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Der Regen rauschte. Angst juckte wie ein böser Pickel unter meinem Brustbein, als ich am Morgen aufstand. Es war ein Scheißgefühl. So als ob heute etwas Furchtbares passieren würde, weil ich es versäumt hatte, etwas Bestimmtes zu tun. Als ob meine Mutter über Nacht gestorben wäre oder heute sterben würde. Und nur weil ich gestern nicht ins Krankenhaus gefahren und sie besucht hatte.

Aber hatte Juanita nicht gesagt, ich brauchte mir um meine Mutter keine Sorgen zu machen? Ich dachte an ihren Reinigungszauber und die Angst fiel von mir ab. Ja, es war ein echter Zauber gewesen, ein guter Zauber, er hatte Damián und mich einander so nahegebracht, wie sich zwei Menschen kommen konnten. Alles wird gut.

Estrellecita hatte mir Kaffee und Brötchen hingestellt, die denen eines deutschen Frühstücks ziemlich nahekamen. Aber ich hatte nicht den geringsten Hunger. Ich war angefüllt mit mächtigen Gefühlen, die keinen Platz ließen für Brötchen mit Butter und Marmelade.

Ich musste Estrellecita natürlich von meiner Mutter erzählen. Sie war sofort in heller Sorge. »Du musst deinen Vater anrufen!«, sagte sie. »Du musst ihn anrufen, gleich!«

Ich gehorchte. Eine Schwester erklärte mir, mein Vater habe sich gerade zum Schlafen hingelegt. Meine Mutter habe die Nacht gut überstanden. Ich solle mich mittags wieder melden. Sie werde meinem Vater sagen, dass er dann im Büro sein solle.

 

Auf dem Weg zur Schule fiel mir ein, dass ich mich gestern mit Elena verkracht hatte. Ich hätte sie unbedingt am Abend noch anrufen müssen, um es in Ordnung zu bringen. Aber ich hatte überhaupt nicht mehr an sie gedacht. Auf einmal kam es mir vor wie ein furchtbarer Fehler.

Worüber waren wir eigentlich in Streit geraten? Sie hatte Damián unterstellt, er hätte unsere Befreiung und Rettung in Popayán nur inszeniert, damit ihr Vater Leandro sich der Sache der Indígenas verpflichtet fühlte. Und ich hatte ihr vorgehalten, ihr Vater sei undankbar, und es komme ihm ganz gelegen, wenn Damián als Geiselnehmer von Susanne Schuster verhaftet oder erschossen würde, weil er sich dann später die Killer sparen könne, die Damián töten würden, falls er als Politiker zu mächtig wurde. Was für ein bescheuerter Streit! Es war alles haltlose Spekulation gewesen. Absolut kindisch!

Was waren wir Menschen doch dumm, streitsüchtig, egoistisch und gemein. Und ich war da keine Ausnahme. Als ob es keine anderen Probleme in der Welt gab als unsere eigenen kleinen Ängste, Enttäuschungen und Wünsche. Als ob da draußen nicht Millionen von Menschen ohne Wohnung und Essen auf der Straße lebten, täglich im Schlamm aus der Smaragdmine nach dem großen Glück gruben oder fern aller Ärzte und Krankenhäuser an einer banalen Krankheit starben.

Elena stand am Eingang des Schulgebäudes, als ich über den Campus ging. Sie drehte sich von mir weg, kaum dass sie mich sah, und trat ins Gebäude. Ich rannte ihr hinterher und holte sie auf der Treppe ein.

»Elena«, sagte ich, »ich möchte dich um Entschuldigung bitten. Es tut mir leid, was ich gestern gesagt habe.«

Sie blieb stehen und blickte mich skeptisch an.

»Ich wollte gestern Abend bei dir anrufen«, log ich, »aber meine Mutter liegt im Krankenhaus.«

»Oh!«, sagte Elena, sofort besorgt. »Was Schlimmes?«

»Weiß man noch nicht. Sie ist auf der Straße umgekippt. Sie war den ganzen Tag verschwunden. Man hat nicht gewusst, wer sie war, weil ihr die Handtasche geklaut wurde. Man hat gedacht, sie hätte die akute Höhenkrankheit, wohl, weil sie Ausländerin ist. Papa hat die ganze Nacht im Krankenhaus verbracht.«

»Das ist ja schrecklich!« In Elenas mitfühlenden Augen spiegelten sich die Sorgen, die ich mir um meine Mutter hätte machen müssen. Ich kam mir ziemlich schäbig vor. So leicht hätte Elena es mir nicht machen müssen. Sie nahm selbstverständlich an, dass ich vor lauter Sorge um meine Mutter ganz kopflos gewesen war, und verzieh mir. Von der Reinigungszeremonie konnte ich ihr nun nichts mehr erzählen. Wir würden nie wieder das vertrauensvolle Verhältnis haben, das wir einmal gehabt hatten. Ich hatte ihr zwar früher auch nicht alles genau so erzählt, wie es gewesen war. Aber diesmal hatte ich sie richtig angelogen. Das war das Ende jeder Freundschaft.

Tränen sammelten sich hinter meinen Augäpfeln. Es war nur der Anfang. Alles ging an diesem Tag kaputt.

Vom Unterricht bekam ich nichts mit. Ich starrte aus dem Fenster in den Regen und fragte mich, warum es mir nicht gelang, um meine Mutter Angst zu haben. Lag es daran, dass sie ständig Kopfschmerzen hatte, dass es ihr eigentlich immer schlecht ging und ich nicht wusste, was ich tun musste, damit es ihr besser ging? Aber ist es wirklich deine Aufgabe, deine Eltern glücklich zu machen? An diesem fürchterlichen Tag begriff ich plötzlich, dass es eine Sache zwischen meinem Vater und meiner Mutter war, was sich da gerade abspielte. Es ging nicht um mich. Ich konnte meine Mutter nicht glücklich machen. Sie erwartete von meinem Vater, dass er es tat.

Wieder fragte ich mich, was meine Mutter gestern vorgehabt hatte. Warum war sie aus dem Haus gegangen? Was hatte sie an all den Tagen gemacht, an denen sie sich krankgemeldet hatte und mein Vater und ich nicht zu Hause gewesen waren? Sie hat einen Liebhaber, ist doch klar, hätte Vanessa gesagt. Und Elena? Sie steckte voller Skandalgeschichten über die Liebschaften und Affären ihrer Kreise. Ihre Antwort wäre vermutlich genauso ausgefallen. Deshalb konnte ich mit ihr darüber auch nicht sprechen. Sie hätte es brühwarm ihrer Mutter erzählt und eine neue Skandalgeschichte hätte in unseren Kreisen zu kursieren begonnen.

In der Mittagspause ließ ich Elena alleine in die Mensa vorgehen – ich hatte noch immer keinen Hunger – und rief meinen Vater an. Er war wider Erwarten tatsächlich in seinem Büro und nahm sofort ab. Ich hörte seiner Stimme an, dass er sich ernstlich Sorgen machte. Was er mir erzählte, passte dazu nicht recht. Die Medikamente schlügen an, sagte er, aber sie werde noch mindestens eine Nacht im Krankenhaus bleiben müssen. Ich könne sie besuchen. Sie werde sich sicher freuen.

Es klang, als sei er sich da gar nicht sicher. Sehr seltsam.

Ich marschierte ins Rektorat und meldete mich für den Nachmittagsunterricht ab, um ins Krankenhaus zu fahren.

Mama lag in einem abgedunkelten Raum, hatte kleine müde Augen und freute sich kaum, mich zu sehen. Sie gab sich Mühe zu lächeln, aber Tränen liefen ihr aus den Augen.

»Was ist denn los, Mama?«, fragte ich.

Sie schüttelte nur den Kopf.

Als ich ging, hatte ich den Eindruck, sie verabschiede sich für immer. Ich ging Papa suchen. Er erklärte mir, sie habe eine schwere Depression. Und dann sagte er plötzlich: »Wir werden nach Deutschland zurückkehren. So schnell wie möglich. Ich habe den Flug schon gebucht. Wir fliegen am Freitag.«

Ich war total geplättet. »Aber das geht doch nicht so einfach.«

»Tante Valentina weiß Bescheid. Ihr könnt erst einmal bei ihr wohnen.«

»Wieso ihr?«, fragte ich.

»Ich werde eine Woche später wieder hierherkommen, nur für ein bis zwei Monate. Es gibt einiges zu regeln, die Wohnung ... den Umzug ... ich muss noch ein paar Behandlungen zu Ende bringen. Die Leute verlassen sich auf mich.«

»Dann will ich auch hier bleiben. Bei dir!«

»Das geht nicht, Jasmin. Ich kann mich nicht um dich kümmern.«

»Ich bin doch kein kleines Kind mehr, Papa! Außerdem müsste ich mitten im Schuljahr die Schule wechseln und ...«

»Glaubst du, dass wäre in zwei Monaten einfacher? Du bist jetzt gerade mal ein halbes Jahr raus aus deiner Schule und davon gehen auch noch die Sommerferien ab. Das neue Schuljahr hat gerade erst angefangen.«

»Und wenn ich nicht will? Wenn ich hierbleiben will? Wer fragt mich eigentlich mal, was ich will?«

Mein Vater blickte mich an, ohne mich wirklich zu sehen. »Mich fragt auch niemand, was ich will, Jasmin. So ist das nun einmal. Wenn du erwachsen sein willst, dann musst du damit leben lernen. Du kannst nicht mehr einfach sagen: Ich will oder ich will nicht. Es gibt Pflichten, Notwendigkeiten. Ich habe es mir auch anders vorgestellt, glaub mir.«

Er schaute mich so erschlagen und müde an, dass mir der Protest im Hals stecken blieb. Sein Traum ging gerade kaputt. Aber, verdammt noch mal, meiner auch!

»Was ist denn los mit Mama?«, fragte ich. »Ich meine, wirklich!«

Er lächelte traurig. »Manchmal denke ich, du bist doch nicht für den Arztberuf geboren, Jasmin. Du hast ... wie soll ich das ausdrücken? ... Du hast nicht den Blick für Symptome. Es interessiert dich nicht wirklich brennend, herauszufinden, was jemandem fehlt. Das ist mir so richtig klar geworden bei unserer Reise zur Mine von Inza. Du hast nicht danach gedrängt, mir im Medizinzelt zu assistieren. Es hat dich nicht wirklich interessiert, die Menschen zu behandeln.«

»Aber du berufst dich doch immer auf die ärztliche Schweigepflicht!«, fuhr ich auf.

»Und damit gibst du dich zufrieden?« Er lächelte. »Ich habe schon als kleiner Junge jede Wunde verbunden und bei meiner halben Verwandtschaft Diabetes, Leberleiden und Alkoholismus diagnostiziert.«

Ich musste wider Willen lachen. »Das fand deine Verwandtschaft sicher super. Aber was hat das jetzt mit Mama zu tun?«

»Nichts.« Mein Vater war ziemlich konfus. »Aber ist dir nie aufgefallen, dass es ihr nicht gut geht?«

»Sie hat ständig Kopfschmerzen. Ja sicher, das ist mir aufgefallen.«

»Und was hast du dir dabei gedacht?«

»Wird das jetzt eine Prüfung oder was?«

»Nein, Jasmin, tut mir leid. So ist das nicht gemeint.« Der verlorene Blick meines Vaters bekam wieder etwas mehr Peilung. »Vielleicht ist es gut so, dass du dich da rausgehalten hast. Vielleicht tun Kinder das, um sich zu schützen.«

»Wovor denn, Papa?«, fragte ich erschrocken.

Er blickte mich an mit seinen grauen Augen. Ich hielt es fast nicht aus.

»Deine Mutter ist schwer depressiv, sie nimmt seit Jahren Medikamente. Es fing nach deiner Geburt an, Jasmin. Wir haben nie mit dir darüber gesprochen. Kinder glauben immer, sie seien schuld daran, wenn es ihren Eltern nicht gut geht. Aber es hat mit dir nichts zu tun, auch dass Mama bald wieder arbeiten ging, weil sie es daheim nicht ausgehalten hat.« Mein Vater senkte den Blick und wischte ein Stäubchen von seinem Schreibtisch. »Irgendwie sind uns unsere Träume abhanden gekommen. Ich dachte, Kolumbien würde uns guttun. Neue Herausforderungen, neue Erlebnisse. Ich habe mich geirrt. Sie findet es grauenvoll hier. Sie hat jeden einzelnen Tag gelitten. Die Höhenluft, das Klima, der viele Regen, die Gewalt auf den Straßen, die Armut an jeder Ecke. Sie ist todunglücklich. Zu lange habe ich geglaubt, sie verstecke ihre Niedergeschlagenheit und Ablehnung hinter Kopfschmerzen, und mir weiter keine Gedanken gemacht. Aber jetzt hat sich herausgestellt, dass es ein sehr ernstes Problem gibt. Sie könnte jeden Augenblick einen schweren Schlaganfall erleiden. Ihre Blutgefäße im Gehirn halten den geringen Luftdruck nicht aus. Sie platzen. Diesmal war es nur eine kleine Ader. Deshalb kann sie sich nicht erinnern, warum sie gestern aus dem Haus gegangen ist, sie war desorientiert. Sie hat nicht mehr gewusst, wo sie ist, und ich glaube, so ganz weiß sie es immer noch nicht. Aber das wird wieder. Je eher sie wieder in Deutschland ist, in vertrauter Umgebung bei vertrauten Personen, desto besser.«

Der Ruf des Kolibris
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