immer wieder dieselben Geschichten erzählte. Es beruhigte, es erklärte einem die eigenen Gefühle, es half, dass man sich nicht alleine fühlte.

»Man sagt, unsere Gesellschaften seien reine Männergesellschaften, die Frauen seien zu einem Leben am Herd verurteilt. Aber das stimmt nicht. Seit einigen Jahren hat jede Ortschaft zehn Wächter, die nur mit dem traditionellen Stab bewaffnet sind und sich über Walkie-Talkie miteinander verständigen können. Viele dieser Wächter sind Frauen. Wenn die Guerilleros einen jungen Mann mitnehmen, dann ziehen sie los und fordern ihn zurück. Wir Nasas haben stets Widerstand geleistet, doch am erfolgreichsten waren wir immer dann, wenn wir dabei nicht die Waffen erhoben haben. Vor hundert Jahren hat Manuel Quintin Lame, ein Knecht der Großgrundbesitzer, den Widerstand angeführt, den wir La Quintinada nennen. Er hat nicht geschossen, die Bauern haben nur massenhaft das Land besetzt. Und so haben wir Nasas unsere alten Ländereien im Cauca wieder unter unsere Kontrolle gebracht. Aber Tano ist ein Verlorener, er glaubt nicht an die Macht der Gewaltlosigkeit. Es ist auch sehr schwierig, daran zu glauben, wenn unsere Bischöfe und Politiker ermordet werden und niemand dafür zur Verantwortung gezogen wird.«

»Und was war nun mit Susanne Schuster?«, fragte ich, obwohl ich wusste, dass ich den Fluss von Juanitas Erzählung nicht stören durfte. Wenn die Alten redeten, hörte man zu. Und jede Geschichte hatte ihre genaue Zeit.

Juanita lächelte. »Du bist wirklich arg ungeduldig.«

»Tut mir leid.«

»Nun ja, als dann die Deutsche zu uns kam und verlangte, dass Tano den Kindern seiner toten Schwägerin eine gute Schulbildung erlaubte, da schickte er nicht Clara nach Popayán auf die höhere Schule, sondern Damián. Denn Damián war in Yat Pacyte nicht viel nütze. Clara dagegen strickte die kunstvollsten Pullover. Das war ihr Pech. Und es war Damiáns Glück, denn in Popayán kam er mit den Leuten des CRIC in Kontakt und lernte, dass wir noch eine ganz andere Tradition haben als Tanos Krieg, nämlich den Frieden. Er spürte, dass sich sein Innerstes für den Frieden mehr erhitzte als für den Krieg, er glaubte, dass seine Kraft größer und mächtiger wäre, wenn er sie für den Frieden einsetzte. Er sprach mit mir darüber. Ich hatte lange auf diesen Moment gewartet und schon befürchtet, er werde nie kommen. Ich erzählte ihm von seiner Begegnung mit der Bärin und ihren Jungtieren und er erinnerte sich wieder daran. Ich erklärte ihm, dass in unseren Legenden die Bärenmenschen Friedensstifter sind, denn der Bär besitzt in seinen Kiefern und Krallen eine tödliche Kraft. Er kann Äste durchbeißen, die dicker sind als dein Arm, er kann das Rückgrat eines Tapirs brechen. Dennoch greift er niemals an. So sehr liebt er das friedliche Leben, dass er beschlossen hat, nur vom Honig in den Ananasblüten, von Wurzeln und Beeren zu leben und von dem Getier, das bereits tot ist. Nur in der Not tötet er selbst.«

Juanita nahm einen Schluck Canelazo und hustete ausführlich.

»Ich bot Damián die große Reinigung an«, fuhr sie fort, »aber er zögerte. Er konnte nicht ganz lassen vom Glauben an die Macht der Waffen. Es ist nicht so einfach, Jasmin! Im Rückblick erscheint ein Weg oft klar, aber wenn man ihn geht, sieht man ihn nicht. So erging es Damián. Er ist mit der Gewalt aufgewachsen, mit dem Tod, der Trauer. Er wusste von der Kraft des gewaltfreien Widerstands in der Tradition der Nasas, aber er glaubte nicht wirklich daran. Es hat so viel blutigen Krieg gegeben in diesem Land. Wir wurden christianisiert, zerstreut und getötet. Über viele Jahrhunderte hinweg hatten wir Nasas unseren traditionellen Stab abgelegt und sind Cowboys, Guaqueros, Kokabauern und Tagelöhner geworden. Damián hat mir erst kürzlich erklärt, dass viele Männer von uns ihre Vorstellung von dem, was ein Indio ist, aus amerikanischen Western haben. Das Bild, das wir von uns selbst haben, ist nicht mehr unser eigenes, sondern das, was die Weißen von uns gezeichnet haben. Und die einfachste Lösung, auf die ein Mann verfällt, der sich ungerecht behandelt und benachteiligt fühlt, ist der Kampf. Der Kampf ist immer männlich. Und im Kampf zu sterben, ist nie verkehrt, vor allem dann nicht, wenn es für eine Sache ist, die man für eine gute Sache hält.«

Juanita sah die Dinge ganz klar, schien mir.

»Wir wissen nicht mehr, wer wir sind und wo unsere Stärken liegen. Damián wusste es damals nicht. Er wusste, er wollte Frieden stiften, er versuchte es, aber es gelang ihm oft nicht. Deshalb zweifelte er an sich. Wenn er in den Ferien nach Hause kam und wieder unter Tanos Einfluss stand, erwachte auch sein Hass wieder. Er zog mit Tano und seinen Leuten herum. Und dann, er war gerade sechzehn geworden, kam die Deutsche zu uns nach Yat Pacyte herauf und erklärte uns, dass sie Clara mit nach Deutschland nehmen wolle. Sie fand, Clara dürfe ihr Talent nicht verschenken. Sie müsse studieren. Sie sagte, uns würden daraus keine Kosten entstehen. Den Flug werde sie bezahlen, Clara werde auch bei ihr wohnen. Sie werde mit den deutschen Behörden alles klären.«

»Das ist doch wie das große Los im Lotto«, bemerkte ich. »So eine Chance kommt nur einmal.«

Juanita musterte mich nachdenklich. »Wie würdest du dich fühlen, wenn jemand zu deinen Eltern kommt und sagt: Ich nehme Ihre Tochter mit. Sie hat Besseres verdient. Sie wird in großem Reichtum leben?«

Ich stutzte.

»Wovon träumst du, Jasmin?«

»Äh!« Ich wusste so schnell keine Antwort. Wovon hatte ich immer geträumt? Dass ich eine berühmte und gefeierte Schauspielerin wäre, dass mich ein Millionär mit Gestüt heiratete ... Das kam mir plötzlich alles kindisch und banal vor.

»... würdest du, wenn dir jemand Glück verspricht, Ja sagen und deine Familie verlassen, ohne nachzudenken?«

»Vermutlich nicht«, antwortete ich. »Aber das ist doch auch nicht vergleichbar. Ich habe im Prinzip alle Chancen.«

»Glaubst du, wir würden unsere Heimat nicht lieben? Die Berge, in denen wir geboren wurden, die Menschen, mit denen wir aufwuchsen. Glaubst du, wir würden nicht zuallererst unser Glück hier suchen?«

»Doch, das glaube ich schon, aber ...«

»Du hast auf alles ein Aber, Jasmin«, bemerkte Juanita ein bisschen spöttisch.

»Aber ...« Ich musste lachen. »Aber vermutlich wäre Clara nicht für alle Zeit fort gewesen, sondern nur für ein paar Jahre. Ihr hättet zumindest darüber nachdenken müssen.«

»Das haben wir und Clara hat sich dagegen entschieden.«

»Aber doch nur, weil Tano Nein gesagt hat!«

»Vielleicht sagte Tano nur Nein, weil er spürte, dass Claras Angst zu groß war. Die Deutsche hat das nicht verstanden. Sie sagte harte Worte. Tano hat sie aufgefordert zu verschwinden. Am Tag darauf wurde Clara zum ersten Mal krank.«

»Dann ist es ja klar!«, ereiferte ich mich. »Claras Krankheit hat damit zu tun, dass sie nicht das Leben führen darf, das sie sich wünscht.«

Juanita schüttelte den Kopf. »Nein. Sie ist krank geworden, weil sie nicht Abschied nehmen konnte, weder von uns und den Bergen noch von ihren Träumen. Vor ihr lagen zwei Wege, die in zwei verschiedene Himmelsrichtungen führten. Tagsüber fütterte sie das Vieh und strickte Pullover, nachts träumte sie von Büchern und den fremden Wesen des tiefen dunklen Meeres. Eine Reinigungszeremonie reinigt nur von bösen Träumen und Claras Träume waren keine bösen Träume. Auch ich habe es erst so gesehen wie du. Ich habe Tano erklärt, dass Clara nur gesund wird, wenn er sie mit der Deutschen ziehen lässt. Und wenn sie tot ist, nütze sie ihm auch nicht mehr als Strickerin. Doch wenn er sie ziehen lässt, kommt sie vielleicht zurück und bringt viele Geschenke und Reichtum. Tano sah es ein und sagte schließlich Ja.«

»Ach!«

»Es gelang Damián, die Deutsche in Popayán zu finden, eine Woche bevor sie nach Deutschland fliegen wollte. Doch zwei Tage bevor der Flug ging, bekam Clara schweres Fieber, Krämpfe, Atemnot und Schmerzen in Händen und Beinen. Wir mussten befürchten, dass sie die Reise nicht überleben würde. Ihr Geist wollte die Berge verlassen, ihr Körper nicht. Sie war innerlich zerrissen.«

»Und jetzt?«, erkundigte ich mich. »Als wir sie zu dir nach Bogotá brachten, hast du gesagt, sie sei gesund. Was hat sich geändert?«

Juanita lächelte. »Sie hat ihren Weg gefunden. Sie hat die Berge verlassen, aber nicht das Land, das ihre Heimat ist.«

»Sie hätte auch eine höhere Schule besuchen müssen.«

Juanita nickte. »Doch als die Deutsche die Gegend verließ, war Clara schon achtzehn Jahre alt. Da wird man bei der staatlichen Schule nicht mehr genommen. Außerdem war sie krank. Sie dachte nur an die Deutsche und an den Weg, den sie ihr gezeigt hatte. Sie war blind für jeden anderen Weg. Und eines Tages erzählte man sich, die Deutsche sei zurückgekommen. Sie habe sich ein Haus in San Andrés de Pisimbalá gekauft. Tano fluchte.«

»War sie denn wegen Clara zurückgekommen?«, fragte ich.

Juanita nickte. »Die Deutsche hatte sich in eine Idee verliebt. Sie war besessen von dem Gedanken, Clara zu retten und ihr zu einer besseren Zukunft verhelfen zu müssen. Es hätte auch ein anderes Indiomädchen sein können, aber nun war es eben Clara.«

Bei uns nannte man es das »Helfersyndrom«. Simon hatte es mir erklärt. Seiner Überzeugung nach hatten es Entwicklungshelfer. Sie berauschten sich an der Idee, Menschenleben zu retten und Zukunft zu schaffen. Dafür nahmen sie dann alle Entbehrungen in Kauf. Bei meinem Vater hatte Simon es auch diagnostiziert. Bei meiner Mutter dagegen nicht. Deshalb vertrug sie das Klima von Bogotá wohl immer noch nicht.

»Und so hat Tano einfach beschlossen«, fragte ich, »die Deutsche zu entführen?«

»Eigentlich wollte er sie töten.«

»Reizend! Und wieso hat er dann ...?«

»Damián hat vorgeschlagen, sie zu entführen.«

»Damit hat er Susanne das Leben gerettet!«

Juanita nickte. »Deshalb meinte er wohl, er hätte keine andere Wahl, als Tano bei ihrer Entführung zu helfen.«

»Hatte er denn eine?«

»Man hat immer eine andere Wahl«, antwortete Juanita. »Man muss nur die Seele reinigen von aller Angst, allem Hass und aller Feindseligkeit.«

»Er hätte Susanne warnen können!«, fiel mir ein.

»Das hat er versucht. Er hat sie besucht und ihr gesagt, sie müsse verschwinden. Es gebe Leute, die sie entführen wollten. Sie verlangte von ihm, dass er ihr Namen nenne oder zur Polizei gehe. Das konnte Damián nicht. Er hatte gerade sein Stipendium für das Colegio Bogotano zugesprochen bekommen. Die Schule hätte ihn nicht genommen, wenn sein Name oder der seines Onkels im Zusammenhang mit Entführungsplänen genannt worden wäre. Unsere Ortschaften waren – und sind immer noch – von Paramilitärs besetzt. Vermutlich fühlte die Deutsche sich sicher. Aber Tano und seine Leute brauchten bloß nach San Andrés de Pisimbalá zu ziehen und die Paras in ein Scharmützel zu verwickeln und so abzulenken. Ich sah Damiáns Unglück und warnte Tano. Ich sagte ihm, ich würde Yat Pacyte verlassen, wenn der Deutschen etwas geschähe. Aber Tano war so gefangen in seinem Hass und seiner Gier auf Lösegeld, dass er glaubte, er brauchte mich nicht mehr in seinem Haus. Und so geschah es, dass er mit seinen Leuten nach San Andrés de Pisimbalá zog. Damián eilte zu der Deutschen und erzählte ihr, die Schießerei gelte ihr. Diesmal ging sie mit ihm. Tano passte sie in den Bergen ab und nahm die Deutsche mit sich.«

»Aber dann hat Damián doch versucht, sie zu retten!«

»Aber es war so halbherzig durchgeführt«, sagte Juanita, »dass Tano Erfolg hatte. Ich glaube, Damián weiß bis heute nicht, was er damals wirklich gewollt hat. Ich habe Yat Pacyte noch am selben Tag verlassen.«

Juanitas Erzählung fachte meine Hoffnungen wieder an, dass Damián weniger schuldig war, als er behauptete. Und wenn das so war, musste Susanne Schusters Entführung nicht zwischen uns stehen. Vor allem dann nicht, wenn es uns gelang, sie zu beenden.

»So eine Reinigungszeremonie ...«, fragte ich vorsichtig. »Was bewirkt die?«

»Sie reinigt den Geist von allem, was bei einer Entscheidung hinderlich ist, zum Beispiel Angst, Zorn oder Hass.«

»Und was ... was müsste ich da tun?«

»Du musst nichts tun. Du musst nur etwas zulassen.«

»Muss ich Drogen nehmen?«

Sie lachte. »Nein. Es ist keine schwarze Magie, nur graue.«

»Und ... wann? Ich meine ... ich muss noch zur Polizei. Aber vermutlich kann ich das auch morgen machen.«

»Also heute Abend.«

»Und Damián? Du hast doch gesagt, er solle dabei sein?«

»Ich werde ihn fragen.«

»Und wie?« Ich stellte mir eine telepathische Anfrage vor.

»Clara wird ihm eine E-Mail schicken, heute Abend, wenn sie nach Hause kommt. Sie sagt, er sei jeden Tag am Computer in der Bibliothek in der Universität. «

»Also gut, ich ... werde kommen.«

Ich würde Damián wiedersehen! Das war die Hauptsache. Und schaden konnte es vermutlich nicht, sagte ich mir.

Dennoch machte ich mich besorgt auf den Heimweg. Wie sollte ich das meinen Eltern verklickern? Sie würden mich sicher nicht zu einer indianischen Zeremonie fortlassen. Schon gar nicht nach Einbruch der Dunkelheit. Und Elena fiel als Alibi aus, nachdem ich sie so beleidigt hatte.

Und wenn Damián heute Abend außerdem gar nicht kam, weil er Claras E-Mail erst morgen las? Wenn ich ganz umsonst bei meinen Eltern den Aufstand probte?

Wieder fühlte ich mich furchtbar allein. Und ich vermisste Damián. Es war kaum zum Aushalten. Ich sehnte mich nach seinen warmen Fingern, die sich zwischen meine flochten, meine Haut gierte nach seiner Berührung. In jeder freien Minute hatte ich gestern und heute jede Sekunde unseres nächtlichen Gesprächs im El Refugio in meine Erinnerung gerufen. Immer wieder hatte ich seine männliche Begierde gespürt, die Sehnsucht seines Körpers, mich zu besitzen, die mich im ersten Moment erschreckt hatte und jetzt mit wohliger Erregung erfüllte. So fühlte es sich an, wenn ein Mann eine Frau begehrte. Es war überwältigend. Warum nur war ich zurückgezuckt, statt ihm deutlich zu machen, dass ich es auch wollte? Wieso hatten wir es nicht getan in dieser Nacht? In der ersten und vielleicht einzigen Nacht, die uns gehört hatte.

Mir klopfte nachträglich das Herz, heftig und schmerzhaft. Alles in mir wusste, Damián war der Mann, dem ich mein Leben anvertrauen wollte und konnte, nur mein Kopf schien es noch nicht so genau zu wissen. In meinem Kopf saßen meine Eltern und ihre Bedenken. Ich war zu ängstlich gewesen! Er hatte es gespürt und nur meine Hand gehalten und seine Geschichte erzählt. Eine Geschichte, mit der er die Bedenken meiner Eltern unterstützt hatte. Ich bin nichts für dich. Mein Leben ist zu hart. Es ist vom Tod begleitet. Du kannst nicht gutheißen, was ich tun muss. Die kulturellen Unterschiede sind zu groß. Es geht nicht.

»›Geht nicht‹ gibt’s nicht«, pflegte meine Tante Valentina zu sagen.

»Deine Sprüche immer!«, seufzte meine Mutter dann gern.

Valentina war das Gegenteil von ihrer Schwester, meiner Mutter. Sie war groß und dick und lachte gern. Sie leitete ein Unternehmen, dessen genaue Tätigkeit mir nie klar geworden war. Sie und ihre Leute berieten Firmen bei Auslandsinvestitionen.

Seit ich denken konnte, schwiegen meine Eltern, wenn sie gerade über Valentina gesprochen hatten und ich ins Zimmer trat. Die männlichen Namen, die in Zusammenhang mit ihr genannt wurden, waren immer wieder andere. Ich erinnerte mich, dass ich sie als Kind einmal gefragt hatte, warum sie keinen Mann habe. »Weil mir einer zu wenig ist«, hatte sie darauf geantwortet. Das hatte ich damals nicht verstanden. Als ich älter war, erklärte mir Mama, dass meine Tante beziehungsunfähig sei. Sie liebe niemanden außer sich selbst.

Wie kann man sich selbst lieben?, hatte ich mich gefragt. Im Grunde fragte ich es mich bis heute. Und jetzt noch mehr. Denn die Liebe war ein Gefühl, das man für einen anderen empfand. So wie ich für Damián. Mit mir konnte ich immer leben, von mir musste ich mich nicht trennen. Die Liebe aber war etwas anderes. Die Liebe war der Schmerz, zu wissen, dass mein Herz brach, wenn ich nicht mit Damián zusammen sein konnte.

Nicht mit ihm leben können war wie eine rasende Fahrt in einen finsteren Tunnel, der nicht mehr enden würde.

Der Ruf des Kolibris
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