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Mein Koffer ist gepackt. Der Flug geht am späten Abend. Ich habe meine Eltern noch mal besucht. Tante Valentina hat mich mächtig an sich gedrückt. Sie hofft, dass ich mein Studium bald abschließe, damit ich für sie arbeiten kann. Ich weiß noch nicht, ob ich einen Abstecher nach Kolumbien machen werde. Es tut immer noch zu weh.

Auch nach acht Jahren.

 

Hätte mir damals nicht der Affe die Uhr geklaut! Und so weit wäre es gar nicht erst gekommen, wären meine Eltern nicht solche hoffnungslosen Romantiker gewesen. Plötzlich hatte mein Vater den Wunsch verspürt, als Arzt das Elend in der Dritten Welt zu lindern, und meine Mutter mit der Idee infiziert, ihrem Leben noch mal einen neuen Sinn zu geben. Deshalb gingen wir, als ich gerade sechzehn Jahre alt geworden war, für ein Jahr nach Kolumbien. Total der Schwachsinn, zwei Jahre vor meinem Abitur. Aber ich hatte vergeblich diskutiert.

»In Bogotá gibt es eine vorzügliche deutsche Schule!«, erklärte meine Mutter. »Und du kannst dein Spanisch vervollkommnen.«

Ich hatte in Deutschland seit drei Jahren Spanischunterricht.

»Und ein Jahr im Ausland tut dir auch ganz gut«, behauptete mein Vater. »Dann siehst du mal, wie andere Menschen leben.«

Wenn Eltern ihr letztes Abenteuer im Leben suchen, hat die Tochter nichts mehr zu melden. Da stecken ganz tiefe Sehnsüchte dahinter oder Lebenskrisen, die ich mit sechzehn nicht verstehen konnte. Das glaubten zumindest meine Eltern, weshalb sie mir eine echte Begründung für diesen Irrsinn nicht geben wollten.

Als wir auf dem Flughafen El Dorado landeten, legte ich die Hand auf die Uhr an meinem Handgelenk. Ich hatte sie während der ganzen Reise immer wieder angefasst. Simon hatte sie mir zum Abschied gegeben. »Bring sie mir zurück«, hatte er gesagt und gelächelt. »Sie ist nur geliehen. Damit du in einem Jahr wiederkommst, Jasmin. Damit du dich nicht etwa verliebst und uns vergisst.«

Simon hatte die Uhr von seinem Vater bekommen, als er vierzehn war, einen Tag, bevor sein Vater zu einer Tour in den Himalaja aufbrach, von der er nicht mehr zurückkehrte. Simons Vater wiederum hatte die Uhr auf einer früheren Reise von einem Mann in Tibet geschenkt bekommen, einem Missionar, der dort buddhistischer Mönch geworden war. Es war eine altmodische goldene Uhr mit buckelrundem Glas, zum Aufziehen noch, mit speckigem Lederarmband, das sich warm an meinem Handgelenk anfühlte.

Simon hatte sie mir ans Handgelenk geschnallt und mich danach zum ersten Mal auf die Lippen geküsst. Es war ein trockener zarter Kuss gewesen, in Simons Rastalocken hatte ich für einen Moment den Duft von Zigaretten wahrgenommen.

Keine vierundzwanzig Stunden später landeten wir auf dem Flughafen von Bogotá. Es regnete. Von den Bergen, welche die Hochebene flankierten, waren nur vernebelte blaue Wände zu erkennen. Ein gelblich grauer Schleier hing über der unüberschaubar riesigen Stadt.

In der Ankunftshalle waberten und plapperten spanische Stimmen. Sie verbreiteten sofort eine gewisse Hektik. Die Menschen balgten sich förmlich um die Koffer am Gepäckband, als ginge es um Leben und Tod. Eine Frau sackte halb ohnmächtig zusammen und wurde von zwei Männern auf einen Kofferwagen gesetzt. Sie schnappte nach Luft wie ein Fisch und fächelte sich mit einem Fächer Kühlung zu.

Auch Papa keuchte wie nach einem Sprint, als er unsere Koffer vom Gepäckband hob. Mama rieb sich die Schläfen. Ein sicheres Zeichen, dass sie Kopfweh bekam. Die Hauptstadt von Kolumbien lag immerhin gut zweieinhalbtausend Meter hoch. Bei jedem Atemzug, den ich tat, hatte ich das Gefühl, Wasserdampf einzuatmen, und zwar ohne Sauerstoff.

»Man gewöhnt sich an die Höhenluft«, bemerkte mein Vater und küsste meine Mutter. »Wir haben es geschafft, Schatz! Schau, was für ein Himmel! Diese Wolken! Was für ein grandioses Land!«

Wenigstens er war glücklich.

Ich für meinen Teil war entschlossen, nichts schön zu finden. Ich war nur unter Protest mitgegangen, ich befand mich unter Zwang hier. Ich war praktisch die Geisel meiner Eltern. Solange ich noch nicht volljährig war, musste ich dort leben, wo meine Eltern leben wollten. Dabei hätte Tante Valentina mich für das Jahr genommen. Sie besaß jede Menge Zimmer in ihrer Wohnung in Konstanz mit Blick über den Bodensee in die Schweizer Berge. »Das können wir Valentina nicht zumuten«, hatte meine Mutter erklärt. »Was ist daran denn eine Zumutung?«, hatte ich gefragt, aber keine Antwort bekommen außer: »Schlag dir das aus dem Kopf, Jasmin.«

Mit einem gelben Taxi rollten wir auf einer Autobahn ins Zentrum. Die Straße bestand aus vier Spuren in jede Richtung. Für die roten Busse des TransMilenio gab es noch einmal zwei Extraspuren. Alles an Bogotá war gigantisch, wenn man wie ich nur Konstanz und Stuttgart kannte und von einem Schullandheimaufenthalt gerade mal noch Berlin. Aber das waren Kuhdörfer verglichen mit der kolumbianischen Hauptstadt. Sieben Millionen Menschen wohnten hier. Im Süden herrschte Mord und Totschlag in den Slums, im Norden hauste in Wolkenkratzern das Geld.

»Es ist doch alles recht sauber«, bemerkte meine Mutter, als hätte sie Ratten und Müllberge erwartet. »Und so grün!«

Kunststück, es regnete ja auch ständig.

»Guck mal!«, rief mein Vater, als wir an einer Ampel hielten. »Hier gibt es noch diese Schilder für Parkverbot, die wir früher auch hatten. Die mit dem durchgestrichenen P.«

Ich schaute aus dem Fenster. Hätte ich das nur nicht getan. Statt des nostalgischen Schilds, das mein Vater entdeckt hatte, sah ich den Bettler, der am Mäuerchen einer kleinen Grünanlage lehnte. Ein junger Mann in Regenjacke ging an ihm vorbei und warf ihm einen angebissenen Hamburger zu, aber nicht weit genug. Das Brötchen knallte auf den Gehweg und fiel auseinander. Ehe der Bettler hinkam, war ein bis aufs Skelett abgemagerter Hund aus der Grünanlage hervorgestürzt und hatte sich den Fleischklops geschnappt. Ich sah, wie der Bettler den Mund zu einem Schrei aufriss und dem Hund eine Eisenstange, die dort herumlag, über den Schädel schlug. Der Hund brach zusammen. Unser Taxi fuhr los, und ich sah gerade noch, wie der Bettler dem wie tot daliegenden Hund den Fleischklops aus den Zähnen klaubte und sich selbst in den Mund steckte.

Ich hätte beinahe gekotzt.

Usaquén lautete der Name des Stadtteils, San Patricio hieß das Viertel und Residencia El Rubí die von Kameras und Pförtner bewachte Anlage, in der wir wohnen sollten. Das Krankenhaus, in dem Papa arbeiten würde, hatte die Wohnung ausgesucht. Die roten zehnstöckigen Klinkerblocks umschlossen wie Festungsmauern einen grünen Rasen mit Bananenstauden und Papageien in den Bäumen.

Unsere Wohnung befand sich im zweiten Stock. Sie hatte vier Schlafzimmer, zwei Bäder und einen Tanzsaal von Wohn- und Esszimmer, in dem schwarze Holzkommoden und steile Stühle im spanischen Kolonialstil herumstanden. Und sie war kalt wie eine Gruft.

»Heizung?« Estrellecita zog die Brauen hoch und lächelte. »Es liegen Decken in den Schränken.«

Estrellecita war unsere Haushälterin, die das Krankenhaus vermutlich gleich mitgemietet hatte. Und sie hatte von Heizungen offensichtlich noch nie etwas gehört.

In Bogotá wurden Häuser und Wohnungen für tropische Wärme gebaut, schließlich befand man sich am Äquator, nur dass es tropische Wärme hoch oben in den Anden nicht gab, was man ja eigentlich seit Gründung der Stadt vor fünfhundert Jahren wusste. Es wurde, so hatten die Reiseführer gedroht, die meine Eltern gelesen hatten, selten wärmer als 15 Grad und nachts schnell kälter als 5 Grad.

Die ganze Stadt war eine Fehlkonstruktion. Und deshalb aß man heiße Suppen. Estrellecita empfing uns jedenfalls mit einem Ajiaco Santafereño, einer Kartoffelpampe mit Hühnerfleisch, in der sich ein Stück Maiskolben verbarg. Dazu gab es ein Schälchen Grünzeug, das mein Vater Franzosenkraut nannte und das nach rohen Erbsen schmeckte, außerdem Kapern, Sahne und eine halbe Avocado in weiteren Schälchen. Und natürlich Brot.

»Wir müssen uns mit dem Brot zurückhalten, Markus!«, ermahnte meine Mutter meinen Vater schon mal. Für Mama war Brot eine totale Katastrophe, denn es machte dick.

So begann also meine Zeit der Regenjacke.

Der Ruf des Kolibris
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