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09

– 15 –

 

Ich hatte viel Zeit, meinen Zweifeln nachzuhängen. Damián hätte schon gestern in Popayán sein sollen, hatte Rocío mir erklärt. Sein Onkel hatte nicht gewusst, wo er steckte, doch urplötzlich, just in dem Moment, wo ich ihn brauchte, war er aufgetaucht. Wieso auf einmal? Die einzige logische Erklärung war doch, dass er von dem Überfall auf uns gewusst hatte. Und dem Burschen, der mir die Uhr abgenommen hatte, hatte Damián sie nicht abgekauft, sondern weggenommen, um sie mir zurückzugeben. Deshalb hatte er auch nicht sagen wollen, was er dafür bezahlt hatte. Das war das Geheimnis seines Geschenks. Er hatte mir nur zurückgegeben, was einer seiner Leute mir geklaut hatte, wie vor drei Wochen schon mal das Seidenäffchen seiner Großmutter. Er wollte nicht als Dieb dastehen. Er hatte auch seinen Stolz. Und für etwas Geld nehmen, wofür er nichts bezahlt hatte, verbot sich ihm. Ansonsten interessierte er sich nicht für mich. Drei Wochen lang hatte er nichts von sich hören lassen, sich nicht einmal bei seiner Großmutter erkundigt. Wonach auch? Nach mir? Nein. Es waren nur meine blauen Augen, die ihn faszinierten. Mehr war da nicht. Es gab nicht viele blaue Augen in den Höhen der Anden.

Und irgendwann im Laufe dieser Nacht würden wir, Papa, Leandro, Elena und ich, seine Gefangenen sein. Wir würden es nur nicht gleich merken.

Antonio hatte es mit ziemlich unbewegtem Narbengesicht hingenommen, dass Damián mich und ich ihn, Antonio, auf morgen vertröstet hatte, und mich in die Herberge zurückgefahren. Am Nachmittag waren bewaffnete Leute erschienen, mit denen er davongefahren war, ohne Erklärungen abzugeben.

Elena jammerte beim Abendessen, dass sie morgen an ihrem Geburtstag nicht in Inza sein würde, fand sich dann aber damit ab und erklärte: »Wenn wir dafür Damiáns Schwester Clara retten, dann ist es das wert.«

Ich überlegte währenddessen fieberhaft, ob ich meinem Vater und Leandro meine Zweifel an Damián mitteilen musste. Aber was, wenn ich mich irrte? Dann hätte ich wieder einen schändlichen Verdacht gegen ihn geschürt.

»Wie hätte eigentlich«, überlegte mein Vater, als wir nach dem Abendessen im Zimmer von Leandro und meinem Vater saßen, »Antonio Damián hierherbringen wollen? Ich meine, Damián hätte ihn doch erkannt und wäre nicht mitgegangen, wenn Jasmin ihn zu Antonio gebracht hätte.«

Deutsche Logik, wie mir schien, denn Leandro fand das kaum einen zweiten Gedanken wert. »Antonio hätte ihm eine Waffe ins Gesicht gehalten und ihn gezwungen oder er hätte Jasmin die Pistole an die Schläfe gehalten und ihn so gezwungen. Oder er hätte gleich geschossen.«

Ein Menschenleben war nicht viel wert in Kolumbien. Vielleicht hatte uns wirklich nur die Kirche geschützt.

»Denken Sie, dass Antonio meine Geschichte glaubt?«, erkundigte ich mich.

Leandro zuckte mit den Schultern. »Warum sollte er deine Geschichte nicht glauben? Warum soll Damián nicht noch Vorbereitungen treffen müssen für die Reise in die Berge? Ein Auto beschaffen, Pferde ... «

Die Nacht war längst gefallen, schnell und umstandslos, beinahe ohne Dämmerung, wie üblich in diesen Breiten. Wir hatten nur eine Petroleumlampe als Licht, die auf einem wackligen Tisch stand. Elena hatte sich an ihren Vater gekuschelt. Er hatte den Arm um sie gelegt und rauchte. Ich versuchte mich zu erinnern, wann ich zuletzt so in die Achsel meines Vaters gekuschelt gelegen hatte. Jedenfalls nicht mehr nach meinem zwölften Lebensjahr. Mein Vater war kein Papa zum Kuscheln. Ich weiß nicht, wann das angefangen hatte mit dieser Befangenheit zwischen ihm und mir. Er schaute mich auch anders an als früher, so als wäre ich ihm ein bisschen fremd geworden. Einmal hatte ich meine Mutter zu ihm sagen hören, ich sei schon recht fraulich geworden. »Fraulich!«, ein Wort, das ich seitdem hasste, denn ich ahnte, dass es das war, was Papa und mich dazu zwang, vorsichtig und distanziert miteinander umzugehen, und was ihn befangen machte, wenn er den Arm um mich legen sollte. Und mich auch. Und jetzt, nachdem ich vor ein paar Stunden erst Damiáns verwirrende Nähe, den bezwingend zärtlichen Griff seiner Hand an meinem Kinn und seine Finger auf meiner Haut gespürt hatte, verstand ich auf einmal, dass mein Vater eben auch ein Mann war und ich eine Frau.

Plötzlich fühlte ich mich sehr erwachsen. Und das Wort »fraulich« hatte seinen hässlichen, mütterlich diagnostischen Beigeschmack verloren. Auf einmal bedeutete es etwas ganz anderes: Es war meine Chance! Damián war kein Junge wie Simon, er war ein Mann, der mit seinen rund zwanzig Jahren so viel erlebt hatte, wie Simon oder mein Vater mit vierzig nicht erlebt haben würden. Und dieser Mann verliebte sich nicht einfach in ein Mädchen, dessen einzige Interessen bisher Bücher und Pferde gewesen waren und dessen größte Probleme darin bestanden hatten, was sie am Morgen anzog und warum sie in der Klasse nicht beliebt war. In so eine Tussi hätte ich mich auch nicht verknallt. Aber die Jasmin, die ich bis dahin gewesen war und für unabänderlich gehalten hatte, war auf einmal irgendwo zurückgeblieben, in Bogotá oder sogar bereits in Konstanz am Bodensee.

Hier war ich etwas Neues. Meine blauen Augen waren eine Besonderheit, meine Fraulichkeit zog Blicke auf sich. Ja, ich war auf einmal erwachsen geworden. Und es fühlte sich gar nicht mal unangenehm an. Es enthielt die ungeheure Möglichkeit der Liebe. Und was sie war, das begann ich zu ahnen, schmerzhaft zwar und intensiv, aber auch als mein Weg in die ... ja, in die Freiheit!

Mir schwindelte etwas, denn wohin mich meine Freiheit führen würde, war völlig ungewiss. Aber es war auch erregend. Es machte mich mutig. Komme, was da wolle, mein Leben fing gerade an, und es fing ganz anders an, als das meiner Eltern vor zwanzig Jahren angefangen hatte, als sie sich kennenlernten. Meines war komplizierter und aufregender und ungewisser. Und das schien mir im Moment keineswegs erschreckend oder beängstigend. Ich musste also tatsächlich bereits im zweiten Leben der Liebe angekommen sein, im Stadium der Blindheit. In der Tat: Denn ich erzählte niemandem etwas von dem vernünftigen Verdacht gegen Damián. Ich beschloss für mich allein, dass der Verdacht unbegründet war. Damián würde niemals etwas tun, was mir und meinen Gefährten schadete. Davon war ich blind überzeugt.

»Komm, erzähl eine Geschichte, Papa«, sagte Elena.

Der lange Abend mit den vielen Stunden, die wir warteten, verging damit, dass Leandro und mein Vater Geschichten erzählten.

Leandro sprach von seiner Kindheit in Armut, von dem ersten großen Smaragd, den er mit vierzehn im Abwasserschlamm der großen Mine von Muzo gefunden hatte, von seinem Bruder, der versprochen hatte, ihm den Stein in der Stadt zu Geld zu machen, und den er seitdem nie wieder gesehen hatte, und von seiner Erkenntnis, dass auf niemanden Verlass sei und er fortan größere Steine als die anderen finden müsse, wenn er reich werden wolle. Und das wollte er.

Mein Vater erzählte von der paradiesischen Schönheit und Milde des Bodensees zwischen Alpen und Allgäu, von grünen Weiden, fetten Kühen und Segeljachten, von seinem Vater, der schon Chirurg gewesen war, von seinen Bergtouren in der Türkei und in Afghanistan, von der Wüste und Kamelen mit Höckern und dass er seine Frau, meine Mutter, auf der Akropolis in Athen kennengelernt hatte.

Dann wollte Elena noch wissen, wie ihr Papa ihre Mama kennengelernt hatte.

»Aber das weißt du doch«, sagte Leandro. »Das habe ich dir doch schon hundert Mal erzählt.«

»Dann erzähl es noch mal. Ich erinnere mich nicht mehr genau. Wie war das? Mama war eine Rucksacktouristin und sie hatte alles Geld verloren.«

»Nein, man hatte es ihr geklaut. Gleich am ersten Abend in Bogotá, Travellerschecks, Scheckkarte, Bargeld, Pass, alles. Und sie saß im Regen und sah aus wie eine nasse Katze.«

»Und du?«

»Ich war damals ein armer Guaquero, der seine ersten großen Steine verkaufen wollte, und zwar an den größten Edelsteinhändler von Bogotá, und ich hatte keinen anständigen Anzug.«

Elena kuschelte sich in die Armbeuge ihres Vaters und fragte: »Wozu brauchtest du denn einen Anzug?«

»Aber Elena, das weißt du doch! Ich wollte, dass man mir einen anständigen Preis zahlt, nicht den, den man den kleinen Schlammgräbern zahlt, sondern einen, wie man ihn einem Mann zahlt, der eine Mine entdeckt hat und mit dem man auch künftig Geschäfte machen will. Deine Mutter hatte zwar kein Geld mehr und keine Schecks und sie konnte auch kaum vier Worte Spanisch, aber sie hatte in ihrem Rucksack zwei Bierkrüge aus München, und die ...«

Wir lachten. »Bierkrüge aus München? Bierseidel?«, fragte mein Vater.

»Ja, genau.« Leandro nickte. »Mit der Münchner Frauenkirche drauf und einer Inschrift vom Oktoberfest, und die konnten wir in einem dieser Trödelläden in La Candelaria verkaufen, und für den Erlös haben wir einen Anzug und Schuhe für mich erstanden. Die Idee, die Seidel zu verkaufen, kam von mir, eigentlich hatte Sandra sie einer Familie mitbringen wollen, die in Bogotá lebte, die sie aber nicht gefunden hatte, denn die Adresse war falsch oder die Familie war woanders hingezogen. Ich habe Sandra überredet, das Geld für einen Anzug für mich auszugeben, denn wenn ich damit meine Smaragde teuer verkaufen könnte, dann würde sie das Geld doppelt von mir zurückbekommen, und so habe ich es gemacht. Sie hat mir vertraut und ist bei mir geblieben.«

»Einfach so?«, fragte mein Vater nach.

»Sie war volljährig«, antwortete Leandro. »Und sie war frei, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen, und sie hat es nicht bereut, denke ich.«

»Und ihre Eltern?«

»Sandra ist bei ihrer Tante aufgewachsen. Ihre Mutter war Geschäftsfrau und musste viel reisen, ihren Vater kennt sie nicht.«

»Oma hat uns auch einmal besucht«, ergänzte Elena. Sie lachte. »Ich glaube, wir haben sie ganz schön beeindruckt, nicht wahr, Papa? Mit unseren Hubschraubern und deinem Jet und all dem.«

 

Irgendwann musste ich eingeschlafen sein. Mein Vater rüttelte mich wach. Elena und Leandro standen im Zimmer und lauschten. Ich zog meine Uhr aus der Jackentasche. Im flackernden Licht der Petroleumlampe konnte ich gerade so erkennen, dass es kurz vor Mitternacht war. Man hörte gedämpfte Stimmen unten im Haus. Ein Auto war in den Hof gefahren, wie mir Elena aufgeregt wispernd mitteilte. Ich glaube, dass wir alle insgeheim darauf warteten, dass Schüsse fielen. Aber es kamen nur zwei junge Männer, die sich in nichts von unseren Bewachern unterschieden, nur dass sie, wenn man genau hinschaute, vielleicht indianischer aussahen.

»Ihr seid die Deutschen?«, fragten sie. »Wir kommen von Damián. Kommt mit.«

»Wo ist Damián?«, fragte Leandro.

»Er hat uns geschickt. Kommt mit. Schnell!«

Wir blickten Leandro an, den Einzigen unter uns, der irgendwelche Erfahrungen mit Situationen hatte, die man schwer einschätzen konnte. Er nickte. Wir packten unsere wenigen Habseligkeiten, darunter die beiden Arztkoffer meines Vaters, und folgten den beiden Jungs. Unten in der Herberge standen noch vier von ihnen. Sie hatten unseren fünf Bewachern die Gewehre abgenommen. Die fünf Guerilleros blickten ziemlich verdutzt drein. Vermutlich waren sie im Schlaf überrascht worden.

Im Hof stand ein Lastwagen mit Plane. Wir stiegen hinten auf die Pritsche, die vier Indios aus der Rezeption sprangen dazu, die beiden anderen stiegen vermutlich vorne ein, und schon rollte der Laster vom Hof auf die glatte Straße, die direkt nach Popayán hineinführte.

Eine Stunde später befanden wir uns bereits in einem strahlend weißen Hotel, einem absoluten Nobelschuppen für hiesige Verhältnisse. Es hieß La Plazuela und verfügte über zwei Stockwerke und den hier absolut notwendigen Patio, den Innenhof. Es gab elektrisches Licht, 24 Stunden heißes Wasser, frische Bettwäsche und eine Minibar im Zimmer. Luxus pur. Die Jungs, die uns befreit hatten, verschwanden ohne weitere Erklärungen.

»So einfach ist das?«, fragte mein Vater.

»Nicht immer«, antwortete Leandro.

»Und wo ist Damián?«, erkundigte sich Elena.

Darauf wusste niemand eine Antwort.

»Gehen wir schlafen«, sagte mein Vater. »Der wird schon auftauchen, wenn wir seine Schwester behandeln sollen.«

Das laute Leben unten in den Gassen der Altstadt begann mit Sonnenaufgang gegen sechs Uhr.

Vom Hotel aus riefen wir am Morgen zunächst meine Mutter an.

»Wir mussten den Hubschrauber stehen lassen und mit Autos weiter«, erklärte mein Vater. »Da hatten wir kein Netz. Und jetzt sind wir in einem tollen Hotel unterbracht, mitten in der Altstadt.« Kein Wort über Paramilitärs, Entführung und Befreiung. Er blinzelte mir zu, als er mir das Telefon gab. Dass er so unverschämt lügen konnte, war mir neu.

»Seid vorsichtig!«, ermahnte Mama mich, »schlaft nur unter Moskitonetzen, hörst du?«

Was Elena ihrer Mutter erzählte, hörte ich nicht. Anschließend telefonierte Leandro seinem Hubschrauber hinterher, aber das Wetter auf der Ostseite der Anden war noch zu schlecht, als dass der Hubschrauber in Campoalegre starten konnte, und es würde sich in den nächsten drei Tagen vermutlich auch nicht wesentlich bessern.

Wir saßen erst einmal fest, es sei denn, wir wollten in Autos die Fahrt zurück in die Berge und hinauf nach Inza wagen. Mein Vater hätte es wohl gewagt, aber Leandro war strikt dagegen. Ein zweites Mal mussten wir im Gebirge Don Antonio und seinen Kriegern nicht in die Hände fallen.

Wir frühstückten draußen im Patio. Und weil sich keine Kerze organisieren ließ, sang ich zur Flamme eines Streichholzes Elena das Geburtstagsständchen. Wir umarmten sie alle und wünschten ihr alles Gute. Ihr Vater versprach ihr eine Überraschung, sobald wir in Inza seien, nur ich konnte ihr mein Geschenk jetzt schon überreichen, denn das Buch für sie hatte mir niemand abgenommen. Es waren Songtexte von Grönemeyer. Ich hatte das Büchlein bei einem Antiquar gefunden. Den vielen Buchläden im Zentrum verdankte Bogotá auch den Namen »Stadt der Bücher«.

Elena freute sich.

Als nach dem Frühstück weder Damián noch irgendein anderer Indio erschien, schlug ich vor, dass wir ins Büro des CRIC gingen. Dort könnten wir uns bedanken und uns auch, wenn wir das wollten, nach Damián erkundigen. Ich versuchte, so gleichgültig wie möglich zu klingen. Es sollte sich nicht so anhören, als brannte ich darauf, Damián wiederzusehen.

Elena feixte. Ich trat ihr unterm Tisch gegen das Bein. Mein Vater musterte mich kurz. Er hatte doch was gemerkt. Papa wirkte zwar manchmal ziemlich verpeilt, aber er bekam wohl viel mehr mit, als ich immer dachte.

Tatsächlich war ich voller Angst, dass Damián, aus welchen Gründen auch immer, wieder abgetaucht war. Ich hatte ihn doch erst mühsam überzeugen müssen, dass mein Vater seiner Schwester vielleicht helfen konnte. Womöglich hatte Damián mir nur zugestimmt, damit ich Ruhe gab, so wie er mir auf dem Ball versprochen hatte, sich bei mir zu melden, damit ich ohne Gegenwehr ging. Doch schlimmer als diese Befürchtungen war meine Angst, dass ihm etwas passiert sein könnte. Und deshalb musste ich unbedingt los und herausfinden, warum er heute Nacht bei unserer Befreiung nicht dabei gewesen war.

Es dauerte noch eine Weile, bis unsere Väter sich darauf verständigt hatten, dass sie dem jungen Mann, der sich für unsere Befreiung eingesetzt und sie organisiert hatte, auf jeden Fall danken mussten, und sei es in Form eines Briefs, den sie im Büro des Regionalrats hinterlegen würden. Zuvor musste das Risiko abgewogen werden, dass ein ergrimmter Major Antonio uns mit der Waffe in der Hand stellen und erschießen würde. Doch das schien unseren Vätern dann doch gering, in Anbetracht der Menge bewaffneter Polizisten, die im Zentrum von Popayán herumstanden. Und so schlenderten wir endlich bei leichtem Nieselregen über den Platz des Parque Caldas mit der weißen Fassade der Kathedrale und dem Uhrenturm, wo ich gestern stundenlang gewartet hatte, in die Gasse, wo das Büro des CRIC lag.

Rocío saß an ihrem Schreibtisch mit Bildschirm in der Ecke am Fenster zwischen Papieren und übervollem Aschenbecher, als wäre sie über Nacht gar nicht weggewesen. Ein Mann mit Bart, Pferdeschwanz und haarigen Armen stand bei ihr und diktierte ihr etwas. Beide drehten sich um, als wir zu viert hereinkamen.

»Ah, los alemanes«, bemerkte Rocío und lächelte. »Todo bien? Alles okay? Ist das Hotel in Ordnung?«

Wir nickten.

Leandro fand am schnellsten von uns die Richtung. »Wir suchen Damián. Wir möchten uns bedanken.«

Der Bärtige setzte sich wortlos in Bewegung und verschwand durch die Tür zum Nachbarraum.

Rocío lächelte weiter. »Vielleicht möchten Sie auch eine kleine Spende an uns machen. In drei Wochen haben wir unser großes Treffen der indigenen Völker.«

»Selbstverständlich«, sagte mein Vater. »Ich habe nur momentan kein Geld. Aber wenn Sie mir eine Kontonummer geben.«

Doch Leandro besaß noch Reserven in den tiefen, verborgenen Innentaschen seiner Weste. Er zog einen Scheck hervor und füllte ihn auf einem der sperrmüllalten Tische aus. Rocío bekam Stielaugen. Offenbar war die Summe hoch. Bei den vielen Nullen, die hier die Währung hatte, konnte ich das nicht so schnell beurteilen.

Rocío nahm den Scheck und bedankte sich strahlend.

»Trotzdem«, sagte mein Vater, »eigentlich wollten wir mit Damián sprechen. Er hat meiner Tochter erzählt, dass ...«

Da öffnete sich die Tür zum Nachbarraum und der Bärtige erschien wieder, gefolgt von einer abgekämpften Gestalt in verschlammten Gummistiefeln und verdreckter und regennasser Hose.

Ich erschrak immer noch, sobald ich Damián erblickte.

»Da ist er«, hörte ich Rocío noch sagen. Danach hörte ich kaum noch, was gesprochen wurde.

So hatte ich Damián noch nie gesehen. Sein Gesicht war ausdruckslos vor Erschöpfung, der Schlamm, der sich in den verregneten tropischen Bergen ausbreitete wie eine Seuche, hing ihm nicht nur in den Kleidern, sondern sogar in den Haaren. Um seine Augen lag ein angestrengter Zug. Es schien ihn Mühe zu kosten, sich auf die heiter geschäftige Atmosphäre im Büro umzustellen und unsere erwartungsvollen Blicke auszuhalten. Einen kurzen Moment hatte ich den Eindruck, er könne sich kaum noch auf den Beinen halten, dann wieder wirkte er angespannt, geradezu kampfbereit. Seine Augen blitzten dunkel und fast feindselig, als er Leandro erblickte.

Ich fragte mich beklommen, was er in dieser Nacht gesehen, was er erlebt hatte, während wir gemütlich auf dem Lastwagen in die Stadt gezuckelt waren und uns in frisch bezogenen Betten zum Schlafen niedergelegt und morgens vergnügt geduscht hatten. Er sah aus, als müsste er viele böse Bilder vertreiben, bevor er uns richtig wahrnehmen konnte, die wir munter und froh vor ihm standen und uns irgendwie bedanken wollten.

Aber wofür bedankten wir uns wohl? Würden wir jemals wirklich ermessen können, was er in dieser Nacht für uns getan hatte? Dass unsere Befreiung für uns so harmlos und leicht ausgesehen hatte, musste nicht heißen, dass es dort, wo er sich aufgehalten hatte, friedlich zugegangen war. Er hatte zwar behauptet, die Indígenas von seinem Stamm der Nasas nähmen keine Schusswaffen in die Hand, aber auch Messer waren entsetzliche Waffen. Wollten wir es wirklich so genau wissen? Wollte ich es wissen?

Mein Vater, Elena und ihr Vater, und vermutlich auch ich, formulierten Worte des Dankes. Ich bekam es, wie gesagt, nicht wirklich mit. Ich sah eine frische Wunde auf Damiáns Handrücken und spürte körperlich seine Erschöpfung und seine ungeheure Fremdheit uns gegenüber.

Er griff sich in die Tasche seiner Wetterjacke und legte auf dem nächsten der Tische zwischen Prospekten, Papieren und neben einer der uralten schwarzen Schreibmaschinen ein Häufchen Uhren, Ringe, Geldscheine und Leandros Satellitenhandy ab.

»Meine Kette!«, rief Elena erfreut.

»Dann ist ja alles wieder gut«, sagte Rocío lächelnd.

Auch ihr Lächeln kam mir irgendwie fehl am Platz vor, unangemessen und verharmlosend. Die ernste Miene des Bärtigen mit dem Pferdeschwanz und den haarigen Armen, der stumm zuschaute, kam mir angemessener vor. Im Grunde waren wir naive Touristen, denen man nicht alles erzählen würde, nachdem sie durch eigene Dummheit nicht nur sich selbst, sondern eine Reihe anderer Leute, darunter Damián, in Schwierigkeiten gebracht hatten. Auch Leandro gehörte nicht mehr wirklich zum Volk, denn er war schon zu lange reich.

»Meine Tochter hat mir erzählt«, ergriff mein Vater schließlich das Wort, »dass deine Schwester krank ist.«

Zum ersten Mal streifte mich Damiáns Blick, nur kurz, aber mir rieselte es trotzdem heiß das Rückgrat hinab.

»Das ist richtig«, antwortete er wohlerzogen in seinem akkuraten Spanisch, das in so krassem Gegensatz stand zu seiner wilden, abgekämpften und verdreckten Erscheinung, »aber, ohne Ihre medizinischen Fähigkeiten infrage stellen zu wollen, Don Markus, fürchte ich doch, Ihre Tochter macht sich zu große Hoffnungen. Die Ärzte im Krankenhaus von Popayán haben ihr Bestes getan.«

Mein Vater lächelte fein und antwortete ebenso höflich. »Selbstverständlich will ich die Kenntnisse und Künste der hiesigen Kollegen nicht infrage stellen. Aber du hast uns heute einen großen Dienst erwiesen und ich würde mich gern erkenntlich zeigen. Wenn nur die kleinste Chance besteht, deiner Schwester zu helfen, würde ich sie gerne genutzt haben.«

Rocío lächelte und wedelte mit dem Scheck dazwischen. »Gespendet haben sie auch schon.«

Zwischen Damians Brauen erschien eine steile Falte. Seine Gesichtszüge hatten sich in den letzten Minuten etwas entspannt und belebt. Jetzt wurden sie erneut reserviert.

»Sie sind sehr großzügig«, erwiderte er. »Aber ...«

»Che, hombre!«, mischte sich da Leandro ein. »Wir machen keine Politik und wir führen keine Verhandlungen über die Rechte der Indígenas. Wir wollen dir nur das Leben ein bisschen erleichtern, weil wir dankbar sind. Ich weiß, das ist die Strafe für den, der hilft. Er muss danach auch noch die Dankbarkeit ertragen.«

Damián deutete ein Lächeln an.

»Komm, geben wir uns die Hände«, sagte Leandro und streckte ihm seine Pranke hin. »Schließen wir ... wenn nicht Frieden, dann einen Waffenstillstand, eh?«

Damián zögerte nicht. Er reichte dem Gran Guaquero seine Hand. Der Bärtige kaute mit den Unterzähnen an seinem Oberlippenbart.

»Und jetzt verfüge über uns, Damián«, fuhr Leandro fort. »Wir sitzen hier mindestens drei Tage fest. Und die stehen wir dir und deiner Schwester zur Verfügung, wenn du magst. Und wenn ich sage, verfüge über uns, dann meine ich, verfüge über alles, worüber ich im Moment verfügen kann. Leider nicht über einen Hubschrauber. Aber wenn wir Autos brauchen ...«

Damián schaute mich an, fragend fast, nachdenklich und abwägend, und dann wandte er sich meinem Vater zu. »Ich bin es meiner Schwester schuldig, dass ich jede, auch diese Chance nutze. Aber der Weg ist beschwerlich, Don Markus. Wir können nur einen Teil mit dem Auto fahren. Dann geht es mit Pferden weiter, einige Stunden in die Berge.«

»Oje«, seufzte mein Vater. »Unsere Töchter und Leandro können natürlich reiten, aber ich kann gerade mal oben bleiben, hoffe ich.«

Damián lächelte plötzlich offen. Und jetzt endlich duzte er meinen Vater auch. »Keine Sorge, die Pferde kennen den Weg. Und es geht langsam. Du wirst schon oben bleiben.«

»Na, dann bin ich ja beruhigt«, grinste mein Vater.

»Wann brechen wir auf?«, fragte Leandro.

»Gleich«, erwiderte Damián. »Das schaffen wir bis Einbruch der Dunkelheit.«

Er klang gehetzt.

Der Ruf des Kolibris
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