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Der Himmel war blau. Die Gipfel sahen aus, als hätte man ein Tuch aus samtigem Laub über sie geworfen. Die Ausgrabungsstätten von Tierradentro lagen nicht weit von San Andrés de Pisimbalá in einem ruhigen offenen Gelände. Hier und dort wuchsen geheimnisvolle steinerne Pfosten aus dem Boden, in denen man Arme, Beine und Köpfe erkannte, Gnome, die Wache zu halten schienen. Die Gräber befanden sich an Orten, die Loma de Segovia, Alto del Duende oder El Tablón hießen – Bergrücken von Segovia, Koboldhöhe oder Tafel. Manche Schächte waren bis zu sieben Meter in den Berg getrieben und besaßen zahlreiche Kammern, in denen einst die Urnen der Toten gestanden hatten. Die Wände waren weiß gefärbt und mit roten und schwarzen Mustern, geometrischen Fratzen und unverständlichen Zeichen bemalt.

»Als im sechzehnten Jahrhundert die spanische Eroberung begann«, erklärte uns der einheimische Fremdenführer, ein Nasa, »lebten hier die Páez oder Nasas, die damals im Krieg lagen mit ihren nördlichen Nachbarn, den Pijaos, und im Süden mit den Völkern der Yalcones und Timanaes. Doch nun verbündeten sich diese Gruppen, um den Spaniern entgegenzutreten. Die Kämpfe dauerten fast ein Jahrhundert und nur die Nasas überlebten. Die Eroberer fürchteten sie als wilde Krieger, die mit Lanzen, Pfeil und Bogen und Knüppeln kämpften.«

Der einheimische Führer machte seine Sache gut. Es war nicht nötig, dass ich Mrs Melroy irgendetwas über die Kultur der Nasas erzählte. Ich konnte mich ganz darauf konzentrieren, meine Fassung zu wahren.

Wir hatten uns nicht einmal mehr geküsst, Damián und ich, als Felicity noch einmal geklopft hatte, um mich zum Frühstück abzuholen. Wir hatten uns nur angeschaut, wie erschlagen von der Wahrheit, die uns für immer trennen würde. Weder er noch ich hatten die Hand heben können für eine letzte Berührung. Er hatte es gewollt, ich auch, aber etwas hatte uns gestoppt, eine Zange, in der wir steckten und aus der wir nicht herausfanden. Nicht in der kurzen Zeit.

Felicity hatte an die Tür geklopft, Damián hatte sich in die Ecke hinter die Tür gedrückt. Keine Sekunde zu früh, denn Felicity hatte sie geöffnet und hereingeschaut, lächelnd, ausgeschlafen, unternehmungslustig, frisch frisiert und geschminkt. Ich war, bevor sie womöglich ganz hereintrat und Damián entdeckte, auf sie zugestürzt – in Jacke und festen Schuhen, die ich die ganze Nacht nicht abgelegt hatte –, hatte sie auf den Gang gedrängt und die Tür zugezogen, ohne Damián noch einmal einen Blick zuwerfen zu können.

Er hatte mir die Frage nicht mehr beantwortet, ob wir uns am Abend wiedersehen würden. Durfte es so enden? Ganz ruhig!, sagte ich mir. Wir konnten uns auch in Bogotá treffen. Es musste nicht heute Abend hier sein.

Aber würde er mir die Erklärung wirklich noch liefern, was ihn vor drei Jahren als Siebzehnjährigen bewogen hatte, den Handlanger für seinen Onkel Tano bei einer Entführung zu spielen? War nicht eigentlich alles gesagt? Würde er, unter dem Eindruck meiner blauäugigen Forderung, alles wiedergutzumachen, jetzt doch schnurstracks zur Polizei gehen, den Helden spielen und mir zuliebe Tano und den Aufenthaltsort der Geisel verraten? O Gott! Würde es dann wirklich zu diesem Gemetzel an seiner Familie kommen, das er befürchtete?

Mir war richtig schlecht vor Angst. Zum Frühstück brachte ich jedenfalls keinen Bissen herunter. Benommen stolperte ich danach mit der Gruppe mit. In Gräber hinein, aus ihnen heraus. Ins Museum, in die kleine weiße Indianerkirche.

Ich musste Damián sagen, dass er den Aufenthaltsort der Geisel niemandem zu verraten brauchte. Das konnte ich tun. Ich gehörte nicht dazu. Mich würde das Militär nicht in die Mangel nehmen, mich würde die Organisation nicht für den Verrat bestrafen. Ich würde Polizeischutz bekommen oder zur Not mit meinen Eltern das Land verlassen können.

Aber würde ihn das retten? Ich würde natürlich Fragen beantworten müssen. Zwar konnte ich wie schon dem Professor gegenüber behaupten, ich hätte jemanden bei Yat Wala vom Schwarzen Wasser reden hören, wo sich die Geisel befinden solle. Doch damit wären Damián und Clara nicht wirklich außen vor. Man würde bald wissen, dass mein Vater Clara Dagua behandelte. Man würde ahnen, woher ich meine Informationen tatsächlich hatte. Man würde nach Damián fahnden, das Militär würde Tano verfolgen, die Organisation würde Verrat wittern und alle töten. Vielleicht sogar auch mich!

Der Gedanke beruhigte mich plötzlich, so absurd das klingen mag. Es war fast leichter zu ertragen, wenn wir beide starben. Damián hatte recht gehabt. Ich würde immer Angst haben müssen, dass er getötet würde und ich übrig blieb. Für uns beide gab es keine Zukunft. Ich musste die Zähne zusammenbeißen, bis mir der Kiefer wehtat, um nicht loszuheulen. Noch vor ein paar Stunden war ich voller Mut und Gewissheit gewesen, dass ich niemals zu demselben Schluss kommen würde wie er! Wie naiv war ich gewesen, wie blauäugig.

»Habe ich dich heute Morgen irgendwie gestört?«, erkundigte sich Felicity unvermittelt, als wir einen steinigen Weg durch das hellgrüne feuchte Tal gingen.

Ich brachte keinen Ton heraus, versuchte aber, den Kopf zu schütteln.

»Na, es war nur so ein Eindruck. Jedenfalls läufst du jetzt neben mir her wie ein Zombie.«

»Ich habe schlecht geschlafen.«

Sie musterte mich von der Seite. »Weißt du, als ich noch jung und hübsch war, war ich mal mit einem Schwarzen liiert. Er kam aus dem Kongo. Wir haben uns sehr geliebt. Er war wunderschön und ... gut im Bett!« Sie lachte. »Wir waren vier Jahre zusammen. Tja, was soll ich sagen? Es passte nicht. Er ging abends gern aus, sich mit seinen Kumpels im Pub treffen. Da wollte er mich nicht dabeihaben. In seiner Welt ging ein Mann alleine aus, während die Frau zu Hause in der Hütte auf ihn wartete. Wir haben nächtelang diskutiert, dann gestritten. Alleine losziehen war seine Idee von Entspannung. Meine nicht. Wir haben keine Lösung gefunden.«

Ich begann zuzuhören.

»Du denkst an nichts anderes als an Damián. Hab ich recht? Reden deine Eltern mit dir eigentlich über ihre Erfahrungen mit der Liebe, über ihre Irrtümer und Probleme? Vermutlich nicht. Die meisten Eltern meinen, ihre Kinder müssten nicht unbedingt wissen, dass es noch andere Männer und Frauen in ihrem Leben gab, vielleicht sogar die ganz große Liebe, aus der nichts geworden ist.«

Ich erschrak unwillkürlich. Hatte mein Vater vor meiner Mutter eine andere geliebt, vielleicht sogar noch mehr als meine Mutter? Und wie konnte er damit leben?

»Warum wollen sie nicht, dass wir das wissen?«, fragte ich.

»Ich habe keine Kinder, deshalb weiß ich es nicht so genau, Jasmin«, antwortete Felicity. »Aber sicher wollen Eltern ihre Kinder nicht verletzen.«

»Wieso verletzen?«

»Würde es dich nicht verletzen, wenn du erfahren würdest, dass deine Mutter einen anderen Mann viel mehr geliebt hat als deinen Vater und dass sie ihn nur geheiratet hat, weil sie mit dir schwanger war? Und dass du nicht geplant warst?«

Ich überlegte. »Manchmal glaube ich wirklich, dass ich nicht erwünscht war.«

»Oje!«, sagte Felicity. »Das musst du nicht denken. Kinder sind vielleicht manchmal nicht geplant, aber wenn sie da sind, werden sie heiß und innig geliebt. Im Leben kommt es oft anders, als man denkt, und das ist meistens keine Katastrophe, sondern ein Segen.«

»Hm.«

»Jedenfalls«, fuhr die Britin energisch fort, »haben wir – mein schwarzer Lover und ich – damals auch gedacht: Unsere Liebe überwindet alle Hindernisse. Warum soll das nicht gehen mit uns beiden, auch wenn die Verwandten den Kopf schüttelten?«

»Wenn man es nicht ausprobiert, dann kann man es nicht wissen.«

»Richtig, mein Kind! Wir müssen alle unsere eigenen Erfahrungen machen. Du wirst nicht auf mich hören, wenn ich dir sage, dass es auch sehr wehtut, wenn eine Beziehung nach ein paar Jahren scheitert, so wie es alle vorhergesagt haben.«

»Soll man es darum lassen?«

»Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich nicht. Es könnte ja auch gut gehen. Vielleicht muss einfach jeder Mensch eine unglückliche Liebe auf seinem Lebenskonto haben. Sonst wird er nie wirklich erwachsen. Aber eines würde ich dir gerne sagen, und ich würde mir wünschen, dass du es wenigstens wohlwollend bedenkst ...«

Ich musste lachen über so viele vorsichtige Formulierungen. »Was denn?«

»Lass dir und ihm ein bisschen Zeit, Jasmin. Du bist noch jung. Du hast mehr Zeit, als du glaubst. Ihr jungen Leute wollt immer alles gleich entschieden haben, und wenn es heute nicht geht, geht es niemals mehr. Aber es muss nicht alles heute entschieden werden. Die Welt geht nicht unter, wenn ihr nicht gleich zusammenzieht und heiratet. Liebe muss sich entwickeln und bewähren. Es gibt Post, es gibt E-Mail und Telefone und es gibt Flugzeuge. Du kannst in zwei Jahren wiederkommen.«

»Das habe ich ihm ja vorhin auch gesagt, aber ...« Ich biss mir auf die Zunge.

Zu spät.

»So, so!«, bemerkte Felicity. »Also doch! Aber sei so gut und erzähl mir nichts. Ich möchte es nicht wissen. Sag mir nur, ob ich mich womöglich in neun Monaten vor deinen Eltern wegen meiner Vertrauensseligkeit werde rechtfertigen müssen.«

Mit den Fingern stieß ich in meiner Jackentasche unabsichtlich auf das viereckig eingeschweißte Kondom. »Nein!«, sagte ich. »Keine Sorge.«

»Gut. Aber was ich eigentlich sagen wollte, Jasmin: Wenn du befürchtest, dass dein Damián in zwei Jahren nicht mehr an dich denkt oder eine andere hat, dann ist es tatsächlich besser, wenn du ihn gleich vergisst.«

Ich nickte. »Schon klar.«

»Das klingt noch nicht sonderlich überzeugt, Jasmin.« Felicity hakte sich bei mir unter, denn die Steine waren rutschig. »Was ich sagen will: Irgendwann muss man seinen Verstand wieder einschalten und sich ehrlich ein paar Fragen beantworten.«

»Welche?«

»Zum Beispiel, ob du überall mit ihm leben könntest. Auch hier, in diesen Hütten.«

»Ja«, antwortete ich tapfer, »ich glaube, das könnte ich.«

»Und würde er auch mit dir nach Deutschland gehen?«

Ich schwieg.

»Ah, da steckt ein Problem! Das belastet dich insgeheim und es wird dich immer belasten. Ich sage dir, all diese kleinen Irritationen häufen sich mit der Zeit zu einem riesigen Berg an. Irgendwann hast du das Gefühl, du hättest dein Leben, deine Zukunft und deine Chancen für ihn aufgegeben. Wir Frauen geraten schnell auf diese Schiene! Irgendwann fragen wir uns: Was hat er eigentlich für uns aufgegeben? Und dann fangen wir an, uns über dumme Kleinigkeiten zu streiten. Über Zahnpastareste im Waschbecken und herumliegende Socken und solche Sachen.«

»Wir sicher nicht!«

Felicity lachte. Glücklicherweise hatte ihr Lachen keine Ähnlichkeit mit dem metallischen Spottgelächter meiner Mutter, wenn ich ihr mit solchen Sätzen widersprach.

»Also gut«, sagte die alte Dame freundlich und mitfühlend, »wenn alle vernünftigen Argumente nicht greifen und alles gesagt ist, dann muss es wohl so sein, dass man das Unmögliche versucht. Das ist der Vorteil, den ihr jungen Leute habt. Ihr seid noch nicht so oft gescheitert, ihr habt noch die frische Kraft des Idealismus und dazu ein blindes Selbstvertrauen. Was man wirklich will, erreicht man auch. Irgendwann! Es kostet Zeit, Jasmin, glaub mir! Irgendein Weg findet sich schon, nur ist es vielleicht ein anderer, als du jetzt denkst. Und was dir heute zu Ende erscheint, muss noch lange nicht zu Ende sein. Man sieht sich immer zweimal im Leben! Glaub mir.«

 

Irgendwie ging der Tag auch herum. In jedem Grabschacht, den wir betraten, in jedem Gasthaus, das wir aufsuchten, erwartete ich insgeheim, Damián in einem versteckten Winkel zu erblicken, darauf wartend, dass ich mich davonstehlen konnte, um unser Gespräch zu Ende zu führen.

Aber ich entdeckte ihn nirgendwo. Er befand sich nicht unter den Männern, die untätig auf den Straßen herumstanden, nicht unter den Museumswächtern, er war nicht unter den Musikern, die uns abends aufspielten, er war nicht unter den Kellnern. Er kam nicht, als ich mich frühzeitig auf mein Zimmer begab. Und er hatte ja recht. Was hatten wir in Wahrheit noch zu besprechen? Es war alles gesagt. Er hing in der Geiselnahme mit drin, und wenn er seine Leute ans Militär verriet, dann würden er und seine Familie sterben. Das waren die Gesetze in diesem fürchterlichen und zugleich so schönen Land.

Am anderen Morgen erwachte ich mit dem Gefühl, dass wieder etwas in meinem Leben unwiderruflich abgeschlossen war, tot, aus und vorbei. Es gab kein Zurück mehr, vorbei waren die Zeiten, wo ein Fleck auf meinem Ballkleid mich todunglücklich machte.

Der Ruf des Kolibris
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