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09

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Blitze zuckten über dem Süden der Stadt, der Donner hallte in den Bergen wider, die den Nordosten umgaben. Aber es schien die Sonne, als ich am Wald entlang bis zum blauen Tor mit den bemalten Pfosten eilte. Der schlammige Weg, der sich schmal den Hang hinaufschlängelte, lag verlassen. Das Tor ließ sich leicht öffnen.

Ganz wohl war mir nicht, als ich zwischen den Pfosten mit den geometrischen Fratzen hindurchtrat in eine andere Welt. Was würde hinter der letzten Biegung auf mich warten? Würde ich Damián sehen? Wie würde er reagieren? Verärgert oder erfreut? Vielleicht verletzte ich die Regeln des Anstands oder brach ein Tabu, wenn ich ihm als Mädchen hinterherlief. Angst flatterte mir durch den Magen. Am liebsten wäre ich umgekehrt, aber wer weiß, wann ich wieder die Gelegenheit haben würde, mich für zwei Stunden davonzustehlen aus dem Stundenplan und meinem Familienleben.

Nach ein paar Metern nahm mich der Wald vollständig in sich auf. Die Geräusche des Autoverkehrs verebbten. Vögel zwitscherten und pfiffen. Ich balancierte auf den Latten, die über die schlimmsten Schlammlöcher gelegt waren. Ich hörte meinen Atem. Das Herz schlug mir im Hals. Ich befand mich mitten im dunklen grünen Urwald.

Die Hütte, die man von unten nur erahnte, kam in mein Blickfeld. Sie war blau gestrichen, das Dach bestand aus graubraunem Laub, vermutlich von Bananenstauden, die meterdick gelegt waren. Überall standen Holzpfosten, die mit dreieckigen oder quadratischen Fratzen bemalt waren. Um manche schlangen sich Grünpflanzen, manche hatten sich geneigt. Eine unheimliche Magie ging von ihnen aus. Als ob sie das Haus bewachten, als ob sie jeden mit einem Fluch belegten, der sich weiterwagte.

Ich schüttelte mich unwillkürlich und dachte an Felicity Melroy, die sich auf dem Ball um mich gekümmert hatte. Nach ihrer Ansicht wirkte die Magie auf uns Europäer deshalb so stark, weil wir sie nicht gewohnt waren. Wir lebten ohne Zaubereien, wir fühlten uns normalerweise vor ihnen sicher. Aber hier im Wald am Rand von Bogotá in Kolumbien fühlte ich mich ganz und gar nicht mehr sicher. Vanessa hätte mich ausgelacht, hätte ich ihr davon erzählt. Es gibt keine Hexen. Niemand kann irgendjemanden verzaubern. Das sind Märchen. Mit Simon hatte ich mich einmal über unerklärliche Dinge unterhalten. Er war überzeugt, dass es mehr gab, als man mit wissenschaftlicher Logik erklären konnte. Ich hatte ihm beigepflichtet und gelacht. Das meiste von dem, was passierte, konnte ich sowieso nicht wissenschaftlich erklären, denn dazu fehlten mir die Kenntnisse in Physik oder Chemie oder welche man gerade brauchte. Und was heute unklar war, dafür würde die Menschheit in zwanzig Jahren eine wissenschaftliche Erklärung finden. Vielleicht gab es Vorahnungen und manche Menschen hatten ein besonderes Gespür für die Gedanken anderer, aber Zauberei mit Hokuspokus, das gab es nicht wirklich. Davon war ich überzeugt gewesen.

Jetzt war ich es nicht mehr.

Ich hatte mich der Hütte bis auf etwa zehn Meter genähert und blieb stehen, um zu Atem zu kommen. Immer noch geriet ich schnell außer Atem in der dünnen Luft von Bogotá. Die Haustür war geschlossen, die welligen Fensterscheiben in den winzigen Fenstern spiegelten die Düsternis des dichten Waldes. Es gab einen Brunnen, über dessen Rand Lappen hingen. Eimer und Besen standen säuberlich an der Hausecke. Ich hörte eine Ziege meckern. Hühner scharrten in der Erde. Es machte vermutlich viel Arbeit, die Fläche um das Haus herum immer von Unkraut frei zu halten.

Ich überlegte, ob ich rufen sollte.

Aber ich erinnerte mich daran, dass meine Tante Valentina, die zusammen mit meiner Mutter in einem kleinen Dorf am Bodensee aufgewachsen war, mir einmal erklärt hatte, dass nur Städter, wenn sie auf einen Bauernhof kamen, sofort an der Haustür klingelten oder »Hallo!« riefen. Echte Dörfler warteten höflich ab, bis der Bauer sie bemerkte und Zeit fand, herbeizukommen und zu fragen, was man wollte. Also beschloss ich, noch ein bisschen näher zu gehen und zu warten.

Als ich den Brunnen erreicht hatte, begann im Haus der kleine Hund zu kläffen. Spätestens jetzt musste die Alte mich bemerken. Ich schaute auf Simons Uhr. Ich hatte noch anderthalb Stunden. Ungeduld flackerte in mir hoch, aber ich schlug sie nieder. Der Kläffer im Haus verschluckte sich vor Zorn. Die Ziege hinterm Haus meckerte lauthals. Vögel kreischten und flatterten in den Bäumen. Es war, als fahre ein kalter Wind durch den Wald. Die Sonne verschwand.

Plötzlich hatte ich das Gefühl, dass ich hier nichts zu suchen hatte. Es war nicht meine Welt. Zum ersten Mal nagten in mir schäbige Zweifel, ob ich wirklich so überzeugt war, dass ich mit Damián überall würde leben wollen. So eine Hütte war nett anzusehen, malerisch und all das, aber wollte ich in dieser schlammigen Welt leben, ohne Wasser im Haus, dafür mit Pfützen davor?

War das meine Zukunft? Vermutlich nicht, denn Damián studierte ja, wollte in einer Indianerstadt des Cauca eine Universität gründen. Wir würden in einer ordentlichen Wohnung wohnen. Die Überlegung kam mir trotzdem wie Verrat an der Bedingungslosigkeit meiner Liebe vor. Aber musste ich wirklich überall mit ihm leben wollen, auch in einer Hütte im Urwald, wenn ich ihn wirklich liebte? Vielleicht hatte Damián genau das gemeint, als er sagte, es gehe nicht. Aber er hatte auch gesagt, er werde sich mit mir in Verbindung setzen, und hatte es nicht getan. Vielleicht hätte ich das akzeptieren sollen! Aber in mir protestierte alles dagegen, bei der geringsten Schwierigkeit aufzugeben. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg!

Ich hörte den Regen kommen. Er rauschte den Hang herauf, im nächsten Moment schon schlugen erste große Tropfen auf meine Schuluniform. Ich flüchtete unter das Dach der Hütte, das weit genug vorragte, um mir Schutz zu gewähren. Der kleine Hund fing wieder an zu kläffen.

Plötzlich stand sie vor mir, die Alte mit den langen silberdurchwirkten schwarzen Zöpfen, dem schwarzen Hut auf dem Kopf und dem bunten Rock unter einem blauen Poncho. Ich hatte sie nicht kommen sehen. An den dunklen Flecken auf ihren Schultern erkannte ich, dass auch sie aus dem Regen kam.

»Hola, Jasmin«, sagte sie.

»Hola, Juanita«, stotterte ich.

Sie lächelte mit blitzenden Goldzähnen. »Bist du doch gekommen? Pasa, komm herein. Der Kaffee ist fertig.«

Sie tippte die Haustür an, die nach innen aufging. Der kleine Kläffer schoss heraus und rannte an mir vorbei, den Waldweg zum Tor hinab, um zu bellen. Die Alte lachte. »El Tonto!«, sagte sie.

Das hieß »der Idiot«.

»Heißt er so?«

»Er hat eigentlich einmal ganz anders geheißen. Aber inzwischen heißt er so. Er hat sich den Namen redlich erworben.« Sie kicherte. »Willkommen, Jasmin.« Sie streckte mir eine rissige Hand hin. Sie fühlte sich warm und trocken an und etwas rau. »Und nun komm herein.«

»Ich wollte nur was fragen«, sagte ich hastig.

»Ja?« Ihre pechschwarzen Augen glitzerten tief in den Höhlen, ein Strahlenkranz aus Lachfalten milderte die durchdringende Schärfe ihres Blicks. Sie war zwei Köpfe kleiner als ich und musste zu mir aufblicken. Aber mir kam es eher so vor, als blicke sie auf mich herab. »Was willst du mich fragen?«

»Ich habe ... äh ... kennen ... kennen Sie Damián Dagua?«, platzte es schließlich aus mir heraus.

»Das ist mein Enkel.«

»Ist er ...« Mir stockte die Stimme. »Ist er hier?«

Die Alte lächelte über beide Backen. Ihr Gesicht versank in Lachfalten und sie begann leise zu lachen. Es klang mütterlich und mitfühlend, wissend und amüsiert. Ich kam mir ertappt vor. Zweifellos durchschaute sie mich bis auf den Grund meiner Nöte, Gefühle und unglücklichen Verwirrung. Aber es war mir egal. Es war mir sogar recht. Da brauchte ich mich nicht cooler zu stellen, als ich war.

»Nein, cariño«, sagte sie schließlich, und ein Schatten fiel über ihr Gesicht. »Er ist nicht mehr hier«, sagte sie traurig und zugleich besorgt um mich. »Er musste fort.«

»Warum? Wohin?«

»Seine Schwester Clara ist krank. Wenn es noch einen anderen Grund gibt, so hat er ihn mir nicht genannt. Aber junge Männer sagen ihrer alten Mama Lula nicht immer, warum sie etwas tun.«

Ich begriff, dass Mama Lula in ihrer Sprache Großmutter hieß.

»Ich muss ...«, stammelte ich, »ich wollte ... ich muss ihm etwas erklären.«

»So? Komm herein.« Sie nahm mich am Arm und schob mich in die Hütte.

Drinnen herrschte Dämmerung. Die Hütte enthielt nur einen Raum, der Küche, Schlafstatt und Wohnzimmer zugleich war. In den Regalen befanden sich geheimnisvolle Utensilien: Stöcke, Schalen mit Kräutern und Tierhaaren, Knochen, Masken und Felle. Auf der einen Seite stand ein gemauerter Herd, in dem ein Holzfeuer glomm. Auf der Eisenplatte kochte eine Kanne Kaffee. Auf der anderen Seite des Raums stand ein einfaches Bett mit einer Waschgelegenheit und in der Mitte des Raums befand sich ein Tisch mit einem Stuhl und zwei Schemeln.

Juanita lud mich ein, Platz zu nehmen, und stellte mir einen Tinto hin, den kleinen pechschwarzen kolumbianischen Kaffee.

»Du fragst dich, wo der Affe ist?«, bemerkte sie.

»Ja.«

»Er hat dir eine Uhr geklaut. Das hat mir Damián erzählt.«

»Damián hat sie mir sofort zurückgegeben.«

»Ja, ich weiß. Es war ihm sehr peinlich. Der Affe hat einmal einem Dieb gehört. Es war nicht immer leicht, all die Gegenstände zurückzugeben, die er geklaut hat.« Sie lachte vergnügt. »Seit Damián mit seinem Moped fährt, kann er ihm nicht mehr so leicht folgen. Aber an dem Sonntag musste Damián zu Fuß gehen, weil das Moped kaputt war, und da ist der Affe ihm wieder einmal gefolgt. Damián hat ziemlich mit mir geschimpft!« Juanita lachte wieder, und wenn sie lachte, bebte ihr ganzer Körper. Es war ein überaus ansteckendes Lachen. »Aber einen Affen kann man nicht einsperren. Vor ein paar Tagen habe ich ihm nun das Halsband abgenommen. Denn er ist erwachsen geworden und hat sich verliebt. Er will eine Familie gründen, da draußen im Wald. Jetzt ist er fort. Liebende kann man nicht halten, Jasmin.«

Wem sagte sie das? Ich wusste, dass mich derzeit nichts und niemand aufhalten können würde.

»Die Liebe ist mächtiger als der Tod«, sagte Juanita. »Die Liebe hat sieben Leben. Weißt du das?«

Ich schüttelte den Kopf. »Was bedeutet das?«

»Die Liebe ist Schrecken, dann folgt die Blindheit. Sie ist Wandlung und Erfüllung, dann folgen Zerstörung und Opfer und schließlich die Erlösung. Das sind die sieben Leben der Liebe. Manche erleben nur einige, manche erleben nur die glücklichen, manche die unglücklichen, manche erleben aber auch alle.«

»Dann möchte ich lieber nicht lieben«, sagte ich leichthin und griff nach dem Tässchen Tinto. Es kostete mich alle Kraft, beim Konversationston zu bleiben, während mir das Grauen eiskalt durch die Glieder sickerte. Das Tässchen zitterte in meiner Hand.

Auf jeden Fall befand ich mich im ersten der sieben Leben, im Schrecken! Ja, wirklich! Da hatte Juanita recht. Meine Eltern waren total panisch und mir pochte ständig das Herz vor Angst, vor Sorge. Ich hatte meine Mutter belogen, ich saß in dieser feuchtkalten Hütte und lauschte einer indianischen Wunderheilerin, die sich alle Mühe gab, mich in eine fremde, magische Welt einzuspinnen, und das alles tat ich nur, weil ich herausbekommen musste, wo Damián steckte und was genau er mir hatte sagen wollen, um jeden Preis und mit allen Mitteln! War ich damit womöglich auch schon im Stadium der Blindheit angekommen?

»Ich wollte dich nicht erschrecken!«, sagte Juanita. Ihr scharfer Blick ruhte auf mir. »Damián schimpft mich aus, wenn ich mit meinem indianischen Zauberzeugs komme, wie er das nennt. Er möchte nicht, dass man seine Mama Lula für eine wirre alte Hexe hält.«

»Woher wussten Sie, wie ich heiße, als ich Sonntag vor einer Woche schon mal hier war?«, fragte ich. »Und erzählen Sie mir bitte nichts von Kobolden und Göttern!«

Die Alte kicherte freundlich, doch ihr Blick blieb forschend. »Das ist dir unheimlich, mein Kind. Ich verstehe. Du brauchst eine rationale Erklärung. Nun, Damián hat es mir gesagt, als er den Affen brachte, damit ich ihn an die Kette lege und er ihm nicht mehr folgt.«

»Und woher wusste er, wie ich heiße?«

»Das weiß ich nicht, Jasmin. Ich habe ihn nicht danach gefragt. Aber er arbeitet doch in der Anlage, wo du wohnst. Wie sollte er nicht wissen, wie du heißt?«

Die Erklärung war einfach und gut. Damián hatte tausend Gelegenheiten gehabt, zu erfahren, wie ich hieß, etwa wenn Mama mich rief oder wenn Elena unten am Türschild klingelte. Er konnte mich auch im Colegio gesehen und sich nach meinem Namen erkundigt haben.

Doch eigentlich spielte es jetzt schon keine Rolle mehr. Damián hatte Bogotá verlassen. Womöglich würde ich ihn nie wiedersehen. Vielleicht war er abgehauen, ehe er in der Schule Schwierigkeiten bekam, vielleicht hatte man ihm gekündigt, und er hatte es seiner Großmutter verschwiegen und behauptet, er wolle nach seiner kranken Schwester Clara schauen. Vielleicht machte er auch mich dafür verantwortlich, dass er den Praktikumsplatz im Colegio verloren hatte, womöglich war er sauer auf mich und deshalb gegangen, ohne sich noch einmal mit mir in Verbindung zu setzen. Zorn stieg in mir auf. So viel waren also seine Versprechen wert! Und offenbar resignierte er lieber als zu kämpfen. Und wenn das so war, war es am Ende wirklich besser, wenn wir uns nie wiedersahen. Auch wenn es im Moment wehtat, fürchterlich weh.

»Weißt du«, hörte ich Juanita erzählen, »wir kommen aus einem kleinen Dorf tief in den Bergen bei San Andrés de Pisimbalá. Ihr nennt die Gegend Tierradentro, wir nennen sie Uyu. Das liegt in der Provinz Cauca. Mein Vater war ein Thé Wala, ein Medizinmann. Ich war sein einziges Kind und neugierig wie ein Äffchen. Er hat mir alles beigebracht, was er wusste. Ich heiratete und bekam einen Sohn, Gustavo, und zwei Töchter, Maria und Pepa. Dann starb mein Mann an einem Schlangenbiss. Gustavo ging schon bald nach Popayán, Maria heiratete und verließ ebenfalls unser Dorf. Pepa blieb und gebar zwei Kinder, Clara und Damián. Eines Tages kamen Männer mit Waffen, die Paramilitärs, erschossen die Alten, vergewaltigten die Frauen, verschleppten die Mädchen, raubten uns das Wenige, was wir besaßen, und brannten die Hütten ab. Sie töteten meine Eltern und meine Tochter Pepa. Damián war damals drei, seine Schwester Clara war fünf Jahre alt. Ich habe die beiden mit mir genommen zu meiner Tochter Maria, die mit ihrem Mann Tano in den Bergen lebt. Dort sind Clara und Damián aufgewachsen. Vor drei Jahren habe ich den Ort verlassen. Zuerst bin ich zu Gustavo nach Popayán gegangen und habe Kräuter und Tees verkauft. Dann bin ich weitergezogen. In den Städten gibt es viele Verlorene, die nicht wissen, wie sie sich selbst helfen können. Seit einem Jahr lebe ich jetzt hier. Als Damián das Stipendium fürs Colegio Bogotano bekam, ist er zu mir gezogen.«

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.

Sie erzählte es ohne Bitterkeit, ohne Aufregung, so als sei es etwas, was tagtäglich passierte und keiner besonderen Erwähnung mehr wert war. Wahrscheinlich erzählte Mama Lula Juanita es mir auch nur, damit ich verstand, dass meine Welt und ihre, also die von Damián, nicht zusammenpassten. Ich würde nie wirklich ermessen können, was in einem Mann vorging, dessen Eltern ermordet worden waren und der auf den bloßen Verdacht hin, er sei ein Dieb, entlassen wurde, nur weil er ein Indígena war. Und wenn ich es zu ermessen versuchte, dann packte mich ohnmächtige Wut.

»Und wo ist Damián jetzt genau?«, fragte ich.

»In Popayán, denke ich.«

Also in der Hauptstadt der Provinz Cauca.

»Dort findet bald ein Treffen des Regionalrats der Indígenas statt«, fuhr die Alte fort. »Außerdem wird er bei seiner Schwester in den Bergen sein.«

»Er möchte eine Universität gründen, nicht wahr?«

Juanita musterte mich nachdenklich. »Hat er dir das erzählt? Vielleicht wird er es schaffen. Ich traue es ihm durchaus zu. Gut reden kann er ja. Vielleicht wird er sogar eines Tages Präsident von Kolumbien sein.«

»Wenn das so ist ...« In mir stürzte etwas zusammen. Plötzlich erkannte ich die Wahrheit: Eine kleine deutsche Schülerin hatte keinen Platz in Damiáns Leben. Er musste für sein Volk kämpfen, gegen Armut und für mehr Gerechtigkeit.

Ich trank meinen Kaffee aus, dankte Juanita, erklärte, dass ich jetzt gehen müsse, und stand auf.

»Ich werde Damián sagen, dass du nach ihm gefragt hast«, sagte sie. »Das wird ihn freuen. Es ist eine noble Geste.«

Mit einem Schlag begriff ich: Sie wusste alles. Sie wusste, mit welchen Gedanken ich hierhergekommen war. Mein Kopf, meine Sinne waren bis zum Rand angefüllt mit Liebe, Romantik und Küssen. Doch in Damiáns Kopf war dafür nur ein kleiner Platz vorgesehen. Sein Kopf war voller großer Pläne, voller Elend, voller Kampf, voller Politik.

»Nein«, erwiderte ich. »Es war nicht als noble Geste gemeint. Ganz und gar nicht. Ich wollte ihn sehen. Ich wollte wissen, was er mir nach unserem Kuss auf dem Ball hat sagen wollen, aber nicht gesagt hat. Jetzt weiß ich es. Er kann sich nicht mit mir abgeben. Er hat andere, wichtigere Ziele. Sie können ihm sagen, das habe ich jetzt verstanden. Ich werde ihn nicht weiter belästigen.«

»Nein, warte, Jasmin!«, rief Juanita. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass sie die Hand nach mir ausstreckte, als wollte sie mich aufhalten, aber da war ich schon hinausgelaufen.

Zum ersten Mal war ich dem verdammten Regen von Bogotá dankbar für den Schleier, den er ausbreitete. Er mischte sich auf meinem Gesicht mit meinen Tränen. Ich musste mir keine Gedanken machen, was die Leute dachten, als ich wieder unten war und halb blind den Fußweg entlangstolperte.

Der Ruf des Kolibris
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