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09

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Dann kam der Tag, an dem der Affe Simons Uhr stahl. Es war ein Sonntagmorgen, noch vor dem Frühstück. Ich hatte mich gerade angezogen. In der Nacht hatte es wüst geregnet, aber jetzt schien die Sonne. In den Bäumen der Grünanlage, die von jungen Kolumbianern peinlich genau gepflegt wurde, schnatterten die Papageien und pfiffen die Vögel. Der Rasen dampfte, wie so oft, und der Fleck blauer Himmel wurde schon wieder bedrängt von dunklen Wolken.

Da erschien auf einmal ein Äffchen auf dem Balkongeländer. Es hatte ein seidiges Fell und ein rotes Halsband und gab zirpende Laute von sich. Seine Augen waren groß und schauten mich unverwandt durch die Scheibe der Balkontür an. Es wirkte erschreckt, aber diese kleinen Seidenäffchen sahen immer so aus.

Vielleicht hat es Hunger, dachte ich.

Auf dem Balkon standen die Pfützen, und das Äffchen turnte zwitschernd auf dem Stuhl herum. Ich öffnete die Balkontür. Kühle, feuchte Luft fiel herein. Das Äffchen sprang mir sofort auf den Arm. Es war federleicht und quicklebendig. Seine Finger, die sich in die Falten meines Shirts krallten, waren winzig. Einen Augenblick später sprang es von meinem Arm herunter, lief ins Zimmer, hüpfte über die Bettkante auf meinen Nachttisch, schnappte sich meine oder vielmehr Simons Armbanduhr und war mit zwei Sprüngen wieder federleicht über meinen Arm hinweg hinaus auf den Balkon gesprungen, ehe ich kapierte, was geschah. Und schon war es über das Balkongeländer verschwunden.

Scheiße!

Immerhin hatte es meinen iPod nicht genommen mit all den Songs von Juanes und meinen gesamten CDs, die ich draufgeladen hatte. Ich dachte an Elena und ihre Schauergeschichten von Dieben und diebischen Affen. Man fand sie niedlich und streichelte sie ...

Ich sprang auf den Balkon, um zu sehen, wohin das Äffchen verschwand, und sah, wie es auf drei Beinen zwischen den Bananenstauden hindurch quer über den Rasen hüpfte.

Vom anderen Ende betrat einer der Gärtner die Anlage. Es war der junge Kerl, den ich schon ein paarmal am Wochenende gesehen hatte. Er schnitt Bäume und mähte den Rasen. An ihm hangelte sich das Äffchen jetzt hinauf. Er griff nach ihm, aber es sprang von seiner Schulter sofort in den nächsten Baum. Soviel ich von oben erkennen konnte, steckte er sich dann etwas in die Tasche.

Er trug eine weite khakifarbene Hose und an den Füßen Gummistiefel, was bei dem nassen Rasen das Beste war. Über der Hose, die mit einem Gürtel auf den schmalen Hüften gehalten wurde, trug er, obwohl es in Bogotá nie wirklich sommerlich warm wurde, nur ein graugrünes Unterhemd, das einen muskulösen Oberkörper und breite Schultern zur Geltung brachte. Sein Alter war schwer zu schätzen, vermutlich war er kaum zwanzig Jahre alt. Seine glatte Haut schimmerte bronzefarben, sein Haar war rabenschwarz, die Augen schmal und dunkel. Er gehörte eindeutig zu den indianischen Ureinwohnern, die man Indígenas nannte.

In Kolumbien mischten sich viele Volksgruppen, Weiße spanischer Herkunft, ehemalige schwarze Sklaven, Indianer unterschiedlicher Stämme. Es gab im Land mehr Kinder und Jugendliche als Erwachsene. Viele von ihnen verdienten sich irgendwie ihren Lebensunterhalt auf der Straße, in Cafés, als Boten, als Straßenverkäufer. Elena wurde nie müde, mich vor ihnen zu warnen. Sie wechselte sogar die Straßenseite, wenn sie einen Bettler sah oder ein Kind mit Bauchladen.

Ich zögerte. Mein erster Impuls war es gewesen, sofort runterzurennen und diesen Indio zur Rede zu stellen. »Gib die Uhr wieder her oder ich hole die Polizei!«

Und dann? Wenn er mich auslachte? »Welche Uhr?« Wenn er den zu Tode Gekränkten spielte? »Glaubst du, nur weil du weiß bist, kannst du behaupten, ich sei ein Dieb?« Und welche Polizei sollte ich holen? Bis ich hinaufgegangen und die Polizei angerufen hätte und bis die erschienen wäre, wäre der Kerl längst über alle Berge gewesen. Er hätte damit zwar seine Arbeit verloren, denn hier konnte er sich nicht wieder blicken lassen, aber meine oder vielmehr Simons Uhr hätte ich trotzdem nicht wiederbekommen.

Was konnte ich ihm also anhaben? Ich, ein aufgeregtes Mädchen aus Europa? Er würde sich über mich lustig machen. »Wo soll ich die Uhr haben? In der Tasche? Möchtest du mich durchsuchen?«

Ich konnte ihm unmöglich in die Hosentasche fassen. Nicht einem jungen kolumbianischen Mann, der in der anderen Hosentasche vielleicht ein Messer stecken hatte. Und dieser Gärtner strotzte nur so vor männlichem Selbstbewusstsein. Jeder seiner ruhigen und flüssigen Schritte forderte die Luft, den Wind, die Sonne heraus, ihn zu streicheln, ihm zu schmeicheln, ihn zur Krone der Schöpfung zu erheben.

Nein, er würde mich auslachen, ohne Zweifel. Und was stellte ich mich so an wegen einer Uhr, die für ihn vermutlich ein Vermögen wert war und für mich so gut wie gar nichts? Fast schämte ich mich jetzt schon. Aber durfte ich es ihm einfach so durchgehen lassen? Nur weil ich unermesslich reich war, verglichen mit einem Gärtnerjungen?

Und schließlich war die Uhr sehr wohl etwas wert. Wenn auch nur ideell. Sie war die Uhr von Simons totem Vater, das Pfand meiner Wiederkehr. »Damit du in einem Jahr wiederkommst«, hatte Simon zum Abschied gesagt. »Damit du dich nicht etwa verliebst und uns vergisst.«

Dazu muss ich allerdings sagen, dass Simon und ich nie miteinander gegangen waren – nicht, dass da Irrtümer aufkommen! Er war nämlich eigentlich in Vanessa verliebt. Aber sie nicht in ihn. So hatten wir beiden Überbleibsel aus Vanessas Anhang uns eines Abends bei einer Party verbündet, bei der Vanessa mich und ihn in einer Ecke hatte sitzen lassen. Wir hatten angefangen uns zu unterhalten, über alles Mögliche. Simon war ziemlich belesen, nicht so oberflächlich wie die anderen Jungs. Er wollte so wie ich Medizin studieren und dann Arzt werden und den Krebs besiegen. Wir hatten beschlossen, dass wir zusammen Medizin studieren würden, und zwar in Berlin. Im Grunde hatte ich da erst entschieden, das Gleiche zu studieren wie meine Eltern. Bis dahin hatte ich es immer abgelehnt, das zu sagen, wenn Onkel und Tanten und allerlei Freunde und Bekannte meiner Eltern mich danach fragten. Anscheinend gab es keine andere Frage als diese, um ein Gespräch mit einer Minderjährigen anzufangen. »Na, was willst du denn mal werden?«

»Gar nichts!«, hatte ich früher gesagt. »Ich bin schon was. Ich bin Jasmin Auweiler.« Das hatte tantenhaftes Gelächter ausgelöst. Ihr wisst alle, wie tantenhaftes Gelächter klingt? Laut, leicht entrüstet und ziemlich hochnäsig. Ich hasste das. Als ich anfing zu sagen, dass ich Ärztin werden würde, waren alle plötzlich ganz zufrieden.

Simons Uhr mit ihrem alten Lederarmband und der glatten Unterseite aus Stahl hatte sich die letzten Wochen sehr gut angefühlt an meinem Handgelenk. Und immer wieder hatte ich mich gefragt, warum er sie mir gegeben hatte. Warum war es Simon so wichtig, dass ich mich in Kolumbien nicht verliebte? Irgendwas musste ihm ja wohl an mir liegen. Vielleicht war mir da was entgangen. Andererseits, ein Jahr war lang, und er würde, wenn ich wiederkam, sicherlich eine Freundin haben. Vielleicht sogar endlich Vanessa. Dann war es ihm vermutlich egal, wer ihm das Erbstück seines Vaters zurückbrachte, Hauptsache, er bekam die Uhr überhaupt wieder.

Und nun hatte ich sie verbaselt, verloren, hatte sie mir von einem Seidenäffchen klauen lassen und besaß nicht den Mut, den Dieb zur Rede zu stellen.

Und ob ich den Mut besaß! Ich musste es ja nur nicht überstürzen. Der Indio würde noch ein paar Stunden da unten in der Anlage zubringen. Und wenn ich ihn heute nicht kriegte, dann irgendwann sonst. Es war bestimmt nicht das erste und letzte Mal, dass er sein Äffchen auf Beutezug durch die Zimmer schickte.

Große Dinge konnte so ein Äffchen nicht mitnehmen, aber die kleinen teuren: einen Ring, eine Kette, einen iPod, ein Handy. Wenn es den Besitzern auffiel, würde man die Haushaltshilfe beschuldigen. »Dienstpersonal klaut immer.« Diesen Satz kannte ich seit meiner ersten Grillparty bei den neuen Kollegen meines Vaters, er fiel auf jedem Kaffeeklatsch. Sie klauten Besteck, Nahrungsmittel, Geld. Man musste sie hin und wieder entlassen.

Aber beweisen musste man es ihnen schon.

Hätte ich nicht beobachtet, wie der Affe Simons Uhr klaute, sondern erst später bemerkt, dass sie nicht mehr auf meinem Nachttisch lag, dann hätte ich vermutlich unsere Estrellecita beschuldigt. Oder wenn nicht ich, dann hätte meine Mutter es getan. Sie regte sich immer gleich auf. Und dann bekam sie Kopfschmerzen.

Deshalb beschloss ich, meinen Eltern erst einmal nichts von dem zu sagen, was ich an diesem Morgen beobachtet hatte. Sie saßen schon beim Frühstück, als ich in den Salon kam. Sonntags kam Estrellecita nicht, deshalb gab es nur Kaffee und Brot.

»Heute ist es so weit«, sagte mein Vater vergnügt. »Wir wollen endlich unsere Fahrradtour auf der Ciclovía machen.«

Jeden Sonntag wurden in Bogotá 120 Kilometer Straßen in achtzehn der zwanzig Stadtteile für den Autoverkehr gesperrt und zu Fahrradwegen erklärt und dann schwärmten die Radler aus wie die Fliegen.

»Ich kann nicht mit«, stellte ich gleich klar. »Ich bin mit Elena zum Reiten verabredet.«

Mein Vater machte traurige Augen. »Ausgerechnet wenn ich mal am Sonntag freihabe. Wir sehen uns so selten.«

»Praktisch täglich«, sagte ich.

»Aber immer nur zwischen Tür und Angel.«

Seit meiner Kindheit ging das so. Als Arzt war Papa oft nicht zu Hause gewesen. So manchen Sonntag, den er freihatte, war ich dazu verdonnert worden, daheim zu bleiben, mit den Eltern auf dem Bodensee zu segeln, in den Schweizer Bergen zu wandern oder bei Regen Gesellschaftsspiele zu spielen. »Beschäftigungstherapie für Eltern«, hatte ich das immer genannt. Logisch, dass ich dabei nicht vor guter Laune gesprüht hatte. Was mir keinen Spaß machte, sollte ihnen auch keinen machen. Aber bislang hatten sie noch nicht eingesehen, dass sie nichts davon hatten.

»Willst du dir nicht auch mal mit uns zusammen ein bisschen was von der Stadt anschauen?«, fragte Mama mit diesem vorwurfsvollen Timbre in der Stimme, als dürfte ich nichts Schöneres kennen, als mit den Eltern loszuziehen.

»Ich komme mehr herum als ihr«, antwortete ich. »Und ich würde noch mehr sehen, wenn ihr mir nicht alles verbieten würdet.«

»Fang nicht wieder damit an!«, mahnte Mama. »Das haben wir doch ausdiskutiert.«

Der Punkt war der: Elena hatte mich eingeladen, Anfang der Sommerferien mit ihr und ihrem Vater für ein paar Tage ins Gebirge zu einer Smaragdmine zu fliegen. »Viel zu gefährlich«, hatte meine Mutter sofort befunden.

»Aber wir werden mit dem Hubschrauber fliegen«, erklärte ich noch einmal. Vielleicht sah mein Vater es ja weniger eng. »Was soll da passieren?«

Papa hob interessiert den Kopf.

»Ich habe mir das auf der Karte angesehen«, erklärte meine Mutter, mehr ihm als mir. »Genau dort in der Gegend ist diese deutsche Lehrerin Susanne Schuster entführt worden.«

Diese deutsche Lehrerin war neben klauenden Dienstboten das zweite Thema, das aufkam, sobald man sich in der ausländischen Gemeinde traf. Susanne Schuster war vor gut drei Jahren in den Anden verschleppt worden und bis heute Geisel der FARC. Derzeit gingen Gerüchte um, sie sei schwer krank und werde sterben, wenn sie nicht bald in ärztliche Behandlung komme. Aber Genaues wusste man nicht.

»Aber Mama«, hatte ich argumentiert, »ich kenne niemanden, der mehr Schiss hat als Elena. Und wenn die es für sicher hält, dann ist es sicher. Ihr Vater hat Bodyguards für die ganze Familie, wir wären keine Sekunde ohne Schutz.«

»Ich habe Nein gesagt, Jasmin!«, sagte Mama. Es klang, als würde sie gleich Migräne kriegen.

»Für einen Arzt sind die Smaragdminen ein wichtiges Thema«, überlegte mein Vater jetzt plötzlich laut. »Die Arbeitsbedingungen dort sind hart, in den Slums an der Mine leben Zehntausende von Schatzgräbern, die im Minenschlamm nach Steinen suchen. Da gibt es sicher viel zu tun.«

»Dann komm doch einfach mit!«, schlug ich vor. »Elena und ihr Vater haben sicher nichts dagegen. Ich frage sie gleich nachher, wenn wir uns zum Reiten treffen.«

»Ja, frag sie mal«, antwortete Papa.

Mama seufzte. Wieder mal hatte ich Papa auf meine Seite gezogen und gewonnen: Sie machten ihre Fahrradtour und ich musste nicht mit.

Doch kaum waren sie weg, rief Elena an und sagte unseren Ausritt ab, weil sie mit ihren Eltern Verwandte besuchen musste. Aber natürlich könne ich mir eines ihrer Pferde nehmen und alleine ausreiten. Dazu hatte ich jedoch keine Lust.

Ich surfte ein bisschen im Internet und schrieb eine E-Mail an Vanessa. In Deutschland war es jetzt bereits Nachmittag. Vanessa war auf einem Stadtfest, wie sie mir letztes Mal geschrieben hatte. Ich hatte schon halb erzählt, wie das Seidenäffchen Simons Uhr geklaut hatte, als mir einfiel, dass Vanessa nichts von Simons Pfand meiner Wiederkehr wusste, denn das war eine Sache nur zwischen ihm und mir, und dass womöglich Simon meine E-Mail an sie lesen würde. Es war nicht sehr wahrscheinlich, aber möglich. Also löschte ich alles wieder. Statt E-Mails zu schreiben, sollte ich überhaupt besser versuchen, die Uhr zurückzubekommen.

Jetzt wünschte ich mir, ich hätte es doch meinen Eltern erzählt oder Elena, auch wenn ihre Ratschläge mir meistens nicht wirklich weiterhalfen.

Vielleicht hätte mein Vater den Gärtner zur Rede gestellt, auch wenn sein Spanisch noch etwas unbeholfen war. Andererseits war so ein Konflikt für Männer gefährlicher, denn die Messer saßen hier locker und Auseinandersetzungen verliefen schnell blutig. Wenn meinem Vater etwas passiert wäre, wäre ich mit schuld daran gewesen, und das hätte ich nicht ausgehalten. Meine Mutter hätte wahrscheinlich vorgeschlagen, dass wir zur Polizei gehen. Und dann hätten wir den Sonntagvormittag auf der Polizeistation verbracht. Vielleicht hätten sie uns gefragt, ob wir mit dem Gärtner gesprochen und unser Eigentum zurückgefordert hätten. Es wäre total peinlich gewesen: Ausländer, die sich reinlegen lassen, mein Vater, der nicht Manns genug ist, sich einen Gärtner zur Brust zu nehmen, und ich, ein deutsches Mädchen, das so bescheuert ist, die Tür zu öffnen, wenn ein Affe auf dem Balkon herumturnt, weil es glaubt, das Tierchen habe Hunger. Nein, das wäre wirklich zu peinlich gewesen.

Aber irgendwie musste ich Simons Pfand meiner Wiederkehr zurückbekommen. Ich war es ihm schuldig, dass ich etwas unternahm. Ich musste ihm wenigstens etwas erzählen können: »Du, ich habe alles Mögliche versucht! Alles! Aber der Gärtner hat geleugnet, das Äffchen war über alle Berge und die Polizei hat dann auch nur mit den Schultern gezuckt.«

Nichts von dem hatte ich bisher in Angriff genommen.

Also stand ich auf und ging noch mal auf den Balkon meines Zimmers, um hinunterzuschauen. Der Indio war in dem Teil der Anlage, den ich überblicken konnte, nicht mehr zu sehen. Na gut, dann eben nicht.

Nur, was fing ich jetzt mit dem Sonntag an? Meine Eltern würden nicht vor dem Nachmittag zurückkommen. Der Himmel war ausnahmsweise mal blau. Spazieren gehen?

Sonntage waren nicht meine Tage. Echt nicht. Meine Eltern hatten nie Lust, Leute zu treffen. Sie trafen schon die Woche über so viele, da wollten sie den Sonntag für sich und mit mir alle Gespräche führen, die sie die Woche über nicht führten. Die Grillnachmittage, die in unserer Siedlung El Rubí am Wochenende stattfanden, hatten sie bereits für langweilig befunden. Und auf den Diplomatenball am kommenden Samstag hatten sie natürlich auch keine Lust. Glücklicherweise fand Papa ihn aber aus beruflichen Gründen interessant. Er wollte wichtige Leute kennenlernen und ihnen seine Ideen für eine Verbesserung der Gesundheitsversorgung erläutern. Also gab es eine realistische Chance, dass wir hingehen würden. Elena redete seit Tagen von nichts anderem als dem Ball.

Aber das löste jetzt mein Problem nicht. Ich präparierte mich für einen Spaziergang: iPod, Regenjacke, Handy, Plastikschuhe. Mit den Kopfhörern im Ohr verließ ich die Wohnung. Das Treppenhaus war kalt, vor der Tür knallte die Sonne.

Mit Juanes – alias Juan Esteban Aristizábal Vázquez aus Medellín – auf den Ohren ging ich den Weg zum Siedlungstor entlang. »A Dios le pido«, sang Juanes, »Ich bitte Gott ... que mi pueblo no derrame tanta sangre, y se levante mi gente ... dass in meinem Volk nicht so viel Blut vergossen wird und dass meine Leute sich erheben ...« Dabei war es eigentlich ein Liebeslied. Aber in Kolumbien lagen Liebe und rote Revolution immer nahe beieinander.

Ich weiß nicht, was mich bewog, mich umzudrehen, vielleicht eine Ahnung, denn gehört haben konnte ich ihn nicht.

Der Gärtner kam mit großen Schritten über die Wiese heran. Mein Herz begann zu pochen. Er kam direkt auf mich zu, mit einer großen Gartenschere in der Hand, einer mit langen Teleskopgriffen, mit der man Zweige weit oben abschneiden konnte. In seiner Hand schien das Gerät nichts zu wiegen. Die Sonne stand hinter ihm, sein Gesicht lag im Schatten. Ich sah die hohen Wangenknochen, die schmalen pechschwarzen Augen, die scharf gezeichneten vollen Lippen, zusammengepresst und gezeichnet von der Härte des Lebens, die das Schicksal den Familien und Kindern der Indios, Mestizen und den Abkömmlingen der Sklaven oft schon früh bescherte. Es war ein ernstes, gleichmäßiges Gesicht, jung und dennoch reif und erwachsen. Vermutlich war er kaum älter als ich, doch für ihn hatte der Ernst des Lebens längst begonnen. Womöglich schlug er sich seit seinem dreizehnten Lebensjahr mit Jobs durch, ernährte seine Familie, Schwestern mit Kindern, seine Mutter, einen Vater, der Alkoholiker war. Wahrscheinlich war es ein enormer Glücksfall, dass ihn die Verwaltungsgesellschaft der Siedlung El Rubí angestellt hatte, damit er die Grünanlagen in Ordnung hielt. So was war wie ein Sechser im Lotto.

Wenn ich ihn des Diebstahls bezichtigte, verlor er nicht nur seinen Job, sondern die Chance seines Lebens. Und sicher würde er sich verteidigen, mit allen Mitteln. Für ihn ging es um alles, für mich nur um eine alte Uhr von geringem materiellen Wert. Wenn ich es Simon erklärte, würde er es wahrscheinlich verstehen. Aber andererseits: Konnte man es dem Indio einfach so durchgehen lassen? Ich meine, wenn er schon hier bei uns die Chance seines Lebens bekommen hatte, warum musste er dann seinen Affen auf Diebestour schicken?

Das alles ging mir blitzschnell durch den Kopf, als er ohne sichtbare Anstrengung, leicht und kraftvoll ein Mäuerchen übersprang, das den Rasen von einem Blumenbeet trennte.

Die Art, wie er sich bewegte, faszinierte mich wider Willen. Sie hatte mich schon früher fasziniert, wenn ich ihn von meinem Balkon aus in der Ferne auf dem Rasen werkeln gesehen hatte. Und es war schwer zu beschreiben, wie ich dabei auf den Gedanken kam: Armut macht glücklich. Die Nähe zur Natur, das In-der-Natur-Sein, Selbst-Natur-Sein, das er verkörperte, lebendig, kraftvoll wie der schwarze Jaguar, der in den Urwäldern jagte. Es war albern. Aber daran musste ich auch jetzt wieder denken: Wie ein Jaguar, der den Wald beherrschte. Und wenn er satt war, dann tötete er nicht.

Mit leisem Schritt eroberte er den Weg.

Unwillkürlich trat ich zurück, obwohl mir hier in der Anlage nichts passieren konnte. Absolut gar nichts. Hoffentlich! Doch was wollte er von mir mit dieser schweren Gartenschere in der Hand?

Er steckte die andere Hand in die Tasche seiner weiten Hose, zog sie wieder heraus und streckte sie mir hin. Auf seiner nicht wirklich sauberen Handfläche lag Simons Uhr.

»This is yours!«, sagte er.

Im nächsten Moment hatte ich die Uhr in meiner Hand und er hatte sich umgedreht und ging mit langen Schritten davon. Erst im zweiten Moment fiel mir auf, dass er mich auf Englisch angesprochen hatte, nicht auf Spanisch. Und dann dachte ich: »He, warte mal!« Aber falls ich es sagte, dann nur ganz leise, und da war er auch schon in einem Durchgang zwischen den Häuserblocks verschwunden.

Ich hätte ihm hinterherlaufen müssen. Aber mir klopfte das Herz im Hals. Die Luft war einfach zu dünn hier, ich geriet immer noch schnell außer Atem. Und was hätte ich, wenn ich ihm hinterhergelaufen wäre und ihn eingeholt hätte, sagen sollen? Ich hatte meine Uhr ja wieder. Er hatte sie mir nicht gestohlen. Er hatte sie dem Äffchen abgenommen. Er hatte sich gemerkt, von welchem Balkon es heruntergesprungen war. Womöglich hatte er mich an anderen Sonntagen bereits dort oben gesehen. Warum auch nicht? Kein Grund, mich aufzuregen. Es war das Normalste von der Welt. Er hatte mich nicht beobachtet, er hatte mich nur gesehen. So wie ich ihn. Man sah sich eben, man kannte sich mit der Zeit in so einer Siedlung. Die Witwe aus der Schweiz sprach sogar hin und wieder mit ihm und anderen Angestellten. Sie war eine Dame mit vom Bräunen gegerbter Haut, Brille, rotem Lippenstift und vielen Goldketten um den Hals, eine von denen, die sich für knackige junge Männer interessierten, wie Papa einmal spöttisch bemerkt hatte.

Ich würde bestimmt keinem kolumbianischen Gärtner hinterherlaufen. Das war schon mal klar. So was hatte ich nicht nötig. Auch wenn er total gut aussah, sich bewegte wie ein schwarzer Jaguar und sein Englisch besser geklungen hatte als das, was die Bettler auf der Straße einem an kaum verständlichen Worten hinterherriefen.

Ich weiß nicht mehr genau, wie ich auf die Straße hinauskam. Da fehlt mir ein Stück in der Erinnerung. Ich erlangte gewissermaßen das Bewusstsein erst wieder, als ich auf dem Gehweg stand, mit dem Fuß auf den Boden stampfte und vor mich hin sagte: »So was Albernes! Bist du bescheuert oder was?«

Ich hatte mich benommen wie eine Zwölfjährige, total kopflos: Ich hatte nicht gewusst, was ich sagen sollte, ich hatte einfach die Uhr eingesteckt und die Anlage verlassen, so als ob nichts geschehen wäre. Ich hatte nicht mal Danke gesagt. Das wäre doch das Mindeste gewesen. Irgendeine Äußerung, wie man sie unter vernünftigen, sprachbegabten Wesen tat: »Vielen Dank! Ich bin ja so froh, dass du dem Affen die Uhr abgenommen hast. Sie bedeutet mir viel. Sie ist ein Geschenk von meinem Freund!«

Damit hätte ich auch gleich klargestellt, dass zwischen dem Burschen und mir nichts laufen konnte, absolut gar nichts.

»Mann, bist du bescheuert!« Ich ertappte mich dabei, wie ich schon wieder mit dem Fuß auf die Gehwegplatten stampfte. Was für Überlegungen stellte ich denn da an? Das war doch gar nicht die Frage, ob zwischen dem Indio und mir was lief oder jemals laufen würde. Ich wusste nicht einmal, wie er hieß. Wir hatten keine drei Worte gewechselt – ich überhaupt keins und er drei, um genau zu sein –, und ich dachte schon daran klarzustellen, dass ich einen Freund hatte ...

Dabei hatte ich keinen Freund. Es wäre eine Lüge gewesen. Na ja, so halb, denn Freund konnte man ja immer sagen, und wenn ein anderer dachte, ich meinte einen festen Freund, dann musste ich das nicht so gemeint haben. Auf jeden Fall war all das, was ich da gerade dachte, sowieso total daneben.

Ich versuchte ruhig auszuatmen. Wieso nur hatte ich mich so aufgeregt? Wieso hatte ich eigentlich solche Angst gehabt? Elena hatte mich schon ganz blöd im Kopf gemacht mit ihren Schauergeschichten von Räubern, Entführern und Mördern. Ich hatte gleich sonst was gedacht. An Diebesbanden, an Messer in der Tasche, an Blut und Tod. Himmel! Dabei war alles ganz harmlos gewesen. Er hatte einfach nur gesehen, dass ein Äffchen etwas aus einem Zimmer geholt hatte. Vielleicht kannte er das Äffchen sogar. Es musste ja irgendwohin gehören mit seinem Halsband. Vielleicht wusste er sogar, dass es immer mal wieder etwas mitnahm, und hatte es deshalb angelockt und ihm die Uhr abgenommen. Dabei hatte er sich gemerkt, wo sie hingehörte.

Hätte er nicht klingeln können?, fragte ich mich. Aber dann hätte er wissen müssen, welches Klingelschild an dem zehnstöckigen Häuserblock zu dem Balkon im zweiten Stock gehörte, auf dem er mich schon gesehen hatte. Oder er hätte meinen Namen wissen müssen. Und dazu hätte er sich mehr für die Bewohner der Anlage interessieren müssen, als es einem Gärtner vermutlich zustand.

Also hatte er keine andere Wahl gehabt, als zu warten, bis ich erschien, und mir die Uhr dann zu geben. Und offenbar hatte er keine Lust gehabt, näher mit mir in Kontakt zu treten. Oder es war ihm verboten, die Töchter der Siedlungsbewohner anzusprechen. Vermutlich sogar. Wir Weißen könnten uns belästigt fühlen. Wahrscheinlich war das wirklich so.

Etwas ruhiger setzte ich meinen Weg fort. Schlüssige Erklärungen waren immer beruhigend, stellte ich fest. Der Tag war schön. Ich hatte meine Uhr wieder. Ich musste Simon nicht enttäuschen. Alles war gut. Die Straße dampfte. Der Himmel war ungewöhnlich blau, fast fleckenlos zwischen den Hochhäusern. Kirchenglocken läuteten. Ich war froh, dass meine Eltern von dem Drama meines Sonntagmorgens nichts mitbekommen hatten. Zum Glück hatte ich ihnen nichts erzählt und zum Glück hatte ich auch Elena am Telefon nichts gesagt. Sie hätte mich spätestens morgen in der Schule gelöchert. Ich hätte ihr alles haarklein erzählen müssen, auch von seinen drei englischen Worten und meiner kompletten Sprachlosigkeit.

Ich schaute mich um. Ich war bis zur Hacienda Santa Bárbara, einem Einkaufszentrum im Kolonialstil, gekommen. Ziemlich weit schon. Mir war heiß, ich zog die Jacke aus. Die Sonne schien. In Bogotá herrschte Dauerfrühling von der schwülen Sorte. In der Sonne war es sofort warm, aber wenn sie hinter düsteren Wolken verschwand, dann pfiff einem der Wind durch die Knochen.

Bogotá war eine total krasse Stadt. Sonne und Regen lagen eng beieinander, Armut und Reichtum, Frieden und Verbrechen. Ich fühlte es immer wieder körperlich. Seit sechs Wochen lebte ich jetzt hier mit einem Knoten hinterm Brustbein. Nie durfte man sich entspannen, nie unaufmerksam, nie sorglos sein. Wenn ein Auto am Straßenrand hielt – das hatte Elena mir beigebracht –, schaute man, wer ausstieg, und machte einen Bogen. Noch besser, man betrat sofort einen Laden oder ein Restaurant. Sonst wurde man plötzlich ins Auto gezerrt und entführt. Bogotá sei vergleichsweise sicher, sagten die Leute, und im nächsten Atemzug erzählten sie von einer Freundin, die vor ihrer Haustür überfallen worden sei. Es gab reichlich Parks mit Teichen und Grillplätzen, doch immer standen dort auch Leute mit Plastiktüten und hatten irgendwas auf dem Pflaster zum Verkauf ausgelegt. Männer guckten mir hinterher, und ich durfte nicht zurückgucken, sonst fühlten sie sich gleich animiert, mich anzusprechen.

Nicht viel anders verhielten sich die Rucksacktouristen aus Amerika und Europa. Sie fragten nach dem Weg und bettelten im selben Atemzug um Geld oder um einen Schlafplatz. Sie schienen zu meinen, dass sie Anspruch auf Gastfreundschaft und kostenlose warme Mahlzeiten hätten, nur weil sie einen Rucksack auf dem Rücken trugen.

Was zum Teufel machte ich hier nur? Seit sechs Wochen trugen wir jetzt Regenjacken, und von der Armut und dem Elend, die mein Vater bekämpfen wollte, hatten wir nicht wirklich etwas gesehen. Mein Vater operierte in einem privaten Krankenhaus Leute mit ordentlicher Krankenversicherung und meine Mutter testete im Labor Blutwerte. Was war daran anders als zu Hause? Hätten wir nicht wenigstens nach Cartagena gehen können? Das lag an der Karibikküste und ich hätte jeden Tag im Meer baden oder tauchen lernen können.

Vermutlich grollte ich so vor mich hin, weil ich eigentlich mit mir selbst nicht zufrieden war. Wahrscheinlich sogar. Dabei gefiel es mir doch immerhin in der Schule. Ich war Klassenbeste und niemand fand das schlimm. Der Abstand von Vanessa tat mir auch gut. Das merkte ich erst jetzt. Sie hatte bestimmt, was wir machten und auf welche Partys wir gingen. Meine Vorschläge waren nie was wert gewesen. Ich war mir immer dumm und hässlich vorgekommen. Und es war mir nie egal gewesen, was sie von mir dachte. Eigentlich war es total der Stress gewesen. Das war am Colegio Bogotano ganz anders. Elena hörte zu, wenn ich was sagte. Niemand lehnte meine Vorschläge gleich ab, niemand lächelte verächtlich, wenn ich eine Meinung äußerte. Zum ersten Mal war ich ein angesehenes Mitglied einer Clique.

Ein kalter Hauch streifte plötzlich meine nackten Arme. Ich schreckte aus meinen Grübeleien und guckte hoch zum Himmel. Er war immer noch sonnig und blau. Die Kälte kam aus dem Wald auf der anderen Straßenseite. Es war ein dichter grüner Wald an einem steilen Berghang. In dieser Stadt war die Grenze zwischen Stadt und Urwald scharf und undurchlässig.

Auch der Fußweg hatte sich verändert. Er war brüchig und schmal geworden. Die Bordsteine waren gekippt, in den Asphalt versunken oder sie fehlten ganz. Die Häuser auf der anderen Straßenseite waren niedrig geworden, rot und gelb gestrichen mit Satellitenschüsseln auf den Balkonen.

In dieser Gegend war ich noch nie gewesen. Doch in Bogotá konnte man sich eigentlich nicht verlaufen. Alle Straßen waren nummeriert. Diejenigen, die von Nord nach Süd verliefen, hießen Carrera, und alle, die von Westen nach Osten gingen, hießen Calle. Ich war aus meinem Viertel San Patricio weit nach Osten geraten und befand mich nun in der Calle 110.

Aus dem Wald sickerte feuchte Kälte. Grüne Frösche hüpften vom Fußweg. Diese Frösche fanden sich auch gern bei uns in der Dusche ein und klebten an der Wand. Mama hatte ziemlich gekreischt am ersten Morgen. Aber inzwischen hatte auch sie sich daran gewöhnt, dass in Kolumbien Sauberkeit und Ungezieferstatus einer Wohnung mit anderen Maßstäben zu messen waren. Die Frösche hüpften auch nicht herum, sie guckten nur, wenn man sich duschte, und sie fingen die Fliegen, Motten und sonstiges Insektenzeugs weg, von dem ich lieber nicht wissen wollte, wie es hieß.

Ich dachte daran, umzukehren, da fiel mir im Grün des Waldrands ein blau gestrichenes Törchen zwischen zwei weißen Pfosten auf. Auf die Pfosten waren mit roter Farbe Gesichter einer alten indianischen Kultur gemalt. Sie hatten die Formen von Dreiecken oder Kreisen. Oben auf den Pfosten saßen in Stein geschlagene würfelförmige Köpfe. Der eine davon grinste, der andere heulte und zeigte Eckzähne.

Und siehe da: Auf dem Grinsekopf turnte zirpend ein Seidenäffchen mit rotem Halsband herum. Es blickte mich mit verschreckten nussbraunen Augen an, stieß plötzlich einen spitzen Schrei aus, wobei ich seine nadelscharfen Eckzähnchen sehen konnte, und sprang in den nächsten Baum davon.

Ich ging ans Tor und spähte in den Garten, konnte aber das Äffchen nicht mehr sehen. Ein schmaler, von Pfützen durchwebter Pfad führte bergan ins dunkle Grün. An den matschigsten Stellen lagen Holzbohlen. Am Ende einer Biegung ahnte ich ein kleines Haus, eine Hütte eher.

Als ob der Affe oben Bescheid gesagt hätte, dass unten jemand war, kam jetzt ein kleiner Hund den Weg herabgekläfft. Er hatte wilde, lange braune Haare. Im Grunde sah er aus wie ein Seidenäffchen auf vier Pfoten. Er verschluckte sich fast vor Zorn. Oben am Ende des Wegs erschien außerdem eine alte Frau in bunten Kleidern, wie ich sie aus meinem Spanischunterricht in Deutschland von Fotos aus südamerikanischen Städten kannte: eine krasse Mischung aus Rot, Gelb, Violett und Blau. Es waren Farben, die sogar im Schatten leuchteten.

Die Alte rief etwas, das ich nicht verstand, was aber den Hund zum Schweigen brachte, und kam den Weg herab. Sie ging ein wenig hüftlahm und schief auf ausgelatschten Plastikschlappen. Routiniert setzte sie die Füße auf die Steine und die Bohlen zwischen den Pfützen. Es wirkte leichtfüßig, obwohl sie dick und rund war und, wie gesagt, links immer ein wenig einknickte.

Ihr Gesicht war rund, faltig und bronzefarben. Darin blitzten schwarze Augen aus schmalen Schlitzen. Ihr zu Zöpfen geflochtenes, schweres schwarzes Haar hatte silberne Strähnen. Sie war eine ungewöhnlich folkloristische Erscheinung in dieser so europäischen Stadt, wie aus Urzeiten hierhergezaubert. Vielleicht blieb ich deshalb wie gebannt stehen, statt einfach weiterzugehen. Die Alte hob die Hand und rief erneut etwas. Es klang wie: »Hola, Jasmin!«

Meinte sie mich? Das konnte nicht sein.

Sie lächelte breit und winkte. Zwischen ihren scharf gezeichneten Lippen blitzten zwei Goldzähne. Ich wollte mich nun doch abwenden, da rief sie noch einmal, und diesmal war kein Irrtum möglich.

»Hallo, Jasmin!«

Ich blieb stehen, wie gebannt, wie hypnotisiert, wie verzaubert. Vielleicht war sie eine Hexe. Ich wollte innerlich lachen: Das war total bescheuert. Es gab keine Hexen. Wirklich nicht? In Südamerika mit seinen alten Göttern, Medizinmännern und heilenden Frauen war alles anders. Wir hatten in der Schule García Márquez gelesen, Hundert Jahre Einsamkeit. Eine Geschichte von Ameisen, die die Macht übernahmen, Vorahnungen und Magie. Ich hatte das nicht so ernst genommen. Das war dichterische Freiheit. Kolumbianische Schriftsteller glaubten an Zauberei, aber ich nicht. Ich war Jasmin Auweiler aus Konstanz, sechzehn Jahre, und glaubte nicht an Zeichen, Vorahnungen und Flüche.

Doch plötzlich war ich mir da nicht mehr so sicher. Wieso war ich hierhergegangen, wie war ich in diese Gegend gekommen? Was für ein seltsamer Zufall, dass ich hier das Äffchen wiedersah, das mir vor drei Stunden mindestens drei Kilometer weg von hier eine Uhr gestohlen hatte, die ich von einem indianischen Gärtner zurückbekommen hatte ... Oder hatte ich mir das Äffchen nur eingebildet? Und wieso wusste die Alte meinen Namen?

Ich stand da, als wären meine Schuhe festgeklebt, und schaute der Alten entgegen, die mit sicherem, aber schiefem Schritt über die Pfützen hüpfte, dass ihre Röcke schaukelten; als ob sie mich verzaubert hätte. Und wenn sie mir mit dem Daumennagel ein Kreuz auf die Stirn geritzt hätte, ich hätte es geschehen lassen wie ein Opferlamm.

Etwas außer Atem langte die Alte am Tor an. In ihren schwarzen Augen funkelten unheimliche Geschichten von Opfern und Heldentaten, von Liebe und Tod, die Mythen alter Kulturen aus den Zeiten vor der blutigen Eroberung durch die Spanier. Sie lächelte und wischte sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. So alt, wie ich erst gedacht hatte, war sie wohl doch nicht. Jedenfalls nicht hundert Jahre oder so, sondern vielleicht siebzig oder vielleicht auch nur fünfzig? Hierzulande wurde eine Frau schnell Großmutter, denn viele Mädchen brachten mit vierzehn ihr erstes Kind auf die Welt.

Sie zog von innen den Riegel der blauen Gartentür zurück und sagte: »Pasa, Jasmin! Komm rein.«

»Sie kennen mich?«, fragte ich ziemlich blöde. »Woher denn? Ich kenne Sie nicht. Wir sind uns nirgendwo begegnet. Sie können mich nicht kennen!«

Sie lachte meckernd. »Die blauäugige Jungfrau von El Rubí, wie sollte ich dich nicht kennen?«

Ich erschrak. Sie hatte »virgen« gesagt, Jungfrau. Wie kam sie dazu? Sah man mir das etwa an? Und woran sah man das? Es war total peinlich! Es war das Schlimmste, was mir an diesem Scheißsonntagmorgen noch hatte passieren können. Nicht einmal meiner Tante Valentina hatte ich gestanden, dass ich noch nie was mit einem Jungen gehabt hatte. Auch wenn sie wahrscheinlich ahnte, dass sich hinter meinen Besuchen bei Simon nicht unbedingt das verbarg, von dem ich gerne wollte, dass sie es glaubte. Und die anderen Jungs auch.

Wenn mich die Erwachsenen fragten, ob ich denn »schon einen Freund hätte«, dann pflegte ich zu antworten: »Momentan nicht.« Dann dachten sie, ich hätte mich getrennt oder so. Allein ihr »schon« war eine Unverschämtheit. Ich fragte die Freunde und Bekannten meiner Eltern, etwa die Frau vom Professor, doch auch nicht, ob sie schon mal geschieden worden seien oder einen Geliebten hätten. Aber mich fragten sie, ob ich »schon einen Freund« hätte. Und was ich denn mal werden wollte und so weiter.

Und jetzt die Alte. Jungfrau! Ja gut, ich war sechzehn und noch Jungfrau, aber wen ging das was an? Stolz war ich bestimmt nicht darauf. Ich hatte nicht vor, meine Jungfräulichkeit mit in irgendeine Ehe zu bringen. Im Gegenteil. Dem Jungen, mit dem ich eines Tages zum ersten Mal schlafen würde, dem würde ich gar nicht sagen, dass ich noch nie vorher mit einem anderen was gehabt hatte. Er sollte sich nichts darauf einbilden, dass er der Erste war. Ich würde einfach sagen, dass ich gerade meine Tage bekommen hätte.

»Woher kennen Sie mich?«, fragte ich noch einmal und reichlich verärgert.

Die Alte lächelte mit blitzenden Goldzähnen. »Ich bin Mama Lula Juanita. K’lum und Cuene erzählen mir alles.«

»Wer?«

»Der Kobold und der Gott des Blitzes.«

»An so was glaube ich nicht! Lassen Sie mich in Ruhe, ja? Und wenn ich den diebischen Affen noch einmal bei mir sehe, dann gehe ich zur Polizei! Jetzt weiß ich ja, wo er hingehört.«

Die Alte wurde schlagartig ernst.

Jetzt wird sie mich gleich verfluchen, dachte ich. Das musste ich mir nicht anhören. Ich drehte mich einfach um und rannte los. Ein Donnerschlag dröhnte über der Stadt. Irgendwo ging gerade ein Gewitterregen nieder. Bogotá war so riesig, dass immer irgendwo anderes Wetter herrschte als dort, wo man selbst gerade war.

Ich lief direkt nach Hause und verbrachte den Rest des Tages mit Musikhören und meinen Schulbüchern, in denen ich kaum las. Am Nachmittag kamen meine Eltern wieder. Papa war fröhlich, Mama hatte Migräne und legte sich ins Bett. Ich erzählte ihnen nichts von dem, was ich erlebt hatte.

Der Ruf des Kolibris
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