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Im Licht der kleinen Kerze saßen wir auf meinem Bett und Damián erzählte seine Geschichte.

Er hatte sich auf den ersten Blick in mich verliebt. Es hatte ihn wie ein Blitzschlag getroffen, als er mir in der Grünanlage von El Rubí die Uhr zurückgab, die das Seidenäffchen seiner Großmutter mir geklaut hatte. Da stand vor ihm plötzlich ein Mädchen mit Augen so hell und blau wie zwei Gebirgsseen, mit Haaren vom satten Rotblond der Maisblüten und scheu wie ein Lamafohlen.

Nie hatte er damit gerechnet, sich in ein weißes Mädchen zu verlieben. Die Töchter der Reichen, mit denen er auf die Schule gegangen war, hatte er nie interessant gefunden. Sie kamen aus einer fremden Welt, in der es alles gab, Handys, Partys, Schmuck und Kleider nach der letzten Mode. Manche hatten ihn angeglitzert, hatten mit ihm geflirtet, dem stattlichen Indio mit der bronzefarbenen Haut und der Wildheit der Urwälder in Blick und Bewegungen, aber sie hatten ihn kalt gelassen. Gefährlich hatte ihm keine werden können.

Doch plötzlich stand ich vor ihm wie ein auf die Erde geplumpster Engel, ein bisschen verwundert, sogar ängstlich, aber nicht abweisend. In meinem Gesichtsausdruck hatte er nichts von der lächelnden Herablassung gefunden, die er so oft in den Gesichtern seiner Klassenkameradinnen bemerkt hatte, wenn sie sich mit ihm unterhielten, dem Indianer aus den Nebelbergen, der auf dem Colegio Bogotano Englisch und Deutsch lernte und Wirtschaftswissenschaften studieren wollte. Medizin hätten sie noch verstanden, damit hätte er seinen Landsleuten am ehesten helfen können, meinte man immer. Er hatte ihnen etwas von Wolle und Textilindustrie erzählt. Sie hatten zufrieden genickt, wenn er ihnen erklärte, dass man etwas von Wirtschaft verstehen müsse, um in rückständigen Gebieten funktionierende Kleinunternehmen aufzubauen und zu Kollektiven zusammenzufassen, die auf dem globalisierten Markt bestehen konnten. Doch in einem Bankhaus von Bogotá konnten sie sich ihn nicht vorstellen. Bestenfalls als Kleinkreditgeber für Frauen, die sich Wolle kaufen wollten, oder für Kokabauern, die auf weniger einträgliche Kulturen umsatteln wollten. Einer wie er, das schien ausgemacht, musste die Bildung, die er mithilfe eines Stipendiums erwarb, in den Dienst seiner verarmten Landsleute stellen.

Hätte ich ihn genauso spöttisch oder mitleidig angesehen, hätte er kein Problem damit gehabt, mir mit ironischem Lächeln die Uhr zu überreichen und auf den Grundverdacht anzuspielen, dass die Indios alle Diebe seien. Aber es hatte ihm förmlich die Sprache verschlagen.

Zuerst hatte er mich für eine Engländerin gehalten, eine von den Luxustöchtern, die von ihren Vätern auf weite Reisen mitgenommen wurden und den ganzen Tag nichts zu tun hatten, als einzukaufen. Eigentlich hatte er mir erklären wollen, dass der Affe ihm nicht gehöre, sondern ihm nur gefolgt sei, und dass er gelegentlich klaue, was ihn stets ziemlich in Verlegenheit bringe. Vermutlich sei er von einem seiner Besitzer einst auf Klauen abgerichtet worden. Aber das alles hatte er mir plötzlich nicht mehr sagen können. Es war ihm zu brutal vorgekommen. Ich sah schon erschrocken genug aus. Außerdem hatte es die Hausverwaltung nicht gern, wenn die Gärtner die jungen Mädchen ansprachen. Das konnte missverstanden werden.

Und so hatte er mich stehen lassen, hatte den Affen mit dem Moped zurück zu seiner Großmutter gebracht, ihr erzählt, was jener angestellt hatte, und war dann zur nächsten Anlage gefahren, die er betreute. Am Abend hatte Juanita ihm zu seiner großen Überraschung berichtet, dass das Mädchen mit der Uhr bei ihr am Gartentor gestanden habe.

»Sie hat mich damals mit Namen angesprochen«, unterbrach ich Damián. »Woher wusste sie ihn?«

»Das weiß ich nicht. Mama Lula weiß manchmal Dinge, die sie nicht wissen kann. Vielleicht kam es dir auch nur so vor, als hätte sie dich beim Namen genannt. Sie hat etwas in ihrem Verhalten, was die Leute manchmal glauben lässt, von ihr Dinge gehört zu haben, die sie nicht gesagt, die sie sich selbst aber gedacht haben. Mir hat sie jedenfalls deinen Namen nicht genannt.«

»Vielleicht hast du ihn nur nicht hören wollen«, spöttelte ich. »Und deshalb glaubst du, sie habe ihn nicht gesagt. Deine Oma hat ja was an sich, was die unbewussten Wünsche zum Vorschein bringt, nicht?«

Damián lachte. Er hatte meine Hand zu sich auf den Bauch gezogen und spielte mit meinen Fingern.

Nach dieser ersten Begegnung hatte er sich über mich keine weiteren Gedanken gemacht. Es lag völlig außerhalb seiner Vorstellungskraft, mich wiedersehen oder gar mit mir ausgehen zu wollen. Aber das Paar blauer Augen und die Maisblütenfarbe meiner Haare hatte er nicht vergessen. Sie erleuchteten in den folgenden zwei Tagen plötzlich seinen Sinn. Dann hielt er beim Reparieren von Jalousien oder Säubern der Schultoiletten plötzlich inne und lächelte. Ihm war, als sei ein Kolibri auf seiner Hand gelandet, hätte sich ein bisschen das schimmernde Gefieder geputzt und sei dann weitergeflogen.

Dann sah er mich auf dem Campus der Schule zusammen mit Elena, der Tochter des Gran Guaquero, eines der reichsten Männer Kolumbiens. Plötzlich fiel ihm ein, dass er mich auch vor unserer Begegnung im Garten der Anlage El Rubí schon ein paarmal gesehen haben musste. Doch da war ich ihm noch nicht aufgefallen, da hatte ich ihn nicht angeschaut und er hatte mir nicht in die Augen geblickt. Da war er mir noch nicht nahe genug gekommen, um mich überall wiederzuerkennen.

Er begann sich zu fragen, was mich aus dem Gros der anderen Mädchen hervorhob, die zu Hunderten über die Wege schlenderten, auf den Wiesen lagen, in der Mensa saßen. Viele von ihnen hatten auch blaue Augen und blonde Haare. Aber das Blau meiner Augen war anders und die Farbe meiner Haare einmalig. Auch in meinem Verhalten unterschied ich mich nicht von meinen Mitschülerinnen, nur dass er fand, dass mein Verhalten gleichzeitig völlig anders war. Er meinte, eine gewisse Distanz zu den Umtrieben meiner Altersgenossen zu bemerken, als ob mir all das wenig bedeutete, was ihnen normalerweise so wichtig war: Handys, Musiktitel, Einkaufstouren durch die Stadt, Konzertkarten und der Sommerurlaub in der Karibik. Ich sah so aus, als beobachtete ich alles, immer ein wenig verwundert und erstaunt, durchaus wohlwollend und anteilnehmend, aber nicht so, als entschiede sich auf dem Campus mein Lebensglück. Wie eine Außenseiterin war ich ihm also vorgekommen, und da hatte er sich mir verwandt gefühlt in diesem staunenden und beobachtenden inneren Abstand zur privilegierten Welt des Colegio Bogotano, in der er vom Abiturienten zum Praktikanten abgestiegen war.

Zwar war es ein Praktikum, das ihm die Rektorin Claudia Aldana persönlich verschafft hatte, ein Lernen für höhere Aufgaben, aber die meisten Schülerinnen und Schüler, die ihn noch als Absolventen kannten, waren bald weg, und der Rest sah ihn nicht mehr als Damián Dagua, sondern als irgendeinen Pepe, einen Angestellten der Schule mit dunkler Hautfarbe, an den man zuerst dachte, wenn irgendwas geklaut wurde.

Ich spürte, wie seine Bauchdecke sich unter meiner Hand in einem stummen Seufzer hob. Er blickte zu mir herüber.

»Und dann standest du plötzlich im Computerraum, wo ich saß.«

Doch in meiner Miene hatte damals nicht nur Erstaunen gelegen, sondern auch Misstrauen und Zweifel. Was machte der hier? Einer, der sich mit diversen Jobs über Wasser hielt und, wenn es niemand mitkriegte, seinen Affen auf Diebestour schickte? Abscheu und Verachtung hatte er zu erkennen gemeint und plötzlich war Ärger in ihm aufgestiegen. Er hätte mir gern ins Gesicht gesagt: »Guck nicht so! Ich bin keiner eurer Dienstleute, die euren Dreck wegmachen, ich bin Student!«

Aber das hätte er vor den anderen Schülerinnen und Schülern unmöglich sagen können. Außerdem hatte mein Anblick ihn zum zweiten Mal getroffen wie ein Blitz aus heiterem Himmel. So viele Gedanken und Gefühle waren gleichzeitig durch seinen Kopf geschossen, dass er kapituliert und sein Heil in der Flucht gesucht hatte.

Am liebsten wäre er noch viel weiter fortgelaufen als nur ins Büro des Hausmeisters und abends ins Haus seiner Großmutter. Er hatte sich seines Ärgers geschämt, es hatte ihn bedrückt, dass er in Versuchung gewesen war, mir gegenüber mit seinen Projekten, seiner Zukunft aufzutrumpfen. Denn das bedeutete, dass er sich mir sozial unterlegen gefühlt hatte, dass es ihm nicht egal gewesen war, was ich über ihn dachte.

Die Liebe kam ihm ungelegen. Für ihn war immer klar gewesen, dass er irgendwann ein Mädchen aus seinem Volk heiraten würde. Vage hatte er dabei an Rocío aus dem Büro des CRIC gedacht, an eine, die Schulbildung besaß und politisch aktiv war, die das Leben in der Stadt kannte. Er war sogar ein paarmal mit ihr ausgegangen, bis sie ihm gestanden hatte, dass sie bereits einen Freund hatte. Genauso gut hätte er sich in ein Mädchen aus den Bergen verlieben können, das weder mit Computern noch mit dem Leben in der Stadt vertraut war. Er hätte eine gefunden, die, auch wenn sie nicht seine Schulbildung besaß, klug genug gewesen wäre, seinen Weg mitzugehen, so eine wie seine Schwester Clara. Aber eine Weiße, eine Deutsche, das konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen.

Er hatte durchaus auch früher schon weiße Frauen gekannt – Susanne Schuster zum Beispiel –, die das einfache Leben in den Bergen schätzten. Sie waren aus ihren Lebensumständen geflüchtet, vielleicht weil sie dort nicht glücklich geworden waren und nun glaubten, das einfache Leben sei einfacher, das Kochen am offenen Feuer, das Waschen im Gebirgsbach. Sie verkannten dabei, dass auch das Leben der Leute in den Nebelbergen kompliziert war. Die Regeln des familiären Miteinanders, die sozialen Gesetze waren nicht so einfach zu durchschauen. Die Brutalität der Lebensumstände spiegelte sich in autoritären Familienverhältnissen wider. Das männliche Familienoberhaupt übte eine Gewalt aus, die für Außenstehende nicht akzeptabel war. Und die Macht der Mütter am Herd war für Außenstehende wiederum kaum erkennbar. Susanne Schuster hatte den Fehler gemacht, sich zu schnell als eine von ihnen, den Indios, zu betrachten und sich einzumischen. Deshalb hatten die Alten sie mit Misstrauen betrachtet und schließlich davongejagt.

»Aber sie ist doch entführt worden«, sagte ich.

»Erst als sie wieder zurückkam. Aber lassen wir diese unselige Geschichte jetzt mal beiseite.«

Je weniger Damián von mir hatte wissen wollen, desto mehr hatte er über mich erfahren. In der Schule wurde durchaus anerkennend über mich gesprochen. Er erfuhr, dass ich eine gute Schwimmerin war und alle schulinternen Wettkämpfe gewann. Er hörte, dass meine Freundin Elena und ich mit Elenas Vater die Mine bei Inza besuchen wollten, damit Elena dort ihren ersten Smaragd geschenkt bekommen konnte. Er erfuhr, dass ich auf Elenas Pferden ritt. Das alles missfiel ihm. Ich war doch nur eine von denen, die es schafften, in diesem Land zu leben und die Augen komplett vor seiner Armut und Ungerechtigkeit zu verschließen, eine von denen, deren Hauptsorge momentan das Kleid für den Diplomatenball war, zu dem unsere Väter und damit auch wir selbstverständlich eingeladen worden waren, aber niemals ein Indio wie er, der keinen bedeutenden Vater hatte, sondern gar keinen, weil er nämlich zusammen mit dem ganzen Dorf abgeschlachtet worden war. Und endlich, dachte er, konnte er mich ad acta legen und vergessen.

Doch dann rief ihn die Rektorin ins Büro und überreichte ihm lächelnd eine Einladung für genau diesen Diplomatenball. Sie bekam stets ein gewisses Kontingent, das sie an verdiente Lehrer und Mitarbeiter der Schule vergab, den Religionslehrer und Pfarrer zum Beispiel, der seit Jahren Schulklassen bewog, Patenschaften für ein paar Familien in den Slums von Bogotá zu übernehmen, und jetzt auch an ihn, Damián, den Hausmeistergehilfen.

»Da können Sie wichtige Leute kennenlernen und versuchen, sie für Ihre Pläne zu gewinnen«, sagte sie. »Außerdem müssen Sie lernen, sich auf glattem Parkett zu bewegen, wenn Sie wirklich was werden wollen.«

Damián konnte die Einladung nicht zurückweisen, er fühlte sich der Rektorin zu Dank verpflichtet. Der Respekt, den man ihm, dem Indio, als Schüler im Colegio entgegengebracht hatte, hatte entscheidend dazu beigetragen, sein Selbstbewusstsein zu stärken. In den drei Jahren als Schüler hatte er gelernt, sich das, wovon er träumte, auch wirklich zuzutrauen. Er hatte begriffen, dass es nicht genügte, einer benachteiligten Minderheit anzugehören und revolutionäre Ideen zu vertreten, sondern dass er mitarbeiten musste, um sie auch umzusetzen. Er hatte sich im Schülerparlament engagiert und Erfahrungen gesammelt.

»Zum Beispiel«, sagte er, »habe ich gelernt, dass es keinen Sinn hat, zu sagen, die Indígenas müssen mehr Rechte haben. Dann nicken alle, aber niemand ist mit dem Herzen dabei. Man muss eine Geschichte erzählen, damit die anderen fremde Beweggründe nachvollziehen und zu ihren eigenen machen können. Seitdem erzähle ich Geschichten. Nur bei dir ...«, er lächelte schief, »... habe ich es nicht zustande gebracht. Dir habe ich, wie das in eurer Kultur üblich ist, nur das Ergebnis meiner Überlegungen präsentiert. Ich habe dir keine Chance gegeben, meine Beweggründe zu deinen eigenen zu machen.«

Vielleicht besser so, dachte ich plötzlich. Doch in diesem Moment, um fünf Uhr nachts im Hotel von San Andrés de Pisimbalá, war ich noch absolut sicher, dass es Damián auch mit einer noch so langen Geschichte nicht gelingen würde, mich davon zu überzeugen, dass auch ich am Ende sagte: »Ich sehe es ein. Es geht nicht mit uns. Wir haben keine Zukunft.« Das würde nicht geschehen.

Aber ich sagte es nicht, um Damián nicht zu warnen. Man durfte ihn nicht unterschätzen. Mir war total klar, dass der Indio, der so liebevoll mit meinen Fingern spielte und so sehnsuchtsvoll und leidenschaftlich küssen konnte, ein raffinierter Friedensstifter war, wie man das in seiner Kultur nannte, oder ein echter Politiker, wie wir sagten. In jedem Fall war er geübter als ich im Reden und Überzeugen.

Während seiner Zeit im Colegio Bogotano hatte er entdeckt, dass er ein besonderes Talent besaß, nämlich das, Konflikte zu erkennen, zu durchschauen und zu schlichten. Das hatte seine Großmutter Juanita ihm zwar schon bescheinigt, aber auch ein Talent brauchte Gelegenheit, sich auszuprobieren, zu üben und weiterzuentwickeln. Begierig hatte Damián sich die westlichen Methoden der Konfliktvermeidung und Deeskalation angeeignet. Und nicht selten hatte er europäische oder amerikanische Streithähne mit indianischen Friedensriten verblüfft und Mestizen, Halbindios und Schwarze mit den Prinzipien der Gesprächsführung, wie man sie in großen Konzernen anwandte.

So war in ihm allmählich die Erkenntnis gereift, dass sein Traum vom Frieden kein Traum bleiben musste, sondern dass er das Talent und die Mittel besaß, dazu beizutragen, die gegensätzlichen sozialen Klassen in seinem Land miteinander zu versöhnen. Und wenn seine eigenen Leute, die Indios, als Lehrer, Ärztinnen oder Beamte den Weg in die Gesellschaft von Kolumbien finden sollten, dann brauchten sie zuallererst eine gute Bildung und Ausbildung.

Die Rektorin hatte ihn in seinen Ideen bestärkt und ihm den Job als Praktikanten an der Schule gegeben, damit er lernte, wie eine große Lehranstalt aufgebaut war und funktionieren konnte. Dafür war er ihr dankbar. Für ihn war sie wie Mutter und Vater, die er nie gehabt hatte, allerdings nur, was ihre Bereitschaft betraf, ihn zu führen, ihm seinen Weg und seine Grenzen zu zeigen und ihn etwas zu lehren. Privat hatte er ihr nie etwas anvertraut. Und nun, da sie ihm die Karte für den Ball schenkte, hatte er sie nicht enttäuschen wollen. Also hatte er sich an einen Freund gewandt, der in La Candelaria ein kleines Theater betrieb, sich einen Smoking ausgeliehen und sich von der Maskenbildnerin die Haare schneiden lassen.

Eine von Damiáns wesentlichen Charaktereigenschaften war seine absolute Furchtlosigkeit. Nichts und niemand konnte ihn einschüchtern. Auch kein Saal voller Herren in schwarzen Anzügen und Damen mit Schmuck, der mehr wert war, als er, Damián, jemals im Leben verdienen würde. Selbst wenn man ihn aufgefordert hätte, vor Menschen, die ihn auspfeifen und auslachen oder sich schweigend abwenden würden, eine Rede auf Englisch oder Deutsch zu halten, hätte ihn das nicht ins Schleudern gebracht. Es war ihm von jeher egal, was Menschen von ihm dachten, mit denen er nicht verwandt oder befreundet war.

Und dann kam ich und lehrte ihn das Fürchten.

»Da standest du unter den funkelnden Kronleuchtern zwischen deinen Eltern, in diesem wunderschönen Kleid, das so anders war als das der anderen Mädchen, und ich wünschte, im Erdboden versinken zu können.«

»Aber wieso denn?«, fragte ich verwundert.

»Ja, hast du es denn immer noch nicht verstanden, Jasmin? Vom ersten Augenblick an hatte ich Angst vor den Konsequenzen, die meine Gefühle haben würden, nicht so sehr für mich als vielmehr für dich. Für dich bin ich die Katastrophe!«

»Nein, gar nicht!«, sagte ich. »Hör auf mit dem Unsinn. Du bist nicht für alles allein verantwortlich. Ich habe auch einen Anteil daran! Ich wollte es! Ich will es, Damián!«

Seine Augen funkelten, sein Griff um meine Hand wurde fest. Seine Lippen öffneten sich. Ich sah einem Mann ins Gesicht, der mich begehrte, der mich in Besitz nehmen wollte und sich doch unter Aufbietung all seiner Kräfte beherrschte. Er schloss die Augen und ließ sich wieder gegen das Kissen fallen.

»Du hast recht, Jasmin«, stöhnte er. »Als ich dich in den Ballsaal treten sah, in dem Kleid in unseren Farben, denen der Indígenas, da wusste ich plötzlich, ich hatte mich in dir getäuscht. Du hast nicht die Vorurteile – und seien sie auch noch so verborgen und unbewusst –, die die anderen Mädchen in ihren amerikanischen Ballkleidern haben.«

In diesem Moment war Damián bereit gewesen, alles, was er bis dahin gewollt und so leidenschaftlich angestrebt hatte, über Bord zu werfen und mir sein Herz zu Füßen zu legen. Die oder keine! Bis ans Ende der Welt wollte er mir folgen. Es gab nur noch ein Leben, das mit mir. Und wenn es ihn sein eigenes gekostet hätte!

Er hatte sich gerade von der hinteren Ecke des Saals auf den Weg gemacht, um mir und meinen Eltern entgegenzutreten und sich vorzustellen, da goss mir diese unselige Kellnerin den Inhalt der Gläser auf ihrem Tablett übers Kleid.

Gleich darauf holte ihn seine Wirklichkeit ein. Unter der Schar der Kellner entdeckte er einen Burschen, den er kannte und der sich aus seinen Augen zu schleichen versuchte. Es war einer von Don Antonios Leuten, einer seiner besonderen Freunde. Und der gehörte eindeutig nicht nach Bogotá und schon gar nicht in das Heer der Kellner, die im Bolívar-Hochhaus vermögende und bedeutende Gäste betreuten.

»Das war der Kellner, mit dem du dich im Treppenhaus bei den Toiletten gestritten hast«, erinnerte ich mich.

Damián nickte. »Ich hatte ihn mir gegriffen und von ihm verlangt, dass er mir erklärte, was er hier suchte. Er bestritt erst, der zu sein, für den ich ihn hielt, dann behauptete er, er gehöre nicht mehr zu Antonios Guerilleros und arbeite schon seit einiger Zeit in Bogotá. Dabei wurde er immer nervöser. Er hatte Angst.«

»Was kann er denn gewollt haben?«, fragte ich.

»Immerhin hatte Präsident Uribe sein Kommen angesagt.«

»Aber er kann doch nicht vorgehabt haben, ein Attentat zu begehen! Er alleine!«

»Unwahrscheinlich. Aber schon, wenn er nur ein paar Kreditkarten und Brieftaschen geklaut hätte, wäre es für deren Besitzer gefährlich geworden. Wenn man jemanden entführen will, ist es gut, wenn man weiß, wo er wohnt und arbeitet. Und auf so einem Ball kann man sich wunderbar einen Überblick verschaffen, welche Frau teuren Schmuck trägt und bei wem es sich lohnt, das Töchterchen oder den Sohn zu entführen. Das habe ich ihm auf den Kopf zugesagt. Daraufhin hat er mich beschimpft. Die Tage meines Onkels Tano seien gezählt, auch für mich sei es besser, wenn ich schleunigst Bogotá verließe.«

»Darauf hast du ihm gedroht, er solle auf seine Mutter und seine Schwestern achtgeben.«

Damián lächelte schief. »Ich habe mich hinreißen lassen. Dich hat es erschreckt, nicht wahr?«

Er selbst war nicht weniger erschrocken gewesen, als er sich umgedreht hatte und mich in der Tür der Damentoilette stehen sah, ernst und mit großen Augen. Er hatte sich augenblicklich für den wüsten Wortwechsel, dessen Zeugin ich geworden war, geschämt. Und noch schlimmer: Angst hatte ihn urplötzlich überfallen, echte, bohrende Angst. Nicht um sich selbst, sondern um mich. Was würde er mir antun, wenn er mich an seine Seite zog? In was für eine Welt würde er mich führen? Er konnte mich ja nicht einfach schnappen und mit mir das Land verlassen. Und solange er hier war, war er Teil von Onkel Tanos und Don Antonios Fehde. Als Tanos Neffe war er stets in Gefahr, entweder selbst Opfer einer Gewalttat zu werden oder mitansehen zu müssen, wie seine Schwester Clara oder seine Cousinen Ana und Alejandra einem sinnlosen Gemetzel aus Rache oder Rivalität zum Opfer fielen. Eben gerade hatte er selbst dem falschen Kellner und seiner Familie genau das angedroht. Er, Damián, der bisher keine Furcht gekannt hatte, weil er sich auf sein Talent und seine Kraft verlassen zu können meinte, verstand auf einmal, wie verletzlich er sein würde, wenn er liebte. Schlagartig erkannte er, dass er mir niemals würde näherkommen dürfen als in diesem Moment. Niemals durften unsere Unterhaltungen die Grenze des Konventionellen überschreiten, mehr als ein Händedruck war nicht erlaubt.

»Ich glaube, ich habe ziemlich herumgestottert«, bemerkte Damián leise.

»Ich aber auch«, lächelte ich. »Du hast mich auf Englisch angesprochen.«

»Und du hast die ganze Zeit fieberhaft überlegt, was ich auf dem Ball mache. Ob ich nicht vielleicht ein Spion der FARC wäre.«

»Daraufhin hast du mir vorgeworfen, wir würden euch Indios alle für Diebe halten.«

Damián lachte peinlich berührt und zog halb bewusst mit dem Finger die Linien meiner Handknochen nach. »Nichts von dem habe ich so gemeint, Jasmin. Ich wusste nicht, was ich sagte. Du hast mich völlig durcheinandergebracht.«

Er hatte mir danach ernsthaft aus dem Weg gehen wollen. Deshalb hatte er sich im Speisesaal aufgehalten, wo nach dem Essen die Zahl der Menschen überschaubar war. Doch Claudia Aldana, die Rektorin, hatte ihn entdeckt, die noch bei meinem Vater am Tisch saß, und ihn herbeigerufen. Er hatte sich eine Weile mit meinem Vater unterhalten und sich gefragt, wie es wohl wäre, meinen Vater zum Schwiegervater zu haben. Er hatte sich von ihm mit freundlicher Unbefangenheit und Respekt behandelt gefühlt. So als sei es nicht weiter verwunderlich, wenn ein Indio aus dem Cauca plane, eine Universität zu gründen.

Um mir nicht im Tanzsaal, an der Bar oder im Tearoom über den Weg zu laufen, hatte er sich dann entschlossen, mit dem Chef der Catering-Firma zu klären, wie lange Don Antonios Mann schon in dessen Diensten stand und in welchen Häusern er bereits gewesen war, und hatte sich zur Küche begeben. Doch es war vertrackt: Dort stand ich schon wieder und fragte eine Kellnerin nach einer anderen – nämlich jener Manuela, die mir die Getränke aufs Kleid geschüttet hatte –, um zu verhindern, dass sie entlassen wurde.

Das rührte ihn. Es erinnerte ihn ein bisschen an die deutsche Lehrerin, die seinem Onkel Tano zugesetzt hatte, damit er Clara in die Stadt auf ein richtiges Gymnasium schickte. Das Gute wollen, ohne die Verhältnisse zu kennen und zu wissen, wo man wirklich ansetzen musste, um Erfolg zu haben, das war so typisch für all die Fremden, die in sein Land kamen. Aber immerhin, es war anständig von mir, nobel! Es beruhigte ihn sogar ein wenig in dem ganzen Wirrwarr seiner Erregung und Verzweiflung, dass er sich in keine egoistische Luxustussi verguckt hatte, sondern in eine, die sich um eine Kellnerin Sorgen machte. Wenn es auch naiv war, was ich tat. Denn Manuela war längst nach Hause geschickt worden, und ich konnte ihr nicht mehr helfen, es sei denn, ich wäre ihr in die Stadtteile gefolgt, wo Weiße normalerweise Angst hatten.

Plötzlich fiel ihm auf, wie jung ich war. Wenn ich in die elfte Klasse ging, war ich gerade mal sechzehn Jahre alt. Für eine Indígena wäre das alt genug gewesen, um zu heiraten und Kinder zu kriegen, aber europäische Mädchen genossen in diesem Alter noch das Privileg der Jugend, und man verzieh ihnen nicht nur die Fehler, die sie aus Unerfahrenheit begingen, man beschützte sie auch.

Der Gedanke an meine Minderjährigkeit verflog allerdings, kaum hatte ich mich umgedreht und ihn erkannt, kaum sah er mein helles Gesicht, das schimmernde Maisblütenblond meiner Haare und meine zwei großen blauen Augen, die ihn erschrocken anblickten und im nächsten Moment schon aufleuchteten und strahlten. Ich fiel, als die Kellner vorbeirannten, gegen ihn, er spürte meine weiche Weiblichkeit an seiner Brust, atmete tief meinen Duft ein und war verloren.

Nun gab es nur noch ein Ziel für ihn: mich in seinen Armen halten. So sehr war er in diesem Augenblick Mann, dass er nicht für sich hätte garantieren wollen, ob er, wenn ich willens gewesen wäre, noch hätte an sich halten können. Ein Glück, dass wir uns unter Massen von Menschen befanden. Mich vom Ball und aus dem Haus zu entführen, war unmöglich, es sei denn, er hätte sich dem ernsten Verdacht aussetzen wollen, es auf ein weißes Mädchen abgesehen zu haben, auf seine Unschuld oder das Geld seiner Eltern. So hatte er nur die Möglichkeit gesehen, mir im obersten Stockwerk des Bolívar-Hochhauses einen schöneren Ausblick auf die Stadt zu versprechen, in der vagen Hoffnung, wir würden dort alleine sein. Er war fast erleichtert gewesen, dass wir es nicht waren.

Von einem Kuss hatte er sich nicht abhalten können, und es hatte ihn fast verrückt gemacht, mich so zu lieben und mir im nächsten Moment doch sagen zu müssen, wer er wirklich war und dass es für uns beide keine Zukunft gab. So war er wiederum erleichtert gewesen, sofern man das bei seinem Gefühlszustand überhaupt sagen konnte, als Elena mit ihrem und meinem Vater und John anrückte. Auch wenn es ihn schmerzte, mich mit ihnen ziehen zu lassen.

»Du hast mich regelrecht fortgeschickt zu ihr!«, widersprach ich.

Es war ihm nichts anderes übrig geblieben. Es wäre fatal gewesen, wenn man uns hinter der Stellwand der Cafeteria erwischt hätte. Außerdem hatte ich so gezappelt in seinen Armen, war so verlegen und unruhig gewesen, als hätte ich mich auf einmal geschämt, von Elena mit einem Indio erwischt zu werden. Doch zu allem Unglück hatte, als er sich davonschleichen wollte, mein Vater ihn entdeckt, erkannt und zu sich gerufen, und er war so verpeilt gewesen, dass er gegen alle Regeln des indianischen Friedensstifters und Politikers versucht hatte, den Großen Guaquero zu provozieren.

In seiner Bitterkeit hatte er ihm vorgehalten, die Nasas um ihr Land und die Ausbeute der Smaragdmine betrogen zu haben. Das war nicht klug gewesen und überhaupt nicht diplomatisch. Aber als zu krass hatte er in diesem Moment den Gegensatz zwischen dem Dollar-Milliardär, seiner Tochter, dem lächelnden deutschen Arzt und mir auf der einen Seite und sich selbst, dem Indio im Smoking, auf der anderen Seite empfunden. Er war nur Gast in dieser Welt und würde nur geduldet werden, wenn er sich benahm. Kritik an Leandro Perea gehörte nicht dazu.

Mit dem Gefühl, sich an diesem Abend auf ganzer Linie falsch verhalten zu haben, war er geflohen. Er hatte mich wider besseres Wissen in den Armen gehalten und eine Sekunde später zurückgestoßen, er hatte Front gegen einen der reichsten Männer von Kolumbien gemacht, statt ihn als Geldgeber für Bildungsprojekte im Cauca zu gewinnen, und als Elena ihn als Dieb bezeichnete, war er davongelaufen.

Zu Fuß ging er nach La Candelaria, um im Theater seines Freundes den Smoking loszuwerden. Dann machte er sich, wieder zu Fuß – denn das Moped war ihm am Morgen dieses Tages verreckt –, auf den langen Weg zum Haus seiner Großmutter am Waldrand im Nordosten der Stadt. Während er durchs nächtliche Bogotá lief, versuchte er seine Gedanken und Gefühle zu ordnen. Er beschloss, das Praktikum im Colegio Bogotano abzubrechen, denn nur so konnte er weitere Begegnungen mit mir vermeiden. Vor allem musste er den Job als Gärtner bei unserer Hausverwaltung kündigen.

Um mir auch ganz gewiss nirgendwo über den Weg zu laufen in dieser Millionenstadt, ließ er sich von seinen Uniprofessoren für den Rest des Semesters wegen einer wichtigen familiären Angelegenheit beurlauben und fuhr, nachdem er sein Moped repariert hatte, nach Popayán, wo er im CRIC Rocío helfen und sich bei der Organisation des festlichen Jahrestreffens der Indígenas des Cauca nützlich machen konnte. Außerdem ging es Clara wieder einmal schlechter als sonst, und Onkel Tanos Fehde mit Don Antonio hatte ein solches Ausmaß an Feindseligkeit erreicht, dass Damián sich erstmals als Vermittler anbot.

Aber wie das oft der Fall war innerhalb einer Familie: Damiáns friedensstiftende Kräfte versagten bei seinem Onkel, genauso wie Großmutter Juanitas heilende Kräfte bei Clara nicht wirkten. Je mehr Damián in Tano drang, um der Einheit der Indígenas willen seine Fehde mit Antonio zu begraben, desto leidenschaftlicher wurden Tanos Hassreden und Racheschwüre dem ehemaligen Kampfgenossen gegenüber. Er ging sogar so weit, von Damián ein klares Bekenntnis zu ihm, Tano, und seiner Familie zu verlangen. Andernfalls wolle er ihn nicht mehr sehen. Clara zuliebe ließ Damián es nicht auf eine Konfrontation ankommen.

»Aber warum hasst dein Onkel diesen Antonio so?«, fragte ich.

»Tano ist besessen von der Idee des Kampfs«, sagte Damián. »Tano und Antonio waren einst Waffenbrüder in den Zeiten, als das Drogenkartell von Medellín und die FARC um die Macht in den Provinzen kämpften und überall Kämpfer rekrutierten. Sie gehörten einer kleinen Guerilla-Einheit an, die Dörfer überfiel, Menschen entführte, Kokainküchen unterhielt und den Kokabauern und der Landbevölkerung gegenüber die Wohltäter spielten. Ihre Freundschaft hielt auch noch an, als die Zeiten der Waffengänge vorbei waren. Doch vor gut drei Jahren änderte sich das plötzlich. Seitdem nennt Tano seinen ehemaligen Freund einen geldgierigen Hurensohn und Antonio spricht von Tano nur noch als dem blutrünstigen Metzger.«

»Was ist passiert?«

»Nun ja, sie haben sich über die Strategie zerstritten. Tano wollte den politischen Kampf gegen die Terratenientes, die Großgrundbesitzer, er wollte Attentate verüben, Antonio dagegen hatte genug vom Töten, er wollte vor allem Beute machen.«

Im Gegensatz zu Tano, fuhr Damián fort, war Antonio bei den Leuten in den Bergen beliebt, weil er und seine Leute Lastwagen kaperten und die Ware verteilten. Tano dagegen focht seinen eigenen revolutionären Kampf gegen die Macht der Weißen, was den Bauern in den Bergen weniger gut gefiel, denn er erwartete von ihnen, dass sie Militärposten beschossen, statt Lastwagen auszuplündern.

»Vor drei Jahren wurde doch auch Susanne Schuster entführt?«, bemerkte ich.

Damián blickte zu mir herüber. »Und?«

»Vielleicht haben sich Tano und Antonio darüber zerstritten. Könnte das nicht sein?«

»Nein!«, antwortete Damián knapp.

»Aber Clara glaubt ...«

»Sie hat mit dir darüber gesprochen?«

Ich spürte seine Anspannung und hatte plötzlich ein ganz vertracktes Gefühl. Würde Damián mir jemals die volle Wahrheit erzählen?, fragte ich mich. Ich versuchte den Gedanken zu vertreiben. Ich schämte mich sogar meiner Zweifel. Aber sie waren da.

»Was hat sie dir erzählt?«, fragte Damián.

»Nicht viel. Eigentlich nichts. Sie glaubt, dass dein Onkel Tano Susanne entführt hat.«

Ich verschwieg das entscheidende Detail, nämlich dass Clara überzeugt war, den Aufenthaltsort von Susanne Schuster zu kennen, und dass ich versucht hatte herauszubekommen, wo er lag. Vielleicht hätte ich das noch gesagt, hätte Damián mich nicht mitten in meinen Überlegungen unterbrochen.

»Ja«, sagte er, »Clara glaubt sogar, Tano habe die Deutsche entführt, um sie ihr wegzunehmen.«

»Stimmt das?«

Damián blickte mich an. Sein Atem ging nicht mehr so ruhig wie bisher. Er schluckte. »Tano hat mit Susanne Schusters Entführung zu tun, das stimmt. Aber er war es nicht allein. Sie hat viele hier in der Gegend gestört. Sie hat sich in alles eingemischt. Nicht nur, dass sie die Mädchen gegen ihre Familien aufgehetzt hat ...«

»Aber das ist doch kein Grund!«

»Es war auch nicht der Grund. Aber ...« Er stockte. »Verschieben wir das Thema. Lass mich zu Ende erzählen, ja?«

Kurz nachdem er aus Bogotá nach Popayán geflüchtet war, bekam Damián von seiner Großmutter Juanita einen Brief, den sie ans Büro des CRIC adressiert hatte. Damián wunderte sich ziemlich, denn Juanita mochte das geschriebene Wort nicht. Noch nie hatte er von ihr einen Brief erhalten. Ein- oder zweimal hatte sie bei seinem Onkel Gustavo im Laden in der Calle Sexta angerufen. Aber sie musste zum Telefonieren zur Nachbarin und man konnte sie nicht zurückrufen. Damián entfaltete den Brief und wusste augenblicklich, warum Juanita ihm das nicht über seinen Onkel Gustavo hatte ausrichten lassen wollen, sondern zu Papier und Bleistift gegriffen hatte. Das Blatt mit der ungeübten Handschrift begann in seiner Hand zu zittern.

»La virgen me visitó«, begann der Brief. »Die Jungfrau hat mich besucht.«

Ich schnaubte. Dieser Titel hatte mich schon damals geärgert.

Damián lächelte. »Stimmt es denn?«, fragte er.

»Was meinst du?«, fragte ich ärgerlich zurück. »Dass ich sie besucht habe?«

»Nein, dass du noch Jungfrau bist.«

»Wenn Juanita es sagt!«

Er lachte leise.

Aber mir war es total peinlich. Ich kam mir wieder kindlich und unerfahren vor. Wahrscheinlich würde Damián jetzt nie mehr tun, als meine Hand zu halten und mich zu küssen, vor lauter Respekt vor meiner Jungfräulichkeit. Und er würde mich nie wirklich ernst nehmen. Er würde mich wegschicken wie ein Kind, hinaus in eine andere Zukunft ohne ihn, in der, wie er meinte, ein anderer Mann mich lieben und heiraten würde, und zwar unbefleckt!

Scheiße war das!

Ich dachte an das Kondom, das mir Felicity Melroy zugesteckt hatte. Es musste noch irgendwo in einer Tasche meiner Jacke stecken. Wenn ich jetzt einfach ...

Nein, einfach war es nicht. Ich zögerte. Einfach die Gesten imitieren, die Frauen in den Fernsehserien und Liebesfilmen machten, wenn sie einen Mann rumkriegen wollten, das konnte ich nicht. Es wäre mir billig und verlogen vorgekommen. Damián war kein Mann, den man einfach so verführte und vernaschte, damit man Macht über ihn gewann. Es wäre ihm gegenüber unfair gewesen.

»Was ist?«, fragte er.

»Nichts.«

Er zog mich an sich und flüsterte mir ins Ohr: »Möchtest du?«

Ich konnte nur hoffen, dass er das meinte, woran ich gerade so intensiv dachte, und nickte. Ich spürte seinen Atem an meinem Hals und seine Lippen an einer empfindlichen Stelle unterhalb meines Ohrläppchens. Die Härchen stellten sich auf an meinen Armen. Es war erregender und schöner, als ich es mir je vorgestellt hatte, eine wahnwitzige Vorfreude zuckte in mir. Es war irre! Er drehte mein Gesicht zu sich und küsste mich. Und zum ersten Mal spürte ich seine Hand an meiner Brust. Ein bisschen erschreckte es mich doch: der Ernst, die Begierde in dieser Berührung. Vielleicht zuckte ich. Denn er löste sich von mir.

»Du weißt nicht, worauf du dich einlässt«, sagte er kaum hörbar.

»Ich weiß sehr wohl ...«

»Scht, Jasmin. Du weißt noch lange nicht alles über mich, was du wissen musst, um dich richtig zu entscheiden.«

Nichts wollte ich in diesem Moment weniger, als mich richtig entscheiden. Aber Damián war unerbittlich. Mit seiner ruhigen Stimme fuhr er leise fort zu erzählen.

Wortwörtlich hatte seine Großmutter in ihrem Brief zitiert, was ich ihr zum Schluss des Gesprächs, den Tränen nahe, erklärt hatte. Ich hätte wissen wollen, was er nach unserem Kuss auf dem Ball hatte sagen wollen, aber nicht gesagt hatte. Jetzt wisse ich es. Er könne sich nicht mit mir abgeben. Er habe andere, wichtigere Ziele. Sie, Juanita, könne ihm sagen, das hätte ich jetzt verstanden. Ich würde ihn nicht weiter belästigen.

Damián hatte, als er das las, an seinem Schreibtisch im Büro des CRIC zwischen Stapeln von Papier, Plakaten und Pamphleten gesessen und war tief betroffen gewesen. Einerseits beruhigte es ihn, zu erfahren, dass ich offenbar zumindest halbwegs verstanden hatte, warum er sich davongemacht hatte, andererseits spürte er, mehr als ihm lieb war, dass es auch mir nicht gut ging. Er war nicht der Einzige, der ins Schlingern gekommen war. Auch ich musste ziemlich durcheinander sein, dachte er sich, wenn ich zu seiner Mama Lula hinausgefahren war, ganz offensichtlich in der Hoffnung, ihn, Damián, dort zu finden. So etwas tat ein Mädchen aus gutem Hause nicht, hatte er in seiner Zeit am Colegio gelernt, sie lief keinem Jungen hinterher, sie wartete auf seinen Anruf. Und wenn sie es doch tat, dann war es mehr als ein Flirt. Dann war es ihr ernst.

Viel weniger, als ich dachte, hatte er tatsächlich abschätzen können, wie ich zu ihm stand. Wir hatten nicht gerade viel miteinander geredet, er hatte keinen blassen Schimmer, wie ich wirklich tickte. In seinen Augen folgte mein Leben völlig anderen, ihm völlig fremden Regeln.

Er stellte sich mein Verhältnis zu meinen Eltern eng und liebevoll vor, so freundlich, wie ihm mein Vater begegnet war. Er glaubte, dass ich meinen Eltern vollständig vertraute und gehorchte und dass ich zögern würde, mich auf einen wilden Gesellen wie ihn einzulassen. Er hatte die Vorstellung, er müsse über viele Wochen hinweg artige Besuche bei meinen Eltern abstatten und sich ihnen als fleißiger Student präsentieren, ehe er die Erlaubnis bekam, einmal mit mir auszugehen oder sich von mir mit auf mein Zimmer nehmen zu lassen. So war das seiner Vorstellung nach in den vom spanischen Katholizismus geprägten Familien der Reichen und Schönen üblich, so hatte er es in amerikanischen Filmen gesehen. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass ich sonderlich viele Gedanken an ihn verschwendete, den unglücklichen Indianer, der mich in eine peinliche Lage gebracht und mir den Ball verdorben hatte.

Doch nun schrieb ihm Juanita, dass ich bei ihr gewesen war und nach ihm gefragt hatte und dass ich, als sie mir mitteilte, er sei weggegangen, betroffen und traurig ausgesehen hätte und schließlich wütend die Worte gesprochen hätte, die sie zitierte. Juanitas Brief endete mit einer Lebensweisheit aus den Legenden der Nasas, die da lautete: »Wenn du eine Frau liebst, die in einem fremden Haus lebt, dann entfache einen Krieg oder fahre für immer nach Hause.«

»Was heißt das?«, fragte ich.

»Sie wollte damit sagen, dass in der Liebe die Unentschiedenheit ins Verderben führt. Entweder ich kämpfe oder ich verzichte. Ein Zwischending gibt es nicht. Oder anders gesagt: Sie wollte mich davor warnen, wieder nach Bogotá zurückzukommen.«

»Und daran hast du dich gehalten.«

Er schaute mich ernst an. »Ja. Ich hatte mich entschieden.«

Für einen Moment war es still im Zimmer. Das erste Licht des Morgengrauens deutete sich im Fensterviereck an.

Der Ruf des Kolibris
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