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– 26 –

 

Mitten in der Nacht wachte ich auf. Es war stockfinster. Clara röchelte im Bett neben mir, als würde jemand sie erwürgen. Einen Moment lag ich steif vor Angst, dann machte ich Licht. Erst einmal war ich erleichtert, dass niemand neben mir Clara erwürgte, aber dass sie röchelnd um Luft rang, war beunruhigend. Und ich bekam sie auch nicht wach.

Ich rannte zur Zimmertür meines Vaters und klopfte, bis er aufwachte. Er kam mit seinem Notfallkoffer. Claras Zustand hatte sich nicht geändert, ihr Brustkorb hob und senkte sich im verzweifelten Bemühen, Luft zu kriegen, ihr Atem ging pfeifend, doch ihre Augen waren noch immer geschlossen.

Mein Vater klopfte ihr auf die Backe und rief ihren Namen. Auf einmal schlug sie die Augen auf. Sie versuchte sich aufzurichten, aber ihr fehlte die Luft. Die Augen traten ihr vor Angst aus den Höhlen. Es war fürchterlich anzusehen.

»Ganz ruhig!«, sagte mein Vater und half ihr, sich in eine sitzende Position aufzurichten. »Versuch auszuatmen. Nur ausatmen. Gleich geht es dir besser.«

Er kramte in seinem Koffer, zog eine Spritze auf, desinfizierte eine Stelle an Claras Oberarm und injizierte den Inhalt. Obwohl ich ihn aus dem Schlaf gerissen hatte, arbeitete er hellwach und konzentriert. Ob ich das jemals können würde?

»Was hat sie denn?«, fragte ich.

»Asthma«, antwortete mein Vater schlicht.

Clara lächelte schon wieder und atmete bereits deutlich ruhiger. Sie berichtete, dass sie auch früher schon an Atemnot gelitten habe. Ihre Großmutter Juanita habe ihr dann immer Kaffeebohnen gegeben, die sie zerbeißen und schlucken musste.

Mein Vater nickte anerkennend. »Stimmt. Starker Kaffee kann helfen.« Er erklärte ihr, wie das Asthmaspray funktionierte, das er dabeihatte. Dann ermahnte er mich, ihn sofort zu holen, falls es Clara wieder schlechter gehen sollte, was er allerdings nicht erwartete, und ließ uns allein. An Schlafen war nicht mehr zu denken. Clara war hellwach, was auch an den Medikamenten lag. Und mir war der Schreck auch gehörig in die Glieder gefahren.

Nebeneinander saßen wir auf den Betten, warteten auf den Sonnenaufgang und erzählten uns, wie wir bis jetzt gelebt hatten. Clara berichtete mit so viel Wärme von ihrem Leben bei ihrem Onkel und ihrer Tante mit den Cousinen, den Kindern, den Tieren, dass ich nicht verstand, warum sie es so dringend aufgeben wollte. Es schien ein Leben nach einem ruhigen Rhythmus gewesen zu sein, hart und arbeitsam, aber nicht trübsinnig. Seit sie denken konnte, hatten sie Tiere versorgt, Mais kultiviert, Lamas geschoren, Wolle verkauft und Pullover gestrickt. Sie hatten sich Geschichten erzählt und gesungen. Stundenlang hatten sie gesungen, oft im Kanon.

»Man sagt«, erklärte sie mir, »das Leben der Frauen vom Volk der Nasas sei Liebe, Hingabe, Tapferkeit und Widerstand. Unsere Kinder sind unsere Liebe, bei uns gibt es keine verlassenen oder misshandelten Kinder, unsere Hingabe gilt der Familie, deren Seele und Ernährer wir sind, zu Hause am Herd. Tapferkeit brauchen wir, um unsere Männer im Kampf um Land und Freiheit zu begleiten, und unser Widerstand gilt der westlichen Kultur, der spanischen Sprache und dem verfluchten Katholizismus, der uns unsere Identität geraubt hat. Wir sind es, die unsere Kultur aufrechterhalten, wir lehren die Kinder unsere Sprache, wir bestellen die Felder und füttern die Tiere. Wir sind der Kern des Widerstands gegen die westliche Kultur. Die Männer gehen fort und erliegen allzu oft den Versuchungen von Alkohol und Geld.«

»Aber wenn eine Frau diese Rolle nicht spielen will?«, fragte ich.

Clara lächelte. »So wie Mama Lula Juanita. Sie ist nicht nur eine Piache, eine Traumdeuterin, sie ist auch eine Medizinfrau und Zauberin. Und obwohl sie nichts anderes tut, als unsere uralten Traditionen zu erhalten und auszuüben, hat sie zugleich mit der Tradition gebrochen. Denn bei uns kann eine Frau niemals Medizinerin und geistliche Führerin sein. Diese Rolle ist dem Thé Wala vorbehalten, dem Großen Mann.«

»Hat sie euch deshalb verlassen und ist nach Bogotá gegangen?«

»Vielleicht.« Clara wirkte plötzlich verschlossen. »Es gab Diskussionen mit Tano und Männern aus anderen Siedlungen. Und dann kam Susanne ...«

»Die Lehrerin aus Deutschland.«

Clara nickte. »Tano gehört zu den Leuten, die dagegen sind, dass man uns Lesen und Schreiben beibringt. Vor allem lehnt er es ab, dass wir in unserer eigenen Sprache, dem Nasa Yuwe, lesen und schreiben lernen.«

»Das ist doch bescheuert.«

»Nicht unbedingt. Unsere Kultur wird mündlich überliefert, von den Müttern und den Thé Walas. Sie besitzen das Wissen. Sie fürchten, dass sie ihre Autorität verlieren, wenn das Wissen aufgeschrieben wird und für jedermann zugänglich ist.«

»Typisch Mann!« Clara lachte.

Aber im Grunde war es bei ihr genauso gekommen. Sie und andere Mädchen aus den Bergen waren bei Susanne in den Unterricht gegangen und hatten viel mehr über die Welt erfahren, als die Kinder üblicherweise in den Dorfschulen der Ureinwohner lernten. Als Clara dann verkündete, sie wolle Meeresbiologin werden, hatte Tano ihr verbieten wollen, sich weiter mit Susanne zu treffen. Sie hatte es trotzdem getan, er hatte es herausbekommen und es hatte Streit gegeben. Das war vor gut drei Jahren gewesen.

»Hat er dich geschlagen?«, fragte ich.

Clara schüttelte stumm den Kopf.

»Was hat er gemacht?«

»Nichts!«

Das klang schlimmer, als wenn er sie verprügelt hätte.

»Aber mir war klar, dass ich ihn nicht noch einmal hintergehen durfte. Es gibt immer den Punkt, da weiß man, dass man nicht weitergehen kann, nicht wahr?«

»Und deine Großmutter Juanita? Wo war die?«

»Sie hat mich unterstützt. Aber dann ...« Ein Schatten fiel über Claras Gesicht. »... wurde Susanne entführt. Und Juanita ist weggegangen.« Sie schloss die Augen.

Ich fragte Clara nicht mehr nach ihren Eltern, die bei einem Überfall der Paras auf ihr Dorf getötet worden waren, wie Juanita mir erzählt hatte. Clara war zwei Jahre älter als ihr Bruder, sie musste damals alles mitgekriegt haben.

Irgendwann sickerte Morgenlicht ins Dunkel des Zimmers. Die Sonne ging auf. Es war sechs Uhr.

Clara amüsierte sich köstlich, dass ich schon wieder duschen ging, tat es mir aber nach und fand es schön. Mein Vater untersuchte sie noch einmal. Zum Frühstück trafen wir Leandro. Elena schlief noch. Leandro und mein Vater gingen hinaus, um draußen am Zaun um die Festung der Mine eine Art Sprechzimmer aufzubauen, das aus einem Tisch und einem aufgehängten Tuch als Sichtschutz bestand und von Sicherheitsleuten bewacht wurde. Am späten Vormittag gesellte sich Elena zu uns. Wir gingen hinauf in die Suite ihres Vaters. Gegen Mittag kam Leandro ebenfalls herauf. Er brachte meinen Vater mit, der ziemlich desillusioniert war. Es waren weniger gekommen, als er erwartet hatte. Ein paar Männer hatten ihn konsultiert, aber sie hatten so schwere Leber- und Nierenschäden, dass sie sofort in ein Krankenhaus gemusst hätten, was sie rundheraus ablehnten. Eine Frau war bei ihm gewesen, die Rheuma in den Händen hatte. Auch sie war durch nichts zu bewegen gewesen, mit dem Schürfen aufzuhören. Der Rest hatte gar nichts gehabt oder harmlose Wunden.

Leandro wunderte es nicht. »Vor ein paar Jahren haben wir ein Sozialprogramm aufgestellt mit Krankenversicherungen für die Guaqueros und Ausstiegsprogrammen, damit sie ein anderes Leben führen können. Aber sie wollen hier nicht weg. Solange es Smaragde gibt, gibt es Verrückte, die für einen großen Stein ihr Leben riskieren.«

Er bot an, uns die Mine zu zeigen. Elena verzichtete. Sie hatte das alles schon oft gesehen. Auch Clara blieb auf Anraten meines Vaters im Hotel.

Zu dritt begaben wir uns ins Herz der Förderanlage, die schwarzen Schlamm ausspuckte. Er klebte überall, an allen Fahrzeugen, Kleidern, Gebäuden und in den Gesichtern der Arbeiter.

Vor sechzig Jahren, erklärte uns Leandro, hatten sich die Minen in Staatsbesitz befunden, korrupte Beamte hatten in ihre eigene Tasche gewirtschaftet. Familienclans und Verbrecherbanden kämpften um die Vorherrschaft in der Region. Polizei und Armee waren machtlos. Dann versuchte das Medellín-Kartell ins Smaragdgeschäft einzusteigen. Tausende von Menschen kamen bei Gefechten ums Leben. Als Leandro vor dreißig Jahren ins Geschäft einstieg, stellte er eine private Garde auf, welche die Guaqueros schützte. Der Staat gab die Minen dann in Privatbesitz. Leandro erwarb für vier Minen die Lizenz, sie auszubeuten. Die von Inza gehörte sowieso schon ihm selbst, weil er vor zwanzig Jahren den richtigen Riecher gehabt und den Bauern Grund und Boden abgekauft hatte. Er hatte viel investiert, um den Berg nach smaragdführenden Quarzadern zu durchsuchen, nach fünf Jahren war er endlich auf eine ergiebige Ader gestoßen.

Aber wirklich vorbei war der Krieg nicht. Das Drogenkartell von Medellín hatte zwar an Einfluss verloren, aber dafür versuchten die FARC und andere Gruppen, in der Region Fuß zu fassen. Immer wieder fand man die Leichen ermordeter Guaqueros. Erst vor zwei Jahren war ein Freund von Leandro in die Hände unbekannter Mörder gefallen und lebend aus einem Hubschrauber über der Mine abgeworfen worden.

»Achtzigtausend Kolumbianer leben vom Edelsteinhandel«, erklärte uns Leandro. »Wir exportieren sechzig Prozent aller Smaragde, die auf dem Weltmarkt gehandelt werden, nicht mitgerechnet die Steine, die illegal geschürft und außer Landes gebracht werden.«

Beklommen stolperten wir über das Gelände. Ein Bagger hieb seine Schaufel in das weiche Gestein. Darum herum standen Männer mit Hämmern und schwarz verschmierten Gesichtern und hieben auf alles ein, was nach weißem Quarz aussah, immer in der Hoffnung, ein grünes Fünkchen zu erhaschen. Der Bruch wurde in die Waschanlage gezogen. Ein Jeep brachte uns schließlich zum Schacht.

Heiße Luft schlug uns entgegen. Der Schacht reichte hundert Meter in den Berg. In kleinen Loren kam das Gestein aus dem Bergwerk. Die Männer, die es ausluden, waren klitschnass und rabenschwarz. Leandro besorgte uns Gummistiefel und führte uns in den Berg. Die Gänge waren eng. Oft konnte man nur geduckt laufen. Wasser troff aus dem Gestein. Es war heiß und stickig. Leandro versicherte uns, dass Frischluft in die Stollen geblasen werde, dennoch hatte ich das Gefühl zu ersticken. Alles war schwarz und glitschig. Mit Presslufthämmern bohrten sich die Männer in den Berg. Grüne Steine glitzerten an der Decke, die von weißem Quarz durchzogen war. Enge, die Hitze, die Nässe und der Lärm trieben meinen Vater und mich sehr schnell wieder aus dem Bergwerk.

Leandro lachte. »Da muss man sich dran gewöhnen, nicht wahr?«

Die Männer dort drin arbeiteten zehn Stunden am Tag und sieben Tage die Woche. »Ich zahle gut«, behauptete Leandro.

Ich war auf einmal heilfroh, dass ich von Leandro nicht auch einen Smaragd geschenkt bekommen hatte. So was würde ich nie mehr tragen können. Auch meinem Vater war die Erschütterung anzusehen. Er war, wie schon gesagt, ein hoffnungsloser Sozialromantiker. »Wenn man einen Missstand erkannt hat«, pflegte er zu sagen, »dann muss man ihn beseitigen.« Er war nach Kolumbien gekommen, weil er glaubte, helfen zu können. Doch auf unserer Reise in die Nebelberge hatte er nichts anderes erfahren, als dass er entweder nicht helfen konnte oder seine Hilfe nicht erwünscht war. Und es hatte nicht einmal Sinn, sich darüber aufzuregen und Protestaktionen anzuzetteln. Angesichts der gigantischen schwarzen Hölle gab es nichts Vernünftiges mehr zu sagen.

»Es wird niemand gezwungen, hier zu arbeiten«, sagte Leandro, der unser Entsetzen spürte. Wie hätte er es auch verleugnen können? Jedem Menschen musste klar sein, dass es unmenschlich war, was hier geschah.

Und dennoch geschah es.

Warum? Warum machten Menschen so etwas mit? Für die paar Pesos, für den Traum vom großen Stein, den sie im Mund aus der Mine schmuggeln würden? Aber die allgemeine Not war nicht die Antwort. Viele hatte ich inzwischen gesehen, die sich irgendwie anders über die Runden brachten.

Und wie hielt Leandro das aus? Da oben in seiner Luxussuite im Hotel mit Blick auf die Barackenstadt der Guaqueros, die auf den Schlamm warteten, sein Geschenk an sie. Ein tückisches Geschenk, hielt es doch Zehntausende von Menschen in der Nähe der Mine unter dem grünen Fluch.

Der Ruf des Kolibris
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