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Damián, wie kommst du hierher? Was machst du hier? Wie bist du in mein Zimmer hereingekommen? Bist du wahnsinnig, mich so zu erschrecken! Wenn ich jetzt lauthals um Hilfe geschrien hätte! Was hättest du gemacht?«

Er lächelte, die Finger seiner Hand fest in meine gefaltet. Er hatte im Nachttisch eine der Kerzen gefunden, die für Stromausfälle bereitlagen, sie angezündet und auf den Nachttisch gepflanzt. Das kleine Licht beleuchtete sein Gesicht. Seine Augen funkelten unter langen Wimpern. Er trug die blaue Wetterjacke, Jeans und Gürtel und darunter ein Sweatshirt mit Kapuze. Sein Haar war zerzaust.

»Und ich dachte, du willst nichts mehr von mir wissen!«

Er wurde ernst. »Dann warst das wirklich du am Montag in der Uni?«

»Und du bist abgehauen!«

»Ja.« Er senkte die Lider und spielte mit meiner Hand. Sein Gesicht wirkte glatt und klar. Wieder fiel mir auf, wie jung er eigentlich war. Bisher war er mir meist als Mann erschienen, der mir an Jahren und Erfahrung unendlich viel voraushatte. Ich hatte ihm unterstellt, dass er stets überlegt und planvoll handelte, sich unter Kontrolle hatte und genau wusste, was er wollte. Aber eigentlich war er nur vier Jahre älter als ich, und jetzt, wie er so auf meiner Bettkante saß, als Einbrecher und Überraschungsgast, wirkte er jungenhaft und unsicher.

»Ich wusste nicht«, sagte er, »wie ich dir in die Augen schauen sollte. Ich ... ich habe dich da in Yat Wala einfach stehen lassen. Aber ich ... ich konnte mich nicht von dir verabschieden. Ich wusste nicht, wie. Ich ...« Er schluckte. In seinen Augen funkelte etwas, was aussah wie zu viel Flüssigkeit. Beim nächsten Wimpernschlag löste sich eine kleine Träne und rann ihm über die Wange.

»Ein Indianer weint nicht«, sagte ich und wischte ihm mit dem Daumen die Salzspur von seinem Backenknochen.

Er versuchte zu lachen. Doch dann schlang er plötzlich die Arme um mich, so heftig, dass es mir den Atem verschlug. Ich spürte seine Muskeln zittern vor Erregung. Er ächzte, er holte tief Luft, dann fanden sich unsere Lippen.

Vergesst alles, was ihr je für Unsinn über euren ersten richtigen Kuss gedacht habt. Die Zunge und all das, und wie sich das wohl anfühlt. Es ist anders. Es ist viel selbstverständlicher, du denkst nicht, wie es sich anfühlt, du willst es, du willst ihn, du atmest ihn ein, du bist vereint und glücklich. Und es soll nie zu Ende gehen, aber irgendwann müsst ihr beide einfach wieder Luft holen.

Er strich mir die Haare aus dem Gesicht, ein gelöstes Lächeln erhellte seine Gesichtszüge. Mit den Fingerspitzen fuhr er meine Brauen nach, strich mir über die Wange. Sein Blick war sanft. Ich griff ihm in die kurzen schwarzen Haare. Sie fühlten sich hart und glatt an. Die Haut seiner Wangen war zart und weich, in seinem Hals pulsierte das Leben, seine Muskeln zuckten vergnügt.

Es war, als fänden unsere Körper mit jeder Berührung und jeder Entdeckung unserer Hände mehr und mehr Gefallen aneinander, als verliebten wir uns mit jedem neuen Kuss von Neuem und schließlich rettungslos ineinander.

»Ich liebe dich!«, flüsterte er. Er sagte es auf Deutsch. Denn das spanische »te quiero« bedeutete eben auch kurz und ruppig: »Ich will dich.« Und »te amo!« sang man nur in Kitschliedern.

»Ich liebe dich auch«, radebrechte ich auf Nasa Yuwe und scheiterte an der Kombination von Vokalen und Konsonanten.

Er lachte erstaunt und heiter.

»Einen Versuch war es wert«, bemerkte ich.

»Nein, es war gut.« Er grinste. »Ich weiß ja, was du sagen wolltest.«

»Das ist jetzt nicht sehr romantisch!«, beschwerte ich mich.

Er wurde ernst. »Ich weiß, Jasmin. Ich weiß doch, wie viel du für mich empfindest. Dein Herz ist groß. Du hast viel mehr Mut als ich. Ich habe nie daran gezweifelt, dass du mich liebst.«

Leider konnte ich das nicht mit derselben heiteren Sicherheit von meinen Gedanken über ihn behaupten.

Er spürte meine Scham und blickte mich prüfend an. »Aber du warst dir da nicht so sicher, was mich betrifft, nicht wahr? Ich habe mich blöd verhalten, kopflos ...«

»Kopflos ist nicht gerade das, was mir zu dir einfällt«, bemerkte ich. »Eher besonnen, selbstbeherrscht, kontrolliert, abweisend, kalt.«

»Oje. War es so schlimm?«

»Schlimmer, Damián!«

Seine warmen Hände lösten sich von mir. Er schwang die Beine aufs Bett und lehnte sich neben mich mit dem Rücken gegen das Kopfkissen und die Wand. Die Finger seiner rechten Hand fanden erneut den Weg, sich zwischen die Finger meiner linken zu falten.

»Du hast mich ganz schön aus dem Gleichgewicht gebracht, weißt du das, Jasmin?«

Er wandte den Kopf und schaute mich an. So nah war mir sein Gesicht, dass ich trotz des spärlichen Kerzenlichts die zwei gekreuzten Wimpern in seinem Augenwinkel sah, die kleine Narbe in der Augenbraue.

»Ich habe gedacht, ich könnte es überwinden. Ich dachte, wenn ich so schnell wie möglich verschwinde, dann würde ich damit fertig.« Er lächelte schief. »Ich meine, ehe wir uns richtig ineinander verlieben. Ehe es ernst wird. Aber ...« Er seufzte tief. »... ich konnte nicht aufhören, an dich zu denken. Und je entschlossener ich war, dich zu vergessen, desto klarer ist mir geworden, dass es nicht nur um mich geht, sondern auch um dich. Ich hatte meine Entscheidung getroffen, ohne dich zu fragen, ohne dir etwas zu erklären. Vielleicht kannst du mir verzeihen, wenn ich dir sage, dass du und ich in meinem Inneren so sehr eins waren, eine Person mit gleichen Gefühlen und Gedanken, dass ich wie selbstverständlich davon ausgegangen bin, dass du mich verstehst und mit mir einig bist. Aber ...«

Seine Finger zuckten in meinen und verkrampften sich.

»Aber Clara hat mir geschrieben, dass es dir nicht gut geht.« Er blickte mich an. »Und sie meinte damit nicht einfach, dass es dir schlecht geht, sondern sie meinte damit die Trauer, die man empfindet, wenn man einen geliebten Menschen verloren hat und sich immer wieder fragt, warum. Die Fassungslosigkeit, das Unbegreifen, die innere Lähmung. Sie hat mir geschrieben, dass du Nasa Yuwe lernst und doch nie meinen Namen nennst. Und dann hat sie mir geschrieben, dass du und Mrs Melroy dieses Wochenende in Uyu sein würdet. Und weißt du, wenn bei uns jemand unsere alten Grabstätten besucht, dann weil er Frieden wünscht und endgültig Abschied nehmen will. Wenn Mama Lula Juanita mitgekommen wäre, hätte sie mit dir eine bestimmte Zeremonie vollzogen. Dann wäre ich in deinem Herzen für immer tot gewesen. Und deshalb ...« Er zögerte und seine Finger zuckten gequält in meinen. »Deshalb habe ich mich heute ganz früh aufs Moped gesetzt und bin losgefahren.«

»Von Bogotá?«, fragte ich entsetzt. »Auf einem Moped?«

Er lächelte nur. »Ich musste es tun. Ich hatte plötzlich das Gefühl, es sei meine letzte Chance, dir mein Verhalten zu erklären und dabei auf dein Wohlwollen zu stoßen. Danach würdest du mich nicht mehr anhören.«

Da hatte er vielleicht sogar recht. Morgen früh hätte ich ihm womöglich die perversen Schmerzen, die ich litt und die er mir bereitet hatte, nicht mehr verziehen. Ich wäre innerlich gestorben gewesen.

»Wir müssen uns irgendwo treffen und reden«, sagte er sanft. »Darum wollte ich dich bitten. Falls du mir zuhören willst. Ich konnte nicht warten. Als ich euch vorhin aus dem Bus steigen sah ... dein Gesicht war so leer und traurig ...«

Mir schwindelte kurz. Da hatte er also irgendwo im Dunkeln gestanden, keine paar Meter von mir entfernt, und ich hatte es nicht bemerkt. Nicht auszudenken, wenn er sich nicht hätte entschließen können, mit mir Kontakt aufzunehmen!

»... und da wusste ich, dass ich dich keine Minute länger als nötig einem solchen Zustand überlassen durfte. Ich habe gesehen, in welchem Zimmer du Licht gemacht hast. Aber ich konnte nicht eher hier heraufkommen, die Rezeption war ständig besetzt. Und jetzt habe ich dich geweckt. Du bist müde.«

»Unsinn!« Die bleierne Müdigkeit von vor ein paar Stunden war wie weggeblasen. Ich fühlte mich wacher und lebendiger denn je. »Bleib, Damián. Lass uns jetzt reden. Ich könnte sowieso nicht mehr schlafen.«

Geradezu absurd, der Gedanke, jetzt zu schlafen. Simons Uhr zeigte kurz nach halb vier. Und wer wusste, was morgen sein würde? In dieser Nacht würde sich unser Schicksal entscheiden. Womöglich hatte ich nur diese eine Nacht, diese zweieinhalb Stunden bis Morgengrauen, um Damián und mir eine Zukunft zu geben.

Denn er war ja eigentlich gekommen, um ordentlich Abschied zu nehmen. Ich sollte verstehen, warum es so sein musste. Ich sollte am Ende Ja sagen und zusammen mit ihm unsere Liebe opfern, denn nach der Zerstörung des Familienfriedens kam das Opfer, das sechste Leben der Liebe. Nur durch das Opfer konnte man den Frieden wiederherstellen und den Krieg unter den Bären und Kolibris beenden. Damián wollte, dass ich einsah, dass wir verzichten mussten, weil unsere Kulturen, Einstellungen und Lebensentwürfe nicht kompatibel waren. So schmerzhaft, so unerträglich und fürchterlich das für uns auch sein würde.

Der Ruf des Kolibris
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