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– 24 –

 

Beim Abstieg kamen wir in Nebel und Regen. Wasser tropfte von den Blättern, auf dem Weg flossen Bäche. Die beschlagenen Hufe der Pferde rutschten immer wieder auf den Steinen ab. Ihre Mähnen troffen vor Nässe. Wir zogen die Kapuzen unserer Capes tief in die Gesichter. Mit der Zeit drang die Nässe durch die Nähte. Wir waren ständig damit beschäftigt, jedes Loch, durch das Wasser drang, zu verstopfen und die Capes über die Knie zu zupfen. Aber es half nicht viel. Die Feuchtigkeit kroch von den Füßen über die Beine hoch. Es passte alles prächtig zu unserer Stimmung.

Schweigend zogen wir den Hang entlang bergab. Schweizer Berge bei Regen sahen kaum anders aus, grau und verhangen.

Elena hatte sich gleich zu Beginn des Ritts bei mir erkundigt, was denn vorgefallen sei. Dann hatte sie sich entschuldigt. Es sei vermutlich ihre Schuld, hatte sie erklärt, sie habe, als Damián und ich überhaupt nicht wiederkamen und Leandro und mein Vater sich ernsthaft Sorgen zu machen begannen, sie beruhigen wollen und gesagt, sie glaube nicht, dass er mich entführt habe, jedenfalls nicht so, sie glaube eher, dass wir ausgebüxt seien. Als die Väter nachfragten, habe sie – nur zu meinem Schutz und zur Beruhigung der Lage – erklärt, sie glaube, Damián und ich seien ziemlich ineinander verknallt. Daraufhin sei mein Vater erst richtig sauer gewesen und wie ein Irrer losgerannt, um uns zu suchen. »Es tut mir leid«, sagte sie.

»Muss es nicht. Meine Eltern wissen eh, dass ich Damián liebe. Vermutlich hat meine Mutter meinem Vater gestern Abend am Telefon noch einmal eingeschärft, dass er aufpassen soll.«

»Du liebst ihn?«, hatte Elena fast geschrien und sich dann den Mund zugehalten. »Dann habe ich also recht! Warum machst du so ein Geheimnis daraus? Wir sind doch Freundinnen. Erzähl mal! War da wirklich nichts? Hat er dir wirklich nur die Bärin gezeigt? Kein Kuss? Nicht mal das? Mir kannst du es doch sagen.«

Ich hatte nur den Kopf geschüttelt. Daraufhin hatte Elena mich ernst angeschaut. »Was ist wirklich los, Jasmin?«

»Er liebt mich nicht. Das ist los.«

»Ach komm! Natürlich ist er total verknallt in dich! So wie er dich anschaut!«

»Verknallt ist was anderes als Liebe, Elena. Zumindest für mich. Kann schon sein, dass er mich ganz interessant findet mit meinen blauen Augen und so. Aber für ihn bin ich noch ein Kind. Jedenfalls will er nichts anfangen mit mir. Ich passe nicht in sein Konzept.«

Elena hatte zu lachen versucht. »Seit wann passt Liebe in irgendein Konzept?«

»Eben«, hatte ich erklärt. »Er liebt mich nicht. Punkt, fertig. Reden wir nicht mehr drüber.«

Er hätte um mich kämpfen müssen! Aber das sagte ich nicht.

Stundenlang ging es durch den Regen. Fahrspuren zeigten, dass hier auch Autos unterwegs waren. Ab und zu passierten wir eine Ansiedlung. Kinder standen am Wegrand. Damián hielt jedesmal sein Pferd an und wechselte mit jedem Menschen ein paar Worte. Einmal kam uns ein Fahrzeug entgegen und wir mussten mit den Pferden von der Straße runter ins Unterholz.

In einer kleinen Ortschaft, die aus der matschigen Straße und ein paar wüst zusammengebretterten Hütten bestand und von einer Art Autowerkstatt beherrscht wurde, vor der sich kaputte Auspuffe und rostiger Schrott häuften, stiegen wir ab und bekamen in einem Wirtshaus, in dem zwei Tische standen, ein Mittagessen. Es bestand hauptsächlich aus Morcillas. Das waren dicke Würste aus Reis, Erbsen und Rinderblut. Dazu gab es Chicharrones, kross gebratene Schwarte vom Schwein. Grauenvoll! Elena beschränkte sich auf Arepas, die Maisbrote, und Tinto, den schwarzen Kaffee, in den sie Unmengen Panela schüttete, den braunen Zucker aus Zuckerrohrsaft. Damián hatte sich nicht mit uns zusammen hingesetzt und ließ sich die ganze Mahlzeit hindurch auch nicht blicken. Ich wusste nicht, auf wen ich wütender war, auf meinen Vater, der uns runtergeputzt hatte wie zwei Kinder, oder auf Damián, weil er sofort klein beigegeben und mich fallen gelassen hatte.

Besser du merkst jetzt, was er für ein Feigling ist, als später, wenn es wirklich darauf ankommt, sagte ich mir. Das zumindest hätte Elena mir in ihrer Schulweisheit erklärt, und Vanessa auch. Und meine Mutter vermutlich auch. Alle hätten das gesagt. In allen Filmen und Büchern wurde so etwas fortwährend gesagt. Das tut zwar weh, aber besser jetzt als später.

Meinem Vater tat es natürlich jetzt leid. Er versuchte immer wieder, mich in eine Unterhaltung einzubeziehen. Aber das hatte ich ihm wenigstens voraus: Ich konnte besser und länger beleidigt sein als er. Er würde sich bei mir entschuldigen müssen. Mehr als »Ja« oder »Nein, danke« bekam er so lange von mir nicht zu hören.

Ich reagierte auch nicht, als er sich die Fußgelenke rieb und erklärte, man sei ja nichts mehr gewöhnt. Als junger Mann habe er tagelang wandern können, ohne dass ihm die Füße wehgetan hätten.

Leandro bot ihm sein Pferd an, aber er lehnte ab. Er hatte ja nur mich zu Mitgefühl bewegen wollen. Scheißspiele, die die Eltern mit ihren Kindern spielten. Immer sollten wir Mitleid mit ihnen haben. Aber hatte er welches mit mir? Er zerstörte mein Glück, mein Leben und wollte, dass ich mir Gedanken über seine Füße machte? Sollte er sie sich doch blutig laufen!

Nach dem Essen begab sich Leandro vors Haus. Durch das kleine Fenster, dessen Scheibe einen Sprung hatte und das wohl seit seinem Einbau nicht mehr geputzt worden war, sah ich, dass er sich eingehend mit Damián unterhielt. Damiáns Gesicht konnte ich nicht sehen, er stand mit dem Rücken zu mir, aber Leandro nickte mehrmals zufrieden. Schließlich klopfte er Damián freundschaftlich auf die Schulter und nahm sein Satellitenhandy, um zu telefonieren. Währenddessen überprüfte mein Vater bei Clara Blutdruck und Puls und gab ihr irgendwelche Medikamente.

Immerhin hatte es aufgehört zu regnen, als wir unsere Pferde wieder bestiegen. Vielleicht hatte Leandro Damián erzählt, dass meinem Vater die Füße wehtaten, jedenfalls überließ er Papa das Pferd, auf dem bisher Clara geritten war, setzte Clara auf sein Pferd und ging nebenher. Ich sah, wie sie sich unterhielten. Clara schüttelte mehrmals heftig den Kopf.

Leandro lenkte sein Pferd neben das von meinem Vater und erläuterte uns, sich immer wieder zu Elena und mir umdrehend, dass Damián ihm gesagt habe, dass wir in wenigen Stunden in einem Ort namens Yat Wala ankommen würden. Der liege an einem See und biete Platz für die Landung eines Hubschraubers. Wenn das Wetter es zulasse, könne uns der Hubschrauber noch heute holen, und heute Abend seien wir dann in der Mine bei Inza und schliefen im Hotel.

»Hoffentlich!«, stieß Elena so inbrünstig hervor, dass ich lachen musste. Auch sie lachte und gestand: »Bergtouren mit Camping sind nichts für mich, ehrlich gesagt. Ich möchte morgens duschen.«

Ich gebe zu, dass auch ich das Ende der Reise herbeisehnte. Am liebsten hätte ich den Tag verflucht, an dem wir sie angetreten hatten, aber es gelang mir beim besten Willen und trotz meines Zorns nicht, auch den geheimnisvollen Moment zu verfluchen, wo Damián und ich uns im Lichtfleck des Smaragdsees begegnet und im Kuss und einer Umarmung auf seinen Grund gesunken waren. Hätten wir nur für immer versinken können. Es war eben doch etwas zwischen uns, das mächtiger war als alles andere. Er hatte es mir mit seinem Kuss gesagt und mit den Fingern seiner Hand, die sich immer wieder in meine Finger geflochten hatten.

Ich hatte seine wilde Sehnsucht gespürt! Es konnte keine Täuschung sein. Worte konnten lügen, Gesten und Mienenspiel nicht. Da war ein großes und tiefes Gefühl zwischen uns. Auf Gedeih und Verderb, für immer und ewig. Warum nur wollte er das nicht zulassen? Fehlte es ihm an Mut, es zu versuchen? Ich hatte ihn doch auch. Und brauchte ich nicht eigentlich mindestens doppelt so viel Mut wie er? Ich gab meine Heimat auf, mein Land, meine Eltern, alles! Er musste gar nichts aufgeben!

Ja, wenn ich gewünscht hätte, dass er mit mir in Deutschland lebte! Hatte ich aber nicht. Fürchtete er, dass ich es eines Tages tun würde?

Es war ein fruchtloses Grübeln. Und bei dieser langsamen Art der Fortbewegung hatte man verdammt viel Zeit fürs sinnlose Kreiseln der Gedanken. Stundenlang nur grüner Wald, Berggipfel, Wolken, das Spiel des Nebels. Eine feuchte kalte grüne Hölle war das! Ich hasste es. Zu gern wäre ich aus der Haut gefahren und hätte mich verflüchtigt. Das hätten sie dann alle davon gehabt. Wenn ich Damián nicht lieben durfte, wozu sollte ich dann leben?

Das Geknatter eines Hubschraubers, das in den Bergen widerhallte, riss mich aus den finsteren Grübeleien und die anderen aus ihrer Lethargie. Elena jubelte. Plötzlich öffnete sich der Dschungel und ein grünes Tal breitete sich vor uns aus. Mitten in ihm glitzerte ein blauer See, an dem ein überraschend großes Haus stand, aus Stein gemauert.

»Yat Wala, das heißt Großes Haus«, erklärte Leandro und blickte auf seine Uhr. »Und da steht der Hubschrauber auch schon.«

Der schwarze Helikopter wirkte wie ein Insekt, das nicht hierhergehörte. Kinder hatten sich um ihn versammelt, Alte und Frauen starrten aus gebührender Entfernung das Gerät und die vier Bodyguards von Leandro an, schwarze Dämonen mit Sonnenbrillen, Gewehren über der Schulter, Munitionsgürteln und den gelben Schleifchen ihres Schutzengels auf der Brust.

Würde Damián mit uns fliegen?, fragte ich mich. Wohl nicht. Warum sollte er? Es musste außerdem jemand die Pferde zu ihrem Besitzer zurückbringen. Die Erkenntnis brannte wie Feuer in meinen Eingeweiden. In wenigen Minuten war es so weit. Dann kam der Abschied für immer. Wie sollte ich das überleben?

Doch dann geschah etwas, das mich meine stummen Fragen ohne Antworten schlagartig vergessen ließ.

Es passierte alles gleichzeitig, aber dass etwas passieren würde, erkannte ich zuerst daran, dass die Gesichter der Kinder, Alten und Frauen, die bislang dem Hubschrauber zugewandt waren, herumfuhren und uns bleich entgegenstarrten. Gleichzeitig warfen die vier Bodyguards ihre Zigaretten weg und brachten ihre Maschinenpistolen und Pumpguns in Anschlag. Wollten sie uns niedermetzeln?

Nein, denn hinter uns kam im donnernden Galopp etwa ein Dutzend Reiter aus dem Wald den Hang herab.

Elena stieß einen Schrei aus. Leandro sprang vom Pferd, zog seine Tochter aus dem Sattel und schrie: »Zum Hubschrauber! Schnell!« Mit Elena an der Hand rannte er los.

Mein Vater fiel mehr aus dem Sattel, als dass er abstieg. Ich sprang ab und zog ihn auf die Füße. Er wankte. Er hatte sich offenbar den Fuß verknackst. Inzwischen waren Elena und ihr Vater bei den Bodyguards angekommen. Sie winkten uns hektisch zu.

Es waren wilde Gestalten, die auf ihren Pferden heranstürmten. Tano und seine Leute! Das wusste ich, ohne dass es mir jemand erklären musste.

Sie trugen Gewehre.

Jetzt kapierte es auch mein Vater. »Komm!«, schrie er und zog mich am Arm zum Hubschrauber. Aber er humpelte so, dass wir es nicht schaffen würden, hinter die Reihe der Bodyguards mit den Gewehren im Anschlag zu gelangen, bevor die Reiter am Haus ankamen.

Und wo waren Clara und Damián?

Ich drehte mich um. Clara saß noch auf dem Pferd, offenbar gelähmt vor Angst. Damián stand bei ihr und blickte der heranstürmenden Horde entgegen. Er kehrte mir den Rücken zu. Clara und er standen genau in der Schusslinie zwischen den Bodyguards und Tanos Männern.

»Damián, Clara!«, schrie ich. »Kommt!«

Ich wollte zurück, aber mein Vater hielt mich fest. »Das ist nicht unsere Sache«, sagte er. »Das ist eine Sache zwischen ihm und seinem Onkel.«

»Natürlich ist das unsere Sache!«, schrie ich. »Und glaubst du wirklich, im Hubschrauber sind wir sicher?«

Ich riss mich los und rannte zurück.

»Jasmin!«, schrie mein Vater angstvoll und kam mir hinterhergehumpelt.

Damián blickte sich nach uns um. Zum ersten Mal seit dem Morgen schaute er dabei auch mich wieder an. Mir wurde fast schwindlig vor Glück, auch wenn es der Situation völlig unangemessen war.

Mein Vater packte mich erneut und zog mich Richtung Hubschrauber. Ich sträubte mich mit Händen und Füßen.

»Komm wenigstens aus der Schusslinie raus!«, brüllte er mich an. Er wollte mich zum Haus ziehen. Ich spürte es kaum.

Lächelte Damián? Ich weiß es nicht.

Jetzt hob er die Hand und bedeutete meinem Vater und mir, stehen zu bleiben. Es war eine gebieterische Geste. Wir gehorchten. Damián drehte Claras Pferd mit dem Kopf zu uns und gab ihm einen Schlag aufs Hinterteil. Es setzte sich in Trab. Ich fing es ab und half Clara aus dem Sattel.

»Zum Hubschrauber!«, rief Damián uns zu. Aber Clara war auf die Knie gesunken. Sie zitterte fürchterlich. Ich konnte sie zwar auf die Füße ziehen, aber laufen konnte sie nicht. Und mein Vater konnte auf seinem verknacksten Fuß auch nicht richtig auftreten. Wir hatten keine Chance mehr.

Die Reiter hatten die Talsohle erreicht.

Der vorderste parierte sein Pferd im vollen Galopp. Steine und Erde spritzten. Der Trupp hinter ihm kam ebenfalls zum Stehen, manche Pferde stiegen. Es waren verwegene Gestalten, die mit ihren Gäulen verwachsen schienen. Viele trugen die ledernen Chaps der Cowboys an den Beinen, einige schienen einfache Bauern zu sein, manche trugen Tarnhosen oder Militärjacken. Der Mann auf dem Vorpferd war nicht sonderlich groß, aber sehnig und gut bewaffnet. Er hatte ein langes Gesicht mit buschigen Brauen.

Ich zweifelte nicht daran, dass das Onkel Tano war.

Sein Blick glitt über den Hubschrauber mit den vier Bodyguards mit den Maschinenpistolen im Anschlag, über mich, Clara, meinen Vater und das große Haus und kehrte dann zu Damián zurück, der allein auf der steinigen, spärlich bewachsenen Fläche zwischen dem großen Steinhaus und dem glitzernden See stand.

Tano rief etwas. Aber ich verstand es nicht. Er sprach Nasa Yuwe, die Sprache seines Volks. Es war eine Sprache voller Nasal- und Knacklaute.

»Er will, dass ich mit ihm zurückkomme«, flüsterte Clara angstvoll. »Er hat gehört, dass ihr mich zu einem Arzt in Bogotá bringen wollt. Damit ist er nicht einverstanden.«

Damián antwortete etwas in derselben Sprache.

»Er sagt, es sei meine Entscheidung«, übersetzte Clara, wohl weniger, um uns zu unterrichten, als vielmehr, um ihre Angst mit uns zu teilen.

Tano war nicht abgestiegen, er redete heftig vom Pferd herab. Damián stand vor ihm, gänzlich unbewaffnet, und antwortete umso ruhiger, je mehr sein Onkel sich aufregte. Das Regencape hatte er über die Schultern zurückgeworfen. Darunter waren sein grünliches T-Shirt und die zerschlissene Hose zu sehen, die nur von einem Gürtel auf den schmalen Hüften gehalten wurde. Seine Bewegungen waren beherrscht und ruhig, fast gelassen.

»Und jetzt sagt Tano«, hauchte Clara, »dass wir ihm gehorchen müssen. Er sei das Familienoberhaupt. Wir hätten seine Abwesenheit ausgenutzt und ihn hintergangen. Das könne er nicht dulden. Über Damián könne er nicht bestimmen, aber mich werde er jetzt mit zurücknehmen, ob ich wolle oder nicht. Und niemand, auch Damián nicht, werde ihn daran hindern können.«

Auf einmal richtete Tano den Gewehrlauf auf Damián, genau auf sein Herz. Die Männer auf den Pferden hinter ihm entsicherten ihre Flinten. Auf Tanos Gesicht lag das hasserfüllte Grinsen des Siegers.

Damián trat einen Schritt zurück, bückte sich und hob einen halbwegs geraden Stock von gut einem Meter Länge vom Boden auf.

Man hätte lachen können, wäre unsere Lage nicht so aussichtslos gewesen. Da stand der einfache junge Mann mit einem Prügel in der Hand einem Dutzend Reitern mit Gewehren gegenüber, die vor allem nervös waren wegen der vier Bodyguards am Hubschrauber mit Pumpguns und Maschinenpistolen. Was für ein Wahnsinn! In Kolumbien knallten schnell die Gewehre und man starb im Dutzend. Solche Szenen waren Alltag. Und auf einmal war ich mittendrin. Ich hätte Todesangst haben sollen. Hatte ich aber nicht. Solange Damián bei mir war ... Er redete ruhig, beinahe freundlich.

»Was sagt er?«, fragte ich Clara.

»Damián sagt, dass die Nasas ein friedliebendes Volk seien und dass sie einst, nur mit ihren traditionellen Stöcken bewaffnet, zwischen die Armeen des Medellín-Kartells und der FARC getreten seien und verhindert hätten, dass sie ihre Kriege auf unserem Boden austragen. Und deshalb werde nicht geschossen im Cauca. Er sagt, dass keiner dieser fremden Soldaten auf einen Sohn der Nasas geschossen habe und dass auch Tano das nicht tun werde. Und er sagt, dass Tante Maria ihn nicht mehr niedersitzen lassen wird an ihrem Herd und ihm kein Essen mehr kochen wird, wenn Tano nicht mit diesem Theater aufhört und uns nicht in Frieden gehen lässt.«

Diese Drohung schien die stärkste zu sein, denn Tano senkte das Gewehr und stieg vom Pferd.

Clara seufzte und lächelte. »Ja, am Herd haben die Frauen das Sagen.«

Tano und Damián sprachen jetzt zu leise, als dass wir sie verstehen konnten, sosehr Clara auch lauschte.

Nach einer Weile wandte sich Damián zu den vier Bodyguards um, die den Hubschrauber bewachten. Leandro und Elena saßen bereits im Helikopter.

»Könnt auch ihr die Waffen senken?«, rief er ihnen auf Spanisch zu.

Die Männer rührten sich nicht.

»Sie gehorchen nur Leandro«, bemerkte mein Vater leise.

»Verdammt, dann soll er den Befehl geben!«, fluchte ich und begann zu winken. Mein Vater machte ebenfalls Zeichen. Aber nichts rührte sich.

Damián marschierte los, direkt auf die vier Schwarzgekleideten zu. Sie standen breitbeinig, die Augen hinter den Sonnenbrillen versteckt. Die gelben Schleifchen ihres Schutzengels leuchteten auf ihren Jacken.

Gleichzeitig kam Tano auf uns zu, auf Clara, mich und meinen Vater. Clara stieß einen angstvollen Ton hervor und klammerte sich an mich. Mein Vater stellte sich halb vor uns, so fest, wie es sein verletzter Knöchel zuließ.

Das Gewehr lässig über die Schulter gelegt, bog Claras Onkel Tano noch mal ab, schlenderte zu unseren Pferden, ergriff das Packpferd am Zügel und kam damit zu uns. Seine schmalen kohlschwarzen Augen waren die harte Variante von Damiáns Augen. Sein Gesicht war von Höhensonne und Wind und Wetter gegerbt. Um seinen Mund lag ein humorloser Zug. Seine linke Backe war dick von Kokablättern. Sein Lächeln hätte einen Sommerregen auf der Stelle zu Hagel gefrieren lassen. Gegen diesen Mann war Don Antonio, der Major mit der Narbe im Gesicht und Anführer einer Truppe von unerfahrenen Jugendlichen, ein harmloser und liebenswerter Philosoph gewesen. Ein kleiner Gangster, der Lastwagen klaute und den Inhalt in den Bergen verscherbelte oder verschenkte und sich dabei vorkam wie Robin Hood.

Ja, Tano hat die deutsche Lehrerin Susanne Schuster entführt!, sagte ich mir. Der hat vor zwei Nächten, vermutlich mit dieser Truppe, fünf junge Guerilleros getötet. Der tötet! Und wenn er erfahren würde, dass im Hubschrauber Leandro Perea, El Gran Guaquero, und seine Tochter saßen, dann wäre der blutige Ausgang dieser Begegnung gewiss. Solche Goldesel würde er sich nicht entgehen lassen. Nie war mir ein Mensch fremder und unheimlicher vorgekommen als Tano Dagua, der kleine, sehnige Mann mit den fremdartigen indianischen Zügen.

»Bitte«, sagte er mit einer Stimme wie vergifteter Honig, »nehmt eure Sachen. Ihr seid Gäste in diesem Land. Euch wird nichts geschehen.«

Mein Vater ließ Clara los und schnürte seine Arztkoffer und den Beutel mit unseren paar Habseligkeiten vom Pferd.

Unterdessen sagte Tano ein paar Worte zu Clara, die ich nicht verstand. Aber seine Handbewegung war eindeutig. Sie sollte aufs Pferd steigen.

»Sie ist nicht transportfähig!«, sagte mein Vater schnell.

Tano hob das Kinn und musterte meinen Vater. »Du bist der Arzt?«

»Ich bin Arzt«, antwortete mein Vater. Seine Stimme klang rau, ein verstecktes Zeichen von Unsicherheit. Noch nie hatte ich so deutlich wie jetzt gespürt, dass mein Vater Angst hatte. Vielleicht fürchtete er um sein Leben, aber noch mehr, dessen war ich mir sicher, hatte er Angst um meines. Hatten wir nicht meiner Mutter versprochen, vorsichtig zu sein und gesund heimzukommen? Daran dachte auch ich.

»Du willst sie in Bogotá behandeln?«, erkundigte sich Tano mit einem überlegenen Lächeln. »Wird sie gesund werden?«

»Wenn sie das hat, was ich vermute, wird sie ein normales Leben führen können. Aber sie wird Medikamente brauchen.«

Tano nickte. Dann geschah das, wovor ich die ganze Zeit Angst gehabt hatte: Sein Blick heftete sich auf mein Gesicht. Er streckte die schwielige Hand aus und fasste mich am Kinn.

»Und das ist dein Töchterchen?«

Ich konnte nicht anders, ich befreite mich mit einem Ruck.

Tano lachte, wie man über die Purzelbäume von jungen Katzen lachte.

Mein Vater musste seine Stimme erst freihusten. »Ja, das ist meine Tochter«, antwortete er.

»Und wenn«, fragte Tano mit freundlicher Heimtücke, »wenn ich sie jetzt mitnehmen würde und würde ihr ein Lebenselixier geben und sie würde ein langes glückliches Leben führen in den Bergen, würdest du sie mir dann anvertrauen?«

Was auch immer mein Vater jetzt sagte, es wäre verkehrt. Sagte er Ja, hätte er mich verkauft, sagte er Nein, mussten wir Clara herausgeben.

Mein Vater blinzelte, sein grauer Bart sträubte sich, mit schmalen Augen sagte er bedächtig: »Du kannst ihr kein Lebenselixier geben, genauso wenig wie ich deiner Nichte Clara ihre Gesundheit zurückgeben kann. Das kann nur Gott.«

Tano lachte anerkennend. »Du hast einen klugen Vater, Jasmin«, sagte er und musterte mich erneut eingehend. »Und du bist also das Mädchen, in das sich mein Neffe Damián verliebt hat.«

Mir lief es eiskalt den Rücken herunter. Woher wusste er das?

»Bist du genauso klug wie dein Vater? Dann beantworte mir eine Frage.«

Ich fühlte, wie ich inwendig zu zittern anfing. Erst zitterte es nur in meinem Bauch, dann breitete es sich in meine Arme und Beine aus und stieg bis in meine Kinnlade hoch. Ich biss die Zähne aufeinander.

»Hat meine Schwiegermutter Juanita ... du kennst Juanita?«

Ich nickte.

»Hat sie dir von den sieben Leben der Liebe erzählt? Schrecken, Blindheit, Wandlung, Erfüllung ... was kommt dann? Richtig: Zerstörung, Opfer und Erlösung.« Tano nahm das Gewehr von der Schulter, rammte den Kolben in den Boden und stützte sich mit beiden Händen auf die Mündung. »Es ist eine alte Weisheit meines Volks, der Nasas. Hast du von Uyu gehört, das ihr Tierradentro nennt?«

Ich nickte wieder. Ich konnte nicht anders.

»Es ist nicht weit von hier. Dort befinden sich in ausgemalten Höhlen die Gräber unserer Vorfahren. Die Zeichen und Inschriften sind unsere Bibel. Da steht die Geschichte von e’tscuë, dem Kolibri, und e’shavy, dem Bären. Sie liebten einander zärtlich, aber die Familie der Kolibris sah es mit Angst und Schrecken, denn die Bären vernichteten die Blüten, um an die Süße in den Zweigen zu kommen, und waren ihre Feinde. Aber auch die Bären waren gegen die Verbindung, denn die Kolibris klauten ihnen den Honig aus den Blüten. Und so brach ein schrecklicher Krieg aus. Die Kolibris hackten den Bären die Augen aus, und die Bären holten die Kolibris mit einem Prankenschlag aus der Luft, bis der Boden im Wald der Nebelberge übersät war mit smaragdgrünen Leibern der Kolibris, und in ihnen wälzten sich blind und rasend vor Schmerzen die Bären. E’tscuë und e’shavy sahen es und erkannten, dass sie ihre Liebe opfern müssten, damit wieder Frieden herrschte. Weil sie sich aber so sehr liebten, dass sie nicht von einander lassen konnten, beschlossen sie zu sterben. Und erst hackte e’tscuë dem Bären die Augen aus, damit er blind verhungere, und kaum hatte sie das getan, zerquetschte e’shavy den Vogel zwischen seinen Pranken. Erst im Jenseits, wo weder Kolibris noch Bären Honig zum Leben brauchen, werden sie einander wieder begegnen und in Frieden lieben können.«

Mir klopfte das Herz im Hals. Alles, was ich in den letzten Tagen über Kolibris und Andenbären gehört und von ihnen gesehen hatte, schwirrte in meinem Kopf herum.

»Und das Traurige an dieser Geschichte«, fuhr Tano fort, »die Feindschaft zwischen den Kolibris und den Bären dauert bis heute fort. Den Opfertod der Liebenden konnte niemand wieder rückgängig machen. Doch Cuene, der Gott des Blitzes, hatte ein Einsehen und stattete die Kolibris mit großer Schnelligkeit aus, damit die Bären sie nicht mehr aus der Luft schlagen konnten, und die Bären mit einer guten Nase, damit sie auch ohne Augen ihre Nahrung finden konnten, und so endete der Krieg.«

Ich sah Clara zustimmend nicken. »Es ist eine sehr verbreitete Legende.«

»Ja«, sagte Tano lächelnd. »Und darum gibt es bei uns ein Gesetz. Denn wir wollen, dass von den sieben Leben der Liebe nur die ersten vier gelebt werden müssen. Du kannst dir sicher denken, was das für ein Gesetz ist.«

Ich hätte mir eher die Zunge abgebissen, als es zu sagen.

Tano lächelte amüsiert. »Entweder du bist nicht klug genug oder zu klug, es zu sagen. Oder dein Vater hat es dir auch schon gesagt und du hast dich deshalb mit ihm überworfen. Aber du solltest auf deinen Vater hören, so wie Damián auf unsere Alten hören wird.«

»Bei uns heißt die Legende Romeo und Julia«, sagte ich zornig. »Ein Dichter namens Shakespeare hat sie als Theaterstück geschrieben. Die Kinder zweier verfeindeter Familien verlieben sich ineinander. Aber die Familien wollen es nicht dulden und da bringt Romeo Julia um und vergiftet sich dann selbst. Eine total bescheuerte Geschichte!«

Tano lachte schallend. Aber es war ein Gelächter, das den Wind die Luft anhalten ließ. Mir fiel plötzlich auf, wie still es in dem Tal war. Kein Vogel piepste.

Und dann geschah es: Die Bodyguards am Hubschrauber legten auf einmal ihre Pumpguns und Maschinengewehre weg. Wie hatte Damián das bloß geschafft? Er kam mit raschem, leichtem Schritt auf uns zu, den Blick auf seinen Onkel geheftet.

Was er zu ihm sagte, verstand ich nicht. Aber Tano drehte sich zu seinen Leuten um und rief ihnen etwas zu. Sie entspannten und sicherten ihre Gewehre und stiegen einer nach dem anderen ab.

Dann musterte Tano uns mit seinen fürchterlichen Augen. Erst meinen Vater, dann mich, dann seine Nichte Clara, die immer noch an meinem Arm hing. Tano streckte die Hand aus und fasste Clara am Kinn.

Seine Worte waren leise, sein Ton war väterlich, doch es schwang eine Drohung mit, die Clara erschauern ließ. Sie nickte und nickte immer wieder.

Schließlich ließ er sie los, drehte sich um und ging.

Damián deutete mit der Hand auf den Hubschrauber und sagte: »Los, geht!«

»Und du, Damián?«, fragte Clara. Wenn sie es nicht gefragt hätte, so hätte ich es getan. Falls ich mich getraut hätte.

Er hob das Kinn. »Ich werde nicht mitfliegen, Clara. Viel Glück!«

Schau mich an!, dachte ich. Schau mich an! Aber ich weiß nicht, ob ich einen Ton herausbrachte.

Damián wandte sich ab und ging mit großen Schritten und zugleich leicht und fast unbeschwert seinem Onkel hinterher.

»Damian!« Ich wollte ihm hinterherlaufen, aber mein Vater hielt mich fest. »Damián!«, schrie ich. »Geh nicht weg!«

Sein Schritt stockte. Langsam drehte er sich um.

Der Griff meines Vaters an meinem Ellbogen war fest. Ich erinnere mich, dass ich versuchte, mich loszureißen. Aber es ging nicht.

»Damián, bitte!«

Er zögerte, dann kam er langsam ein paar Schritte zurück. Er blickte mich an, aber es war nicht der Blick, den ich suchte. Er schaute mich nicht wirklich an. »Jasmin«, sagte er viel zu ruhig, fast kalt. »Ich kann nicht mit euch kommen. Es geht nicht.«

»Aber ...«

»Komm!«, sagte mein Vater.

»Lass mich!«, fuhr ich ihn an.

»Hör auf deinen Vater«, sagte Damián. »Ihr müsst gehen. Und pass gut auf Clara auf. Ich vertraue sie dir an.« Er wich zwei Schritte zurück und machte eine verzweifelt bedauernde Geste. »Leb wohl, Jasmin!«, setzte er leise hinzu. Ein letzter Blick, der mich nicht wirklich sehen wollte, dann drehte er sich hastig um, lief zu seinem Pferd und schwang sich hinauf. Der Trupp von Tano stieg ebenfalls auf. Im wilden Galopp folgten sie dem Weg, den wir gekommen waren, hinauf in die Nebelberge.

»Komm jetzt!«, sagte mein Vater. »Der wird sich schon wieder melden, wenn ihm wirklich was an dir liegt!« Energisch zog er mich zum Hubschrauber.

Einer der Bodyguards kam uns entgegen und nahm die beiden Arztkoffer und Claras Bündel. Die Rotorblätter des Hubschraubers begannen sich zu drehen.

Der Ruf des Kolibris
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