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– 20 –

 

Die Luft war klar und kalt. Es tat gut, die steifen Muskeln zu bewegen. Ich schritt zügig aus. Der Boden war weich. Unter meinen Füßen knackten Kraut und Gräser, die den freien Flächen hier einen gelblichen Grünton gaben. Wenn man genau hinsah, entdeckte man winzige Blüten, seltsame Dolden und ledrige Blätter. Tautropfen glitzerten überall. Die Sonne ging in meinem Rücken auf und warf einen blauen Schatten vor mich. Es schien, als verdunste der Tau als bläulicher Nebel dicht über dem Boden. Der zarte Zauber des Morgens täuschte darüber hinweg, dass wir uns in einer der ursprünglichsten und wildesten Gegenden der Welt befanden.

Die Nacht hatte meine Gedanken geklärt. Gestern noch hatte ich auf jede kleinste Gefühlsregung von Damián mit dramatischen Gefühlswallungen meinerseits reagiert. Und er wiederum hatte sich von jedem Signal meiner Unsicherheit zurückweisen, zurückstoßen und vertreiben lassen. So einen grauenvoll dramatischen Tag wollte ich nie wieder erleben. Heute konnte ich schon fast darüber lächeln. Mein Standpunkt war auf einmal glasklar. Es war, als hätte sich mein innerer Kompass plötzlich genordet. Meine Unsicherheiten und Zweifel waren verflogen. Ich liebte Damián. Diesen und keinen anderen, auf Gedeih und Verderb, für immer und ewig. Und wenn er mich nicht liebte oder wenn ich nicht in sein Leben passte, dann musste er mir das jetzt sagen und erklären und begründen.

Und dann würde ich ihm sagen, dass ich ... Na ja. Wie sagte man einem Mann, dass man mit ihm schlafen wollte, ohne dass es peinlich wurde? Ich hatte keine Ahnung, aber ich hoffte, dass mir die richtigen Worte einfallen würden, oder die richtigen Signale und Gesten. Etwas mutiger, als ich mich fühlte, aber innerlich wie äußerlich entschlossen, stapfte ich den Weidenhang hinauf.

Die Hütte war bereits überraschend klein geworden, da unten am Wald neben dem Maisfeld. Wie eine Fahne wehte der Rauch des Feuers über dem Wellblechdach. Die Lamas waren stehen geblieben und guckten mich an. Auch eines unserer Pferde, die noch ein ganzes Stück entfernt waren, hatte den Kopf gehoben und die Ohren aufgestellt.

Das wiederum musste Damián bemerken und richtig deuten. Er blieb stehen und drehte sich um. Die Sonne fiel ihm ins Gesicht, der Bronzeton seiner Haut nahm eine fast kupferne Färbung an. Sein Haar glänzte wie polierter schwarzer Marmor. Er hatte außer dem T-Shirt noch eine alte Hose an, die ihm kaum über die Knie fiel. Und er war barfuß.

Er kam mir nicht entgegen, ein abwartendes Lächeln lag auf seinen Lippen.

»Hei«, sagte ich, als ich die letzten Meter überwunden hatte. Ich war natürlich wieder mal außer Atem, denn auch hier war die Luft ziemlich dünn.

Damián antwortete nicht. Noch schöner als das leise Lächeln auf seinen Lippen war das Leuchten in seinen Augen. Sie wirkten weich wie schwarzer Samt zwischen den dichten Wimpern. Sein Blick schien mich zu streicheln, und ich dachte, ich müsste gleich ohnmächtig werden. Eine herrliche Ruhe lag auf seinem Gesicht, das eben noch, als er vom Feuer aufstand, traurig und bitter gewesen war.

»Es tut mir leid«, sagte ich. Im Spanischen sagt man dafür »lo siento«, »ich fühle es«, und das kam dem, was ich ausdrücken wollte, sehr nahe. Ich fühlte mit ihm.

»Was tut dir leid?«, fragte er zurück. Und auf Spanisch lautet das, wörtlich übersetzt: »Was ist es, was du fühlst?«

»Allerlei«, antwortete ich. »Es tut mir leid, dass ich gestern plötzlich Angst hatte ...«

»Aus gutem Grund«, antwortete er rasch, ehe ich fortfahren konnte, ihm zu erklären, dass mir auch das mit seiner Schwester leidtat.

»Wie meinst du das?«, fragte ich überrascht.

Seine Lippen waren halb geöffnet, und im direkten Licht der Sonne sah ich, dass ihm eine harte Antwort auf der Zunge schwebte, aber im nächsten Augenblick wurden seine Züge wieder weich und glatt. Statt mir die Antwort zu geben, die ihm im Sinn schwebte, hob er die Hand und strich mir sachte über die Wange. Ehe ich auch nur wusste, wie mir geschah, hatte er mich gepackt. Er zog mich an sich und küsste mich, liebevoll und verzweifelt.

Für immer!, dachte ich. Für immer und ewig und auf Gedeih und Verderb. Jetzt war es unumkehrbar. Aber er löste sich von mir und schob mich weg.

»Du bist so schön!«, sagte er gepresst. »Du hast Augen wie die Seen im Gebirge, in die nie ein Mensch seine Hand getaucht hat. Dein Haar ist wie Gold. Ich habe nie ein Mädchen gesehen, das so schön ist wie du, so klar, so geheimnisvoll und so ... so unschuldig und ... rein ...«

»Und ich ...«

Er unterbrach mich mit einer kleinen Geste seiner Hand. »Ich weiß, Jasmin. Ich weiß! Du hast ein großzügiges und ehrliches Herz, fast zu großzügig und zu ... zu unerfahren. Ich möchte dir nicht wehtun. Aber ich würde es tun müssen.«

»Warum denn? Ich weiß sehr wohl, dass wir in sehr gegensätzlichen Welten leben. Das weiß ich doch. Es wird nicht leicht. Aber ich will ...«

»Scht, Jasmin! Bitte!« So viel Liebe und Hingabe sah ich in seinem Gesicht, eine so übersprudelnde Zärtlichkeit und zugleich eine wilde Entschlossenheit, dass mir die Knie weich wurden. Ich würde gleich ohnmächtig vor ihm hinsinken.

»Bitte«, fuhr er leise fort. »Es geht nicht. Glaub mir. Drei Jahre lang habe ich auf dem Colegio Bogotano mit euch gelebt, mit euch Weißen. Sie haben mich mit Achtung behandelt, das wohl. Sie würden nie einen Indio spüren lassen, dass sie seine Leute in den Bergen eigentlich für primitiv halten, dass sie nicht verstehen, wie wir so leben können.«

Er schwenkte mit der Hand über die Weide und die ferne Hütte hin, die hier in dieser Gegend einen großen Reichtum darstellte.

»Sie verstehen nicht, dass wir nicht versuchen, mehr aus uns zu machen, dass wir nicht in die Schulen streben, Arbeit suchen, dass wir nicht kämpfen für unser Fortkommen. Wenn es ein Sonderling wie ich so weit bringt, dass er an einer Privatschule einen Abschluss macht und studiert, dann sind sie sehr bemüht, einem weiterzuhelfen. Es sind gute Leute. Sie tun ihr Bestes. Aber ich gehöre nicht zu euch. Und ich will es auch gar nicht. Ihr Weißen seid nicht meine Freunde, Jasmin.«

Ich schluckte.

»Verstehst du?« Seine Stimme wurde eindringlicher. »Ich habe gesehen, wie sich Weiße und Indios ineinander verliebt haben. Wenn ein weißes Mädchen einen Indio liebt, dann wird es irgendwann von den eigenen Leuten verachtet. Was kann sie schon an so einem finden? Ist er so gut im Bett? Denn was hat er ihr denn anderes zu bieten? Machismo, Armut, Brutalität. Und umgekehrt, wenn sich ein Weißer eine Indígena nimmt, dann ... nun ja ... Er wird sie verlassen, wenn er einen Posten in einer Bank oder einem Konzern bekommt, denn dann braucht er eine Dame, mit der er sich zeigen kann, eine Frau mit Bildung und Umgangsformen, eine Mutter für seine Kinder, die später einmal nicht wegen ihres indigenen Aussehens Nachteile erfahren sollen. Es geht nie lange gut. Es geht nicht.«

»Aber wir leben im 21. Jahrhundert, Damián.«

»Du vielleicht, ich nicht. Schau dich um. Wir leben, wie wir gelebt haben, als die spanischen Eroberer kamen, um uns auszurauben, abzuschlachten und zu versklaven.«

»Aber du nicht!«, widersprach ich. »Du hast mehr vor. Du willst etwas tun für deine Leute, du willst eine Universität gründen.«

Damián lachte bitter auf. »Würdest du dich für mich interessieren, wenn ich dich nicht auf Englisch angesprochen hätte, wenn ich nicht auf dem Diplomatenball im Smoking erschienen wäre, wenn meine Tante nicht von mir behaupten würde, ich würde einmal der Präsident von Kolumbien werden?«

Mir lag eine schnelle Antwort auf der Zunge und sie lautete: »Ja, auch dann.« Aber es wäre nicht die Wahrheit gewesen. Die Wahrheit war eine andere.

»Nein«, sagte ich, und ich wunderte mich selbst, wie selbstverständlich und umstandslos mir die Worte kamen. »Ich habe mich ja nicht in irgendeinen Indio verliebt. Ich ... ich habe mich in dich verliebt, Damián! In dich! Und frag mich nicht, warum. Das weiß ich nicht. Aber ich weiß, dass mir deine Art zu reden und zu denken gefällt, sogar, dass du mich zurückweist, deine Reserviertheit, deine ...« Ich musste unwillkürlich lächeln. »Deine Angst, Damián.«

Jetzt schluckte er.

»Ich habe auch Angst«, fuhr ich fort. »Ich habe gestern den ganzen Tag lang Angst gehabt. Vor dem, was mit mir passiert, vor meinen Wünschen und Hoffnungen, vor meiner Enttäuschung, ich habe um dich Angst gehabt und ... und vor dir. Doch dann ...«

»Jasmin!«, unterbrach er mich hastig. Und seine Stimme war leise, drängend und sanft. »Süße, kluge Jasmin, hör auf! Bitte. Du ahnst nicht, wem du dein Vertrauen schenkst. Du hattest völlig recht, vor mir Angst zu haben. Du musst vor mir Angst haben, Jasmin. Das wollte ich dir schon lange erklären. Aber ... Himmel, wie soll ich das in deine hellen blauen Augen hinein sagen? Wie kann ich das?«

Mir war, als hätte eine Wolke die Sonne verdunkelt. Böse Kälte fiel über mich herein und rann mir in die Glieder. Damián hatte mich längst losgelassen, jetzt trat er einen Schritt zurück. Da stand er vor mir und hob die Hände.

»Hast du dich denn noch nicht gefragt, wie viel Blut an meinen Händen klebt?«, fragte er fast tonlos. »Wie oft ich getötet habe? Und noch töten werde, weil die Umstände es unumgänglich machen? Oder auch nur, weil es notwendig erscheint im Kampf um Gerechtigkeit. In meinem Kampf gegen euch, die Weißen! Einen Kampf, den wir wahrscheinlich verlieren werden und ich persönlich sowieso. Bevor ich Präsident des Landes Kolumbien werden könnte, wird man mich ermordet haben, Jasmin. Alle Politiker, die für die Rechte der Indígenas eingetreten sind und Chancen hatten, ins Parlament zu kommen, wurden bisher ermordet. Die Brutalität macht brutal, verstehst du?«

Ich verstand es durchaus, dennoch konnte ich nur die eine Frage herausbringen: »Hast du die fünf Männer von Antonios Bande getötet, vorgestern Nacht?«

Damián stutzte kurz. Für einen angstvollen Moment hatte ich den Eindruck, er werde mir nicht die Wahrheit sagen. Er werde mir eine Notlüge auftischen, aber nicht eine, die mich beschwichtigen sollte, sondern eine, die mich dazu bringen würde, mich endgültig geschockt von ihm abzuwenden. Aber er tat es nicht.

»Nein«, antwortete er, und es klang plötzlich müde. »Das war mein Onkel mit seinen Leuten.«

»Der Ladenbesitzer in der Calle Sexta in Popayán?«

»Nein, nicht Gustavo, sondern Marias Mann Tano. Er hatte eine alte Rechnung mit Don Antonio offen, einst waren sie Kampfgenossen der FARC, jetzt sind sie Todfeinde. Als Tano hörte, dass Antonio euch gefangen hält, um mich zu kidnappen – übrigens nicht von mir, sondern von dem Freund von Rocío, die im Büro des CRIC arbeitet –, ist er mit zwanzig Leuten losgezogen. Ich konnte ihn nicht davon abbringen. Tano ist ... er ist ein Revolutionär der alten Schule. Er lehnt das, was ich mache, total ab. Meinen Weg der ...« Er zögerte, widersprach das, was er mir gerade erklärte, doch dem wilden Bild des Kriegers mit Blut an den Händen, das er gerade eben noch von sich zu zeichnen versucht hatte. »... meinen Weg der selbstbewussten Kooperation.«

»Und dieser Tano«, hakte ich nach, »will auch nicht, dass mein Vater Clara nach Bogotá mitnimmt, damit sie behandelt werden kann.«

Damián nickte nur.

»Lohnt es sich, zu fragen, warum nicht?«, erkundigte ich mich. »Würde ich es verstehen?«

Damián musste unwillkürlich lächeln. »Verdammt, Jasmin«, sagte er, und ich spürte, wie er meine Hand ergriff. »Ich versuche hier, dir klarzumachen, dass wir beide keine Zukunft haben, jedenfalls keine gemeinsame, erstens, weil ich ohnehin wahrscheinlich nicht lange lebe, und zweitens, weil ich nicht weiß, was für Kriege hier noch stattfinden werden! Und du ... du spottest über mich.«

»Nein, gar nicht! Ich finde nur, es wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Und bis man dich als ersten indianischen Präsidentschaftskandidaten von Kolumbien ermordet, ist es noch eine Weile hin. Außerdem willst du erst einmal eine Universität gründen. Wo eigentlich? Popayán hat ja schon eine.«

Er entspannte sich etwas. »In der Gemeinde La María, Piendamó. Das liegt etwas nördlich von Popayán.«

»Und warum will nun dein Onkel nicht, dass wir Clara helfen?«

»Die indianische Tradition muss hochgehalten werden. Was die Schamanen nicht schaffen, schafft auch die westliche Medizin nicht. Zumindest darf sie es nicht. Andererseits ist mein Onkel nicht so sehr Traditionalist, dass er als Nasa keine Schusswaffen gebrauchen würde.«

»Und was machen wir da nun? Entführen wir Clara kurzerhand?«

»Darüber dachte ich gerade nach, als ...« Damián lächelte schief und schlang seine Finger in die Finger meiner Hand. »... als du kamst.«

Der Ruf des Kolibris
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