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Ich schlief die ganze Nacht nicht. Ich hörte den Regen rauschen, hörte das Geschrei der Nachtvögel, den fernen Autoverkehr. Ich wusste nicht, wie ich ins Bett gekommen war. Irgendwie musste ich mich ausgezogen haben. Mein Körper tat es automatisch, mein Kopf war gestopft voll mit Eindrücken, die so gewaltig waren, dass sie sich gegenseitig blockierten und behinderten.

Ich heulte sogar, vor Glück, glaube ich. Ich war verliebt. Es war erschreckend großartig. Es war eine so ungeheuerliche Gewissheit, dass sie alles überdeckte, was ich bis dahin an Gefühlen kannte und erlebt hatte. Simon? Ich erinnerte mich kaum an ihn, den netten Jungen mit den Rastalocken, der mir zum Abschied die Uhr seines Vaters gegeben hatte, damit ich mich nicht verliebte und zurückkehrte.

In der Tat, sie hatte mir Glück gebracht. Allerdings Simon nicht. Sie hatte genau das bewirkt, was er hatte verhindern wollen. Wenn sie nicht von dem Seidenäffchen geklaut worden wäre, hätte ich Damián nicht kennengelernt, wir hätten nie miteinander gesprochen.

Mit jeder Faser!, dachte ich. Das gab es wirklich. Jede Faser in mir, von den Haarwurzeln bis zu den Zehenspitzen begehrte ihn, wollte ihm nah sein, seinen Körper fühlen, die harten Muskeln, den tiefen Atem, die bronzefarbene Haut, glatt, weich und kühl wie das Blütenblatt einer Rose, wollte für immer gefangen sein in seiner Umarmung.

Aber empfand der stolze und kluge Indio, der sich im Smoking so schwindelerregend gut bewegte wie in schlabbrigen Gärtnerhosen, dasselbe für mich? Ich war nicht besonders hübsch. Und ich hatte keine Ahnung von dem Leben in Kolumbien. Würden seine Eltern mich akzeptieren?

 

»Die erste Liebe ist nur eine Übung«, erklärte mir Papa nach dem Sonntagsfrühstück. »Du weißt nicht, wie dir geschieht. Die Hormone spielen plötzlich verrückt. Und weil es das erste Mal ist, dass es dir passiert, erscheint es dir einmalig und außerordentlich. Aber es ist nur ein ganz natürlicher Vorgang, Jasmin, glaub mir. Du wirst dich noch oft verlieben. Das ist eine reine Sache der Neuronen und Hormone. Die Liebe ist etwas ganz anderes. Sie gründet sich auf gemeinsame Werte, ähnliche Interessen ...«

»Ich bin nicht verrückt«, antwortete ich. »Und blöd bin ich auch nicht.«

Meine Eltern saßen am Tisch, aufrecht und konzentriert, als müssten sie über mich Gericht halten. Meine Mutter sah kopfweherisch aus. Am liebsten hätte ich gelacht, weil sie derart ernst wirkten, so als gälte es den Weltuntergang zu verhindern.

»Das sage ich doch auch nicht, Jasminchen«, fuhr mein Vater milde fort. »Niemand sagt, dass du verrückt bist. Ich verstehe dich nur zu gut. Du hast dich in einen attraktiven jungen Mann verguckt. Die erste Liebe ist immer gewaltig und überraschend. Da glaubt man, es gäbe keinen anderen Menschen in der Welt und man würde niemals ohne ihn leben können. Aber du kannst deinem alten Vater ruhig glauben. Das geht vorbei. Und in ein paar Jahren lächelst du darüber.«

»Bestimmt nicht«, antwortete ich. Dabei hatte ich mir vorgenommen, nichts zu sagen. »Und ich habe mich auch nicht verguckt, wie du das nennst.«

»Wie stellst du dir das denn vor?«, griff Mama ein, leicht hysterisch angeschrillt. »Willst du mit ihm im Dschungel leben und fünf Kinder zur Welt bringen? Ist es das, was du willst? Du kannst ja nicht mal kochen!«

»Damián ist keineswegs so primitiv, wie du denkst!«, keifte es aus mir heraus. »Er studiert Ökonomie. Er will in den Indianergebieten des Cauca eine Universität gründen! Deshalb macht er ein Praktikum im Colegio Bogotano. Und dass er gesellschaftlich mit uns gleichgestellt ist, siehst du schon daran, dass er zum Diplomatenball eingeladen wurde. Da werden nämlich nur handverlesene Leute reingelassen.«

Mein Vater runzelte die Stirn.

Meine Mutter sagte es deutlicher: »Das wird noch zu klären sein!«

»Da ist nichts zu klären!«, rief ich.

Dabei hätte ich eigentlich aufhorchen und nachfragen müssen. Wäre ich nur nicht so aufgebracht gewesen und hätte ich mich weniger über meine Eltern geärgert, meinen Vater, der wieder mal neurologisierte – wie ich seine medizinischen Erklärungen meiner Gefühle nannte –, und meine Mutter, die wieder mal allerlei gegen jemanden einzuwenden hatte, den sie gar nicht kannte, nur weil er anders lebte als wir.

»Ihr habt doch nur Angst«, keifte ich, »dass ich meinen eigenen Weg gehe und ihr nicht mehr bestimmen könnt, was ich tue!«

»Ja«, antwortete Mama streng. »Davor habe ich allerdings Angst, meine Liebe. Denn ich bezweifle, dass dir klar ist, was das bedeutet, wenn du dich an diesen Damián bindest. Weißt du denn, wie er lebt, kennst du seine Familie? Weißt du, ob diese Familie überhaupt eine Weiße akzeptieren würde? Und lass dir gesagt sein, unter den Eingeborenen haben Frauen nicht viel zu melden. Da wirst du dich als Europäerin noch ganz schön umgucken.«

»Damián ist anders!« Mir war selbst klar, dass ich das überhaupt nicht wissen konnte. Aber Wut und Trotz trugen mich fort. »Und ihr habt nur Vorurteile. Ihr seid gar nicht so liberal, wie ihr immer tut. Armen Eingeborenen helfen, das ja, aber wehe, einer kommt und will gleichwertig behandelt werden.«

»Schluss jetzt! Das muss ich mir nicht anhören!« Wenn die Stimme meiner Mutter kippte, wurde es ernst.

Mein Vater versuchte zu vermitteln. »Schau mal, Jasmin«, sagte er. »Damián scheint ein durchaus vernünftiger, ernsthafter und gewissenhafter junger Mann zu sein. Ich habe mich ja länger mit ihm unterhalten. Und ich kann mir durchaus vorstellen, dass er erreicht, was er anstrebt. Er wirkt sehr entschlossen. Aber wir als deine Eltern stellen uns durchaus die Frage und müssen sie uns stellen, ob er der geeignete Mann für dich ist. Man kann die kulturellen Unterschiede nicht einfach beiseitewischen. Du bist ein sorgenfreies Leben gewöhnt ...«

Hatte er eine Ahnung. Sorgenfrei! Ja, materiell. Aber dass ich unglücklich gewesen war, das hatte er nie bemerkt. Ja sicher, ich hatte alles, ich würde mit achtzehn den Führerschein haben, meine Eltern würden die Studiengebühren bezahlen können. Aber sorgenfrei? Doch das würden meine Eltern nie verstehen. Es hatte keinen Sinn, ihnen es zu erklären.

»Du weißt nicht, was materielle Not ist«, fuhr mein Vater fort. »Du bist eine lückenlose medizinische Versorgung gewöhnt ...«

»Und ich darf dich daran erinnern«, unterbrach ihn Mama, »dass du dich mit Händen und Füßen dagegen gesträubt hast, für ein Jahr in Kolumbien zu leben. Du hast uns als wahnsinnig bezeichnet und die Gefahren aufgezählt. Und jetzt auf einmal soll das alles ganz anders sein, nur weil ein Junge dir den Kopf verdreht hat.«

»Er hat mir nicht den Kopf verdreht! Ich liebe ihn. Damit werdet ihr euch abfinden müssen.«

»Solange du bei uns lebst, Jasmin, und das wirst du, bis du achtzehn bist, finden wir uns mit gar nichts ab. Wir haben nicht nur die Pflicht, Schaden von dir abzuwenden, wir wollen es auch, weil wir dich lieb haben. Wir möchten, dass du glücklich wirst.«

»Aber ihr zerstört mein Leben!«, schrie ich. »Ihr seid schuld, wenn ich unglücklich werde! Ich hasse euch!«

Meine Eltern blickten mich so entgeistert und betroffen an, dass ich nicht anders konnte, als aufzuspringen und in mein Zimmer zu laufen. Ich warf mich aufs Bett und heulte.

Das hatte ich doch alles überhaupt nicht sagen wollen. Aber warum mussten sie auch so ein Drama daraus machen? Es war doch noch gar nichts entschieden. Damián hatte mir gestern Abend deutlich zu verstehen gegeben, dass er einer Beziehung keine Zukunft gab. Dass er sie nicht wollte. Aus welchen Gründen auch immer. Vielleicht liebte er mich nicht. Das war die nackte, trostlose Wahrheit. Mit diesem Gedanken war ich am Morgen aufgewacht. Ich fühlte mich wie gerädert, ich war benommen, ich stand neben mir. Die Hochgefühle der Nacht waren verloschen, ätzende Asche lag in meinem Herzen.

Ich war zum Frühstück geschlichen mit Wasser Oberkante Unterlider. Am liebsten hätte ich mich bei Papa ausgeheult und ihm all die Fragen gestellt, die in meinem Gemüt herumätzten: Warum ist er so? Warum küsst er mich und sagt mir dann, dass es nichts werden kann? Warum hat er keinen Mut? Warum gibt es auf der Welt solche krassen Unterschiede? Warum lebe ich in Wohlstand und er und seine Leute haben nichts, kämpfen um Schulen, sterben in den Minen, streiten sich auf der Straße mit den Hunden ums Essen? Warum musste ich mich ausgerechnet in einen Mann verlieben, der meine Welt nie verstehen wird und den ich nie verstehen werde?

Das war das, was ich eigentlich mit meinen Eltern gern besprochen hätte. Stattdessen hatten sie Kanonen aufgefahren, um mein unglückliches, unsicheres und verzweifeltes kleines Herz in Stücke zu schießen.

Sie hatten Angst, das verstand ich. Sie hatten Angst, dass ich so wahnsinnig und blind vor Liebe sein würde, mich an einen Indio zu hängen, der wer weiß was für krumme Sachen machte. Ich kannte ihn ja nicht, und was ich von ihm gesehen hatte, warf durchaus Fragen auf. Wer war er tatsächlich? Ging es ihm wirklich um eine Universität für sein Volk oder gehörte er der FARC an, den revolutionären Streitkräften, die mit Drogen handelten, um ihren Kampf gegen die Regierung zu finanzieren, die Leute entführten und Dörfer niederbrannten? Ich hatte ja auch Angst. Ich wusste doch auch gar nichts.

Gegen Mittag wurde mein Vater zu einer Notoperation in die Klinik gerufen, meine Mutter pflegte ihre Migräne, und ich lag auf dem Bett oder saß auf dem Balkon – Damián war nicht erschienen, es war kein Gärtner da, der die Pflanzen schnitt – und versuchte nachzudenken. Aber ich war zu aufgebracht, zu traurig, zu aufgeregt, um einen klaren Gedanken zu fassen. Ich hätte gerne an Vanessa geschrieben, aber was sollte ich ihr schreiben?

Ich war allein, unendlich allein. Und ich hatte meine Eltern fürchterlich gekränkt.

Am Abend kam mein Vater zu mir ins Zimmer. Ich sagte ihm, dass es mir leid tue und dass ich nicht so gemeint hätte, was ich gesagt hatte, und er sagte, er verstehe das, aber bei Mama müsste ich mich schon entschuldigen. Sie wolle doch nur mein Bestes. Und jetzt solle ich zum Abendessen kommen.

Weder Mama noch ich bekamen einen Bissen herunter, obwohl ich gleich um Entschuldigung gebeten hatte. Sie sah aus, als hätte sie eben erfahren, dass ich todkrank wäre und binnen weniger Monate an Krebs oder etwas anderem Schrecklichen sterben würde, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte. Es war eine komisch gedrückte Atmosphäre. Papa und Mama gaben sich Mühe, ruhig mit mir zu reden. Sie fragten nach Damián und wer er sei und was ich von ihm wisse. Und das war, wie schon gesagt, nicht viel.

Ich gab mir auch Mühe, ruhig zu bleiben und vernünftig und einsichtig zu erscheinen. Ich wisse ja auch noch nicht, sagte ich, ob aus Damián und mir etwas werden könne, es sei alles noch ganz ungewiss, und vielleicht würden wir ja schnell merken, dass wir nicht zusammenpassten, aber wir müssten wenigstens die Chance bekommen, es herauszufinden. Und man dürfe ihn nicht einfach vorverurteilen.

Der Horrorsonntag endete damit, dass meine Mutter mir das Versprechen abnahm, dass ich mich nicht ohne ihr Wissen mit ihm treffen würde.

Vielleicht zögerte ich eine halbe Sekunde zu lang.

»Und sollte ich merken«, sagte sie, »dass du dich nicht daran hältst, dann ist Schluss mit Reiten bei Elena und irgendwelchen Unternehmungen nach der Schule. Dann wirst du deinen Vater oder mich immer um Erlaubnis fragen, und zwar bevor du etwas unternimmst. Haben wir uns verstanden? Ich will immer wissen, wo du bist.«

Ich nickte und plante Schleichwege. Elena würde mir helfen, dachte ich.

Der Ruf des Kolibris
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