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Die Dame hieß Felicity Melroy, war verwitwet, lebte seit fünfzig Jahren in Bogotá und vollbrachte Wunder. Sie neigte zum Spötteln, war aber, wie mir schien, eine zupackende und herzliche Frau. Als sie ein junges Mädchen war, erzählte sie, seien ihr auch immer solche Missgeschicke passiert. Immer wieder habe sie mit rotem Kopf dagestanden, bis sie sich entschlossen habe, es von der komischen Seite zu nehmen.

»Meinen Mann hätte ich überhaupt nie kennengelernt«, erzählte sie, während sie meinen Fleck mit einem Taschentuch aus ihrer Handtasche abrieb, »wenn mir nicht ein Depp die Stola angezündet hätte – er ist später irgendwo Präsident geworden, ich glaube in Bolivien – und mein späterer Mann die Flammen mit seinem Jackett gelöscht hätte. Meine Haare waren auch angesengt, aber wir haben uns halb totgelacht. Es ist alles zu was gut. So, und jetzt gehen wir erhobenen Hauptes in den Saal.«

Ich hielt nach Damián Ausschau, konnte ihn aber nicht finden unter den gut zweihundert Menschen an den zwanzig Tischen unter den Kronleuchtern. Überdies eilte bereits das Dienstpersonal zwischen den Tischen umher und verteilte die Vorspeisen. Ich bin sicher, Damián sah mich, denn wer wollte, sah uns eintreten. John nickte mir freundlich lächelnd zu, als wir seinen Tisch passierten. Ich sah Elena zwischen ihrem Vater und ihrer Mutter, aber keinen Indio im Smoking. Und jemand winkte hektisch vom anderen Ende des Saals und rief: »Hier, Jasmin!« Es war meine Mutter. Jetzt wussten auch alle, die es wissen wollten, wie ich hieß.

»Das hat aber lang gedauert«, bemerkte meine Mutter, als ich mich endlich setzte.

»Du kannst dich glücklich schätzen, dass du die Reden verpasst hast«, sagte mein Vater.

Bei uns am Tisch saßen der Direktor der Klinik San Vicente mit seiner Frau, außerdem Claudia Aldana, die Direktorin des Colegio Bogotano, mit ihrem Mann und der Pfarrer mit seiner Frau, ein Industrieller, zwei alte Damen und ein Mann, dem der schwarze Anzug nicht richtig passte und der mit einer Kamera mit Teleobjektiv ausgerüstet war. Er war der Reporter von El Tiempo, der Tageszeitung von Bogotá.

Das Essen sah aus und schmeckte, als hätten kolumbianische Köche nach Kochbuch englisch kochen müssen. Es war eine Mischung aus grünen Erbsen, Lammfleisch, Chips und Chilisoße. Als Beilage gab es Maniok, Reis, Avocados und Süßkartoffeln. Es war schaurig. Und es war auch unendlich langweilig. Elena saß Kilometer von mir entfernt. Mein Vater war missgestimmt, denn Präsident Uribe hatte sich entschuldigen lassen. Wichtige Amtsgeschäfte. Er hatte die Kommunikationsministerin mit dem fantastischen Namen Maria del Rosario Guerra de la Espriella geschickt. Ich war auch nicht sonderlich gut drauf. Denn so sehr ich auch den Hals verrenkte, was zudem nicht zu sehr auffallen durfte, ich sah Damián nirgendwo.

Nach den üblichen Fragen der Tischnachbarn meiner Eltern, wie mir das Land gefalle und was ich mal werden wolle, blieb ich mir selbst überlassen und begann, mir darüber Gedanken zu machen, ob das Serviermädchen, das durch den Rippenstoß der Tochter eines Bankers ins Straucheln gekommen war und mir die Getränke übers Kleid geschüttet hatte, wirklich entlassen wurde. Es konnte doch nichts dafür. Und ich hatte mich über einen albernen Fleck fürchterlich aufgeregt und dabei nur an mich gedacht.

Hatte man sie schon weggeschickt, fragte ich mich, oder ließ man sie heute noch zu Ende arbeiten, als Tellerwäscherin in der Küche zum Beispiel? Dann hatte ich vielleicht noch eine Chance, alles richtigzustellen. Am liebsten wäre ich sofort aufgestanden und hätte den Chefkellner gesucht. Aber der hatte jetzt vermutlich auch anderes zu tun, als sich mit mir und meiner Bitte zu beschäftigen. Die Teller des Hauptgangs wurden abgetragen. Der Yorkshirepudding, ein eigentlich luftiges Gebilde, wie mein Vater mir erklärte, hatte die Konsistenz von Kautschuk mit Leim gehabt. Nachdem endlich auch der Nachtisch aufgetragen worden war, Pfefferminzeis – nicht essbar! – und Obstsalat, Nüsse und Flan, wurde es unruhiger in dem großen Saal. Die ersten begannen aufzustehen.

Endlich!

Elena passte mich auf dem Weg in Richtung der Türen ab, aus denen die Kellner kamen. Ich erklärte ihr, was ich vorhatte. Sie meinte, das müsste ich nicht tun, auch in Kolumbien gebe es Gewerkschaften, aber sie schloss sich mir an. Wir traten an die Türen heran, durch die wie die Bienen die Kellner ein- und ausschwärmten. Ich fragte eine Kellnerin, die gerade zurückkam, ob wir mal kurz den Chef oder den Geschäftsführer oder den Verantwortlichen sprechen könnten. Nach einer Weile erschien ein verschwitzter Mann. Er war zwei Köpfe kleiner als ich, was ihm sichtlich missfiel. Als er jedoch merkte, dass wir uns nicht beschweren wollten, wurde er freundlich, fast ein bisschen zu freundlich, machte uns Komplimente und bestritt mit großer Geste, dass die Kellnerin Konsequenzen befürchten müsse. Ich hatte den Eindruck, dass er das Blaue vom Himmel runterlog.

Ich fragte, ob ich die Kellnerin mal sprechen könnte.

Das brachte ihn ins Schlingern. Es sei jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, lavierte er, es gebe viel zu tun. Ob ich in einer Stunde noch mal wiederkommen könnte.

»Wie heißt sie denn?«

»Das weiß ich nicht«, antwortete er. »Es sind fünfzig Leute. Und viele sind nur für heute eingestellt.«

»Mein Kleid ist wieder sauber«, erklärte ich mit Nachdruck. »Sehen Sie. Es ist überhaupt nichts passiert. Die Kellnerin kann nichts dafür. Ich möchte nicht, dass sie meinetwegen Nachteile hat. Dann könnte ich nicht mehr ruhig schlafen.«

»Regen Sie sich nicht auf!«, sagte er. »Natürlich möchte ich nicht, dass Sie nicht ruhig schlafen können. Kommen Sie in einer Stunde wieder oder in zwei. Und jetzt bitte ich um Entschuldigung. Ich habe zu tun.«

»Na, immerhin haben wir es versucht«, bemerkte Elena.

»Aber das reicht nicht!«, schnaubte ich. »Versuchen reicht nicht. Ich werde in einer Stunde hier noch mal nachfragen. Und wehe, wenn sie dann nicht da ist!«

»Was dann?«

»Dann mache ich einen Riesenaufstand.«

»Dickschädel!«, lachte Elena. So nannte sie mich immer, wenn sie meinte, ich verhielte mich typisch deutsch. Sie wollte in den Tanzsaal. Es gab auch eine Bar, die sich langsam füllte, ein englisches Klubzimmer, in dem der Zigarrenqualm in Schwaden unter der Decke hing, und einen Tearoom, wo Damen mit Hüten in feinen Porzellantassen rührten.

Der Botschafter und seine Frau eröffneten den Tanz mit einem Walzer.

Wenn ich behaupten wollte, ich hätte nicht die ganze Zeit nach einer breitschultrigen Gestalt mit pechschwarzem Haar Ausschau gehalten, hätte ich gelogen. Einmal meinte ich, Damián ganz hinten in einer Ecke gesehen zu haben, kurz bevor sich die Menge zwischen ihm und mir schloss, aber als ich wieder freien Blick hatte, war er nicht mehr dort. Du spinnst!, sagte ich mir. Was willst du denn von ihm? Das kann nichts werden. Definitiv nicht. Er interessiert sich doch auch überhaupt nicht für dich, sonst hätte er dich jetzt schon gefunden und zum Tanzen aufgefordert.

Enttäuschung sickerte mir in die Glieder. Ich spürte sie wirklich körperlich. Sie lähmte meine Beine und Hände und meine Seele. Es fiel mir schwer, mich auf den Beinen zu halten. Der Ball kam mir auf einmal unendlich öde vor. Was machten wir hier eigentlich? Ich dachte, ich müsste sterben, wenn ich jetzt nicht sofort ging. Aber Elena hätte das nicht verstanden. Und meine Eltern auch nicht. »Bist du krank?«, hätte meine Mutter gefragt und ihr sorgenvolles Gesicht aufgelegt, mit dem sie an Wärmflaschen dachte und an mein Lieblingsessen, das sie mir kochen würde. Ich hasste das. Ich war kein kleines Kind mehr, das sich vom Papa vertrauensvoll den Puls fühlen ließ und sich danach schon viel besser fühlte. Dabei war es ihm eigentlich immer ein bisschen peinlich, wenn er mich als Arzt untersuchen musste. Aber Mama bestand darauf: »Wenn wir schon einen Arzt in der Familie haben!«

Ich versuchte, die innere Lähmung abzuschütteln. Zum Glück merkte Elena nichts, ein bisschen beschwipst, wie sie bereits war. Außerdem hatte sich inzwischen John Green zu uns gesellt. Weil ich ziemlich wortkarg war, beschäftigte er sich notgedrungen intensiver mit Elena. Und dann kam es, wie es kommen musste: Es war Elena, nicht ich, die er auf die Tanzfläche führte. Es war wie daheim mit Vanessa. So war es immer. Ich war schlecht gelaunt, mein Kleid hatte einen Fleck und deshalb wandten sich die Jungs meinen Freundinnen zu. Es lag an mir, ich wusste es. Ich musste heiterer und unbeschwerter sein, mehr lächeln, plappern, lachen und all das. Aber ich war eben nicht so eine, die auf Knopfdruck fröhlich war und mit einem Jungen flirtete, der sich die Ehre gab, sich für mich zu interessieren. »Na, lassen sie dich wieder stehen?«, fiel mich von schräg hinten eine Stimme an. Es war Felicity Melroy, die Dame in Grau. Wegen der lauten Musik musste sie sich meinem Ohr nähern und ziemlich schreien. Ich roch ihr Parfüm.

»Ich habe keine Lust zu tanzen«, erwiderte ich.

»Oh!«, lachte sie. »Schlechte Laune. Ist dein Schätzchen nicht da? Hat er dich versetzt? Komm mal mit, Kindchen. Wir geben die vornehmen Damen und gehen Tee trinken.«

Ich winkte Elena zu und bedeutete ihr mit Gesten, dass ich nach nebenan ging, aber ich war nicht sicher, ob sie mich verstand. Egal. Mrs Melroy führte mich in den Tearoom, in dem in erstaunlicher Stille ein Dutzend alte Damen leise miteinander redeten. Wir fanden ein Plätzchen in einer Ecke. Felicity bestellte zwei Earl Grey. »Der macht munter«, befand sie. »So, und nun erzähl mal. Was ist los?«

Ich hatte eigentlich keine Lust, etwas zu erzählen. Wie hätte ich meinen Zustand auch in Worte fassen sollen? Mrs Melroy hätte nur gedacht, dass ich in diesen Damián verliebt sei. Aber das war ich nicht. Mein Problem war, dachte ich, dass ich nicht wusste, ob er gefährlich war. Er hatte dem armen Kellner gedroht, dessen Mutter und Schwestern zu töten. So einer war Hausmeistergehilfe in meiner Schule. Und ich wusste verdammt noch mal einfach nicht, was ich tun musste. War er ein Spion der FARC, ein Untergrundkämpfer, der einen Anschlag in Bogotá vorbereitete oder eine Entführung? Hatte er sich im Smoking hier eingeschlichen, um irgendwas zu tun oder auszukundschaften? Immerhin hatte Präsident Uribe ursprünglich sein Kommen angekündigt. Und nun war Damián verschwunden, gegangen, weil statt des Präsidenten die Kommunikationsministerin gekommen war und das, was er vorgehabt hatte, nun nicht mehr stattfinden konnte. Vielleicht war der Kellner sein Komplize gewesen und er hatte sich mit ihm gestritten, weil etwas schiefgegangen war oder die Informationen nicht gestimmt hatten.

»Ich bin gegen meinen Willen in Kolumbien«, sagte ich, damit Mrs Melroy etwas zu hören bekam. »Ich wollte nicht. Aber meine Eltern haben es einfach beschlossen, und weil ich erst sechzehn bin, musste ich mit. Punktum. Dabei hätte meine Tante Valentina mich so lange genommen.«

»Und nun grollst du deinen Eltern immer noch? Du Dummerchen.«

Wir sprachen Spanisch und sie duzte mich konsequent. Aber ich brachte es nicht fertig, sie auch zu duzen. Obwohl es mich ärgerte. Und es ärgerte mich auch, dass sie mich Dummerchen nannte. Mich ärgerte eigentlich alles an ihr, aber sie faszinierte mich auch, ohne dass ich mir erklären konnte, warum.

»Ihr jungen Mädchen«, sagte sie, »meint immer, ihr wüsstet genau, was gut für euch ist. Und eure Eltern hätten keine Ahnung davon. Sie dächten nur an sich selbst. Aber das ist ein Irrtum! Deine Eltern denken permanent an dich. Sie zerbrechen sich den Kopf über dich. Sie machen sich ununterbrochen Sorgen, ob auch alles richtig läuft. Denn du hast keine Ahnung, was wirklich gut für dich ist. Dazu fehlt dir die Lebenserfahrung, glaub mir. Jaja, du bist intelligent und klug und all das. Mit sechzehn ist man im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte, intelligenter wird man nicht, aber deine Gefühle, die befinden sich noch im Chaos. Die sind noch nicht richtig justiert. Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt, so ist das. Du verstehst dich selbst oft am wenigsten.«

Ich nickte unwillkürlich.

»Ich sage dir, dagegen kann man nichts machen. Nur abwarten. Deshalb, glaub mir, ist es gut, wenn du auf uns Erwachsene hörst. Hast du einen Freund?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Wirklich nicht? Hast du keinen in Deutschland zurückgelassen, den du ein bisschen magst?«

Ich musste lachen. »Das schon. Aber ... na ja ...«

»Er ist in eine andere verliebt.«

Ich nickte. »Aber ich war nie in ihn verliebt. Nicht wirklich.«

»Dann ist es ja gut. Und wo ist jetzt das Problem?«

»Es gibt kein Problem.«

Felicity Melroy lachte. »Ich stelle zu viele indiskrete Fragen, ich weiß, das ist weder britisch noch spanisch. Aber sehr deutsch. Aber natürlich musst du mir nicht erzählen, was du auf dem Herzen hast, Kindchen. Worüber wollen wir dann reden. Übers Wetter?«

»Das ist wirklich grauenhaft«, stöhnte ich. »Immer muss man Regenjacken mitnehmen. Übrigens ...« Endlich fiel mir etwas ein, was ich für einigermaßen ungefährlich hielt. »... war ich kürzlich mal spazieren und bin auf eine Hütte gestoßen. Die Hütte ist nicht das Besondere, aber die Pfosten unten am Törchen. Sie sind bemalt mit seltsamen Gesichtern.«

»Was für Gesichter?«

»Relativ geometrisch, in Dreiecken und Quadraten.«

»Dann weiß ich, welches Haus du meinst. Es steht sogar in irgendeinem Reiseführer. Das sind Figuren aus Tierradentro.«

»Was?«

Auf Deutsch übersetzt hieß Tierradentro so etwas wie »in der Erde«.

»Das ist eine geheimnisvolle Grabstätte in den Zentralanden«, erklärte Felicity Melroy. »Sie gehört dem indigenen Volk der Páez. Sie selbst nennen sich Nasa. Es sind die einzigen unterirdischen Gräber, die man hier bislang gefunden hat. Katakomben. Sie sind ausgemalt. Es lohnt sich, da mal hinzufahren. Die Hütte hier in Bogotá gehört einer Medizinfrau der Páez, einer weisen Frau. Sie ist ein wandelndes Buch, sage ich immer. Was sie alles weiß. Viel mehr, als man ihr zutrauen würde. Man sagt, ihr Dorf habe sie ausgestoßen, weil sie zu klug ist. Bei den Páez haben die alten Männer das Sagen, nicht die Frauen. Ich kenne übrigens Leute, die zu ihr gegangen sind und geheilt wurden. Sie kennt sich mit Kräutern und Naturheilmethoden aus, aber sie hat auch geheimnisvolle Kräfte. Man erzählt sich da die erstaunlichsten Dinge. Aber hier erzählt man immer gern von magischen Ereignissen. Alles ist Magie. Die Kolumbianer glauben an Zauberei. Und auf uns Europäer wirkt das besonders, sage ich immer, weil wir es nicht gewohnt sind.«

»Wie?«

Sie lachte. »Du bist doch auch schon ganz blass geworden, Jasmin. Es ist dir unheimlich.«

»Es ist doch auch unheimlich!«

»Ja, aber nur, weil du nicht gewohnt bist, so zu denken. Die Indios hier glauben an Geister, sie glauben, dass die Wälder den Kobolden gehören, sie glauben, dass man seine Seele verlieren kann, wenn man sich erschreckt, und solche Dinge. Sie leiden körperlich darunter, sie leiden an Depressionen und Blutarmut, und nur ein Medizinmann kann ihre Seele zurückholen, wenn er sie an den Ort des Schreckens zurückführt. Wir Europäer würden das vielleicht Psychoanalyse nennen oder Traumabehandlung. Dann ist es gleich viel weniger unheimlich, nicht wahr? Es sind ganz normale Vorgänge für die Leute hier, alltägliche Wunder. Sie haben keine Angst davor. Es ist normal, dass sich unerklärliche Dinge ereignen. Nur wir suchen immer nach Erklärungen. Und was wir nicht logisch erfassen können, macht uns Angst. Aber du musst keine Angst haben. Es gibt keinen Schadenszauber, es sei denn, man glaubt daran.«

Ich nickte. »Und was ist mit den Páez oder Nasas? Wer sind die?«

»Es gibt von ihnen schätzungsweise noch 100.000. Sie sind ein sehr friedliches Volk, heißt es. Sie weigern sich seit vierzig Jahren erfolgreich, an den kriegerischen Auseinandersetzungen in Kolumbien teilzunehmen. Sie bauen Koka an und halten Schafe. Die Frauen färben Schafwolle und stricken. Mehr weiß ich nicht. Aber wenn es dich interessiert, dann stelle ich dich unserem Professor Torres y Torres vor. Er ist Anthropologe und erforscht seit Langem die indigenen Völker. Irgendwo habe ich ihn heute Abend schon gesehen.«

Sie machte Anstalten aufzustehen. Da klingelte mein Handy. Es war Elena, die mich suchte.

Felicity lächelte. »Du musst los, ich verstehe! Hat mich gefreut, dass wir uns kennengelernt haben.«

»Mich auch«, sagte ich.

»Wir sehen uns sicher bei nächster Gelegenheit wieder! Und jetzt spring schon, Kindchen.«

Als ich am Eingang des Tanzsaals anlangte, waren Elena und John nirgendwo zu sehen. Die Band hatte inzwischen auf Diskomusik umgestellt. Die älteren Herrschaften strömten zur Bar, in die Klub- und Teeräume und in die Lounges. Alle waren von hier nach dort unterwegs. Ich erinnerte mich, dass ich ja eine Verabredung mit der Kellnerin hatte, die mir den Fleck auf dem Kleid beschert hatte, und begab mich zum Speisesaal. Die großen runden Tische waren nahezu verlassen. Die Kronleuchter strahlten auf die weißen Tischdecken herab. Das Servicepersonal war damit beschäftigt, abzuräumen und für das Supper – den Tee mit Snacks – neu aufzudecken. Nur wenige Leute waren an den Tischen sitzen geblieben, darunter mein Vater. Er befand sich in einem intensiven Gespräch mit Elenas Vater Leandro Perea. Ich steuerte die Küchentüren an und fragte eine der Kellnerinnen nach dem Chef. Sie versprach, nachzuschauen, wo er sich befand, und kam nach einigen Minuten mit der Mitteilung wieder, er sei gerade nicht da. Sie sah müde aus.

Ich schilderte der Kellnerin mein Gespräch mit dem Chef und dass er gesagt habe, ich solle in einer Stunde wiederkommen.

Ein Lächeln erhellte plötzlich das Gesicht der Kellnerin. »Ach, Sie sind das«, sagte sie. »Jemand hat vorhin erzählt, dass Sie sich für Manuela eingesetzt hätten. Aber leider hat man sie sofort weggeschickt, nachdem das passiert war.«

»Kennen Sie sie?«, erkundigte ich mich. »Haben Sie ihre Adresse?«

Die Kellnerin schüttelte bedauernd den Kopf, versprach aber, herumzufragen, ob jemand sie kenne. »Was wollen Sie denn von ihr?«

»Ich wollte ihr nur sagen, dass ich ...« Ich unterbrach mich. Was redete ich da eigentlich? Es würde dieser Manuela wenig helfen, wenn ich ihr erklärte, dass ich nicht verantwortlich war für ihre Entlassung. Das klang bestenfalls so, als wollte ich mein schlechtes Gewissen beruhigen. Und wie ich mich fühlte, konnte Manuela völlig egal sein. Sie hatte vermutlich viel existenziellere Sorgen. Am Ende erwartete sie von mir noch, dass ich ihr einen neuen Job besorgte. Und das konnte ich nicht. Oder dass ich ihr Geld gab. Wer weiß.

»Ach nichts«, sagte ich. »Nichts. Ich dachte nur ... Ich wollte nicht, dass sie entlassen wird.«

»Ich weiß«, antwortete die Kellnerin und drückte mir kurz und herzlich den Arm. »Sie sind ein guter Mensch. Aber machen Sie sich nicht so viele Gedanken. Das Leben ist ein Auf und Ab.«

Damit war sie hinter der Schwingtür zur Küche verschwunden.

Das Ganze war ein Schuss in den Ofen gewesen, dachte ich. Typisch Jasmin. Viel Wind, wenig Ergebnisse, gut gemeint, aber sinnlos, und all das. Was hätte Mrs Melroy wohl dazu gesagt? Wahrscheinlich hätte sie gespöttelt: »Jasmin will alleine die Welt verbessern!« Es war wirklich schwierig, das Richtige zu tun. Ich seufzte tief. Jetzt musste ich Elena finden.

Ich drehte mich um und stand unmittelbar vor einer Gestalt im Smoking mit pechschwarzen Haaren und schmalen Kohleaugen.

»Damián!«

Seine Brauen zuckten leicht. »Du kennst meinen Namen?«

»Damián Dagua«, antwortete ich. »Ex-Schüler des Colegio Bogotano und heute Hausmeistergehilfe und ... und Gärtner in der Siedlung El Rubí

Er deutete ein Lächeln an. »Du hast dir viel Mühe gegeben, das herauszufinden.«

»Nein, gar nicht.«

Mir fiel auf, dass er mich jetzt duzte, was dem normalen Umgangston hierzulande viel mehr entsprach. Auch wenn er im Halbschatten der Sichtblenden zwischen Speisesaal und Küchentür stand und ich sein Gesicht nicht so deutlich sehen konnte, wirkte er auf mich entspannter als die anderen Male, wo wir uns begegnet waren. Ein leichtes Lächeln lag auf seinen Lippen.

»Und seit drei Stunden«, sagte er, »fragst du dich, was ich auf dem Diplomatenball verloren habe? Ein Hausmeistergehilfe, Gärtner und ... Dieb.«

Ich konnte nicht anders, ich nickte. »Aber im Grunde«, stotterte ich, »geht es mich ja nichts an.«

»Wir Indígenas stehen immer unter Generalverdacht.«

»Nein! Das stimmt nicht. Jedenfalls nicht, was mich betrifft.«

Ich sagte es mit Nachdruck und großer Leidenschaft. Und in diesem Augenblick zerstoben und verflogen alle meine Überlegungen der letzten Woche und all meine selbstquälerischen Fragen der letzten Stunden. Nein, Damián stand nicht unter Generalverdacht. Schon gar nicht, weil er ein Indio war. Wie hatte ich ihn auch nur eine Sekunde lang für einen Dieb halten können? Er hatte mir meine Uhr doch sofort zurückgegeben. Bei erster Gelegenheit. Und was waren das für kranke Ideen gewesen, er sei auf dem Ball als Undercover-Revolutionär im Dienst der FARC unterwegs? Sogar Pläne für ein Attentat auf Präsident Uribe hatte ich ihm unterstellt! Ich musste von allen guten Geistern verlassen gewesen sein. Jeder Mensch ist unschuldig bis zum Beweis des Gegenteils. Und jetzt stand er vor mir. Warum, wenn nicht, um sich meinen dummen und kindischen Vorwürfen zu stellen und sie zu entkräften? Immerhin fand er es wichtig, es zu tun und die Dinge richtigzustellen, mir, einer Deutschen, gegenüber, die ihm nichts bedeutete und deren Gefühle und Gedanken ihm völlig gleichgültig sein konnten.

Ein eigenartig reserviertes Lächeln spielte auf seinen Lippen, ernst und zugleich amüsiert. Ich spürte, wie er Luft holte, um mir zu antworten.

Da rief jemand: »Achtung!« Aus dem Augenwinkel sah ich drei Kellner aus dem Saal heraneilen und die Schleuse aus Stellwänden stürmen, beladen mit Stapeln von Tellern und Tabletts mit benutzten Gläsern auf dem Weg in die Küche. Ich musste beiseitespringen, wenn ich nicht über den Haufen gerannt werden wollte, und prallte gegen Damián.

Ich spürte seine Hand zwischen meinen Schulterblättern, warm und kräftig, und die Härte seiner Brust unter den raschelnden Stoffen von Jackett und Hemd an meiner Schulter, die zuckenden Muskeln, den raschen Griff seiner Hand an meinen Ellbogen, um zu verhindern, dass ich das Gleichgewicht verlor. Ich atmete tief ein, atmete den Geruch von frischer Wäsche, der sich nach all den Stunden im Anzug mit einem Hauch von Schweiß mischte, der mir unendlich köstlich erschien. Es war ein berauschender, ein wilder und würziger Duft nach Dschungel und Zivilisation, den ich nie wieder in meinem Leben vergessen werde. Ich spürte, wie sich sein Brustkorb hob. Im nächsten Moment hatte er mich sanft von sich geschoben. Seine Augen blitzten, das Lächeln war von seinen Lippen verschwunden, ein Anflug von Bitterkeit zuckte in seinen Mundwinkeln. Er sah mich an. Ich dachte schon, er werde nichts mehr sagen, sondern sich einfach umdrehen und gehen, aber dann sagte er hastig und leise: »Wir gehen besser woanders hin.«

Wohin denn?, fragte ich mich. Wo konnten wir hin in diesem Trubel? Mein Herz begann wie wild zu klopfen. Was dachte ich denn da?

»Komm!«, sagte er, drehte sich um und trat in den leeren, abgefressenen Speisesaal hinaus. Die Stadt glitzerte endlos in den Panoramafenstern, der Himmel war stockfinster, vermutlich bewölkt. Man sah die Magistralen im Lichtermeer ihre Kielspuren ziehen. Vermutlich war ich einen Moment stehen geblieben.

»Von ganz oben hat man einen noch besseren Ausblick«, hörte ich Damián jedenfalls sagen. »Wenn du willst ... ?«

Ich nickte nur.

Ich dachte, wir würden den Fahrstuhl nie erreichen, so dicht war das Gewühl im Vestibül, oder ich würde vorher ohnmächtig werden. Und stets fürchtete ich, Elena mit John im Schlepptau würde uns in die Quere kommen mit ihrem lauten Geschrei und ihrem »Hier bist du ja, ich suche dich schon eine Ewigkeit!«. Und John würde darauf bestehen, dass man sich einander vorstellte. Ich würde den Namen meines Begleiters nennen müssen. »Das ist Damián Dagua!« Und Elena würde entweder schreien: »Der Dieb!«, oder sie würde verstummen und ihn vorwurfsvoll oder erschreckt anstarren. Solche oder andere Peinlichkeiten konnte ich jetzt gar nicht brauchen. Auch nicht meine Mutter, die mir am Kleid zippelte und mein Haar zu unordentlich fand, oder meinen Vater, der »Amüsierst du dich gut?« fragte. Und am schlimmsten wäre es gewesen, wenn Felicity Melroy mit ihrem spöttischen Lächeln uns gestoppt und bemerkt hätte: »Na, hast du doch noch einen gefunden. Na bitte, jetzt wird ja alles gut.«

Nichts war gut. Doch noch nie in meinem Leben war ich so entschlossen gewesen, genau das zu wollen, hinzunehmen, was kam, furchtlos und zugleich voller Angst. Du bist wahnsinnig, sagte ich mir, und es war mir egal. Ich war wahnsinnig. Ich ging mit einem Mann mit, den ich nicht kannte. Und wenn er mich entführte? Verschleppte? Wenn ich jetzt den entscheidenden Fehler meines Lebens machte? Egal. Es musste sein. Es gab kein Zurück mehr!

Damián drückte auf den Fahrstuhlknopf. Wir schwiegen. Aus dem Vestibül drang das Gemurmel der Leute. Gelegentlich Gelächter. Die Töne der Band wummerten aus dem Ballsaal herüber.

Wir schauten uns nicht an. Wie gebannt starrten wir auf das Lämpchen, das anzeigte, dass der Fahrstuhl von unten heraufkam. Schließlich hielt er mit einem Pling. Die Tür öffnete sich, wir traten in die Kabine.

In ihr standen schon zwei Personen, ein Mann und eine Frau, beide älter als wir, aber auch nicht so alt wie meine Eltern. Der Mann fuhr sich über die Haare, sie kicherte beschwipst und taumelte gegen ihn, als der Fahrstuhl anfuhr. Damián senkte den Blick, verkniff sich ein Lächeln. Er drückte den obersten Knopf und hob den Blick zur Stockwerkanzeige. An seinem Hals pochte eine Ader, ruhig, aber kräftig. Wangen und Kinn waren glatt rasiert und schimmerten wie bronzefarbener Satin. Seine Lippen waren einen Ton dunkler und bis in die Winkel deutlich und scharf gezeichnet. Die Wimpern seiner Augen waren lang und schwarz. Bei jedem Lidschlag schienen sich die Wimpern des Lids in den dichten Wimpern des Unterlids verfangen zu wollen. Sein Haar war, wie ich schon bemerkt hatte, erst gestern oder vorgestern kurz geschnitten worden und sehr dicht. In seinem Nacken lief es zu einem Wirbel zusammen, der ein kleines Fragezeichen formte.

Plötzlich schoss sein Blick zu mir herüber und tauchte in meinen. So dunkle Augen hatte ich noch nie gesehen, sie glitzerten wie polierte Kohle und zuckten wie meine vermutlich auch, weil sie mal in mein linkes, dann in mein rechtes Auge schauten. Er hob die Hand, ich weiß nicht, um was zu tun, doch da stoppte der Fahrstuhl.

Wir traten hinaus, wie gejagt von dem Pärchen, das offenbar auch die Aussicht genießen wollte. Sie knickste auf Stöckelschuhen an seinem Arm und kicherte.

Wir und das Pärchen waren nicht die Einzigen im obersten Stockwerk, das eine jetzt halbdunkle und geschlossene Cafeteria beherbergte. Hier und dort standen in dunklen Gruppen Leute an den Fenstern. Andere kamen zurück zu den Fahrstühlen. Wir traten an die Fenster. Selbst von hier oben schien die Stadt endlos.

»Fast sieben Millionen Menschen leben hier«, erklärte Damián. »Bogotá ist eine der Städte auf der Welt, die am schnellsten wachsen. Der Name kommt aus der Chibcha-Sprache, Bagatá, das heißt: hoch gelegenes Feld. Wir sind hier zweitausendsechshundert Meter hoch in der fruchtbaren Ebene Sabana de Bogotá, mitten in den Anden.«

Ich nickte. Ich hatte es zwar in der Schule gelernt, aber ich genoss jedes Wort, das Damián in seiner ruhigen und bestimmten Art und mit leiser unaufdringlicher Stimme zu mir sagte.

»Ungefähr dort«, er deutete in die Ferne, »liegt das Colegio Bogotano.«

Während er mir Stadtteile und Gebäude nannte, wanderten wir von der Nordseite hinüber zur Südseite. Die Tische und Ablagen für Besteck und Geschirr reihten sich hinter einer Stellwand aus Holz, welche uns vom Rest des Saals abtrennte. Hier war es dunkler, sodass nichts den Blick auf das Lichtermeer störte, das sich zu unseren Füßen unübersehbar weit nach Süden ausdehnte. Wie leuchtende Adern durchzogen die großen Magistralen das Gebiet.

»Die Eje Ambiental«, sagte Damián und deutete auf eine breite Straße, die sich im Licht zwischen den Hochhäusern fortschlängelte. »Dort ist der Campus der Staatlichen Universität.« Er blickte mich an. »Ich studiere Ökonomie.« Er zögerte etwas. »Na ja, ich will da, wo ich herkomme, eine ... eine Universität gründen. Bildung ist der Schlüssel zum Wohlstand. Und meine ... meine Leute ...«

»Die Páez?«, fragte ich.

»Wer hat dir das erzählt?« Er wartete meine Antwort nicht ab. »Páez, so nennen uns die Spanier. Wir selbst nennen uns Nasa. Die Provinz ›El Cauca‹, wo wir leben, ist die ärmste von ganz Kolumbien. Im Cauca leben die meisten indigenen Völker. Wir haben uns zusammengeschlossen zum Consejo Regional Indígena del Cauca, kurz CRIC. Der Regionalrat vergibt Stipendien, deshalb konnte ich hier in Bogotá aufs Colegio gehen. Die Rektorin hat mir freundlicherweise ein Praktikum angeboten, damit ich in den verschiedenen Abteilungen lernen kann, wie eine große Lehranstalt geführt und verwaltet werden muss.«

»Ich will Ärztin werden«, sagte ich. Und zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, dass ich es wirklich wollte. Und ich wusste plötzlich auch, warum: »Ich will später mal ... hier arbeiten. So wie mein Vater.«

»Das ist gut«, sagte Damián mit einem Lächeln. »Dein Vater ist ein engagierter Mann. Ich habe vorhin mit ihm gesprochen.«

»Du hast mit ihm gesprochen?« Ich war leicht alarmiert. »Worüber denn?«

»Er hat mir erzählt, dass er zur Smaragdmine von Inza reisen möchte.« Ein bitterer Zug huschte über Damiáns schönes Gesicht. »Außerdem möchte er gerne die Gebiete der Indígenas besuchen. Dein Vater wollte von mir wissen, wo medizinische Hilfe am nötigsten ist. Ich habe ihm gesagt: Sie ist eigentlich überall nötig.« Er zögerte.

»Was ist?«, fragte ich.

»Du willst es immer ganz genau wissen, hm?«

Ich nickte.

»Ich habe deinem Vater abgeraten. Es ist zu gefährlich. Die Mine von Inza gehört Leandro Perea. Das ist ... «

»Seine Tochter Elena geht mit mir in eine Klasse.«

Eine steile Falte war zwischen Damiáns Brauen erschienen. »Leandro Perea ist ... wenn du erlaubst, dass ich das sage, der reichste und skrupelloseste Minenbesitzer im Land. Alle Smaragde, die legal ausgeführt werden, stammen aus seinen Minen. Die Guaqueros ...«

Er sah, dass ich stutzte.

»So nennt man die Smaragdsucher. Sie leben zu Zehntausenden in Hütten rund um die Mine. Wenn der Schlamm aus der Mine abgelassen wird, dann suchen sie mit bloßen Händen nach Quarz und kleinen Smaragden. Männer, Frauen, ganze Familien, Kinder. Sie alle hoffen auf einen grünen Stein und das große Glück. Von einem winzigen Smaragd kann eine Familie monatelang leben. Aber Leandro Perea verdient jeden Tag eine Million Dollar. Er denkt nicht daran, sein Geld in Schulen oder Krankenhäuser zu investieren. Es ist ein Witz, wenn er deinen Vater einlädt, die Guaqueros einen Tag lang medizinisch zu versorgen. Aber dein Vater sagt, es sei ihm egal. Irgendwo müsse man anfangen. Er ist ein Mann mit vielen Illusionen.«

»Er ist ein hoffnungsloser Romantiker«, sagte ich lächelnd.

Damián erwiderte mein Lächeln. »Das kann aber auch gefährlich sein. Er ändert damit nichts, er unterstützt nur das System Perea. Die Menschen, die er an der Mine heilt, werden nicht deinem Vater, sondern Perea dankbar sein, den sie El Gran Guaquero nennen. Sie werden denken: Er ist ein guter Mann. Er schickt uns einen Arzt.«

Mir wirbelte der Kopf von so viel Politik. »Soll mein Vater deshalb nicht gehen?«

Damián wandte sich abrupt dem Panoramafenster zu, als könnte er von hieraus seine Heimat sehen, südwestlich hinter der Gebirgskette der Anden gelegen, die man in finsterer Nacht kaum sah. Seine Hand lag auf dem Fensterbrett, schmucklos, von warmen Adern überzogen, mit langen und kräftigen Fingern. Seltsam fremd und zugleich vertraut kam sie mir vor, so bekannt und neu wie dieses Gesicht, das ich jetzt im Profil sah, mit der pulsierenden Ader am Hals über dem steifen Kragen des weißen Hemds mit der Fliege und dem schimmernden Satin des Jackenaufschlags.

Er holte tief Luft, dann wandte er sich wieder mir zu. Die Hand, die ich eben noch gemustert und dann aus den Augen verloren hatte, schloss sich plötzlich warm um meine Hand.

»Jasmin«, sagte er. »Ich möchte dich um etwas bitten.«

»Du kennst meinen Namen?«, unterbrach ich ihn.

Glück sprudelte in mir empor, plötzlich, gewaltig und überwältigend. Er kannte meinen Namen! Wie lange schon? War es ihm in der zurückliegenden Woche ergangen wie mir, hatte auch er heimlich nach mir Ausschau gehalten, nachdem wir uns im Colegio unversehens wiederbegegnet waren? Meine Hand fühlte sich gut an im warmen Griff der seinen. Behalte sie für immer!, dachte ich und erschrak zutiefst. Für immer? Ja, für immer! Ich war glücklich wie nie zuvor. Unendlich, unsäglich, unbeschreiblich glücklich. Das Glück war ein jubelndes Beben, das mich mit Mut und Kraft erfüllte. Mit einem Schlag öffnete sich mir die Zukunft, weit und groß, auch wenn sie im Dunkeln lag, kompliziert und verwickelt sein würde, abenteuerlich, völlig fremd und ungewiss. Aber das schreckte mich nicht. Ich würde sie angehen. Ich hatte die Kraft dazu.

»Hör mir zu, Jasmin«, sagte Damián. Mein Glück geriet ins Zittern. Er war seltsam ernst, er lächelte nicht.

»Ich höre!«, antwortete ich. Ich konnte nicht verhindern, dass meine Stimme vor Übermut und Glück flatterte, und vielleicht auch ein wenig aus Angst vor dem, was er mir sagen würde. Es würde entscheidend sein für unsere Zukunft, das wusste ich. »Was ist?«

Er stöhnte: »Jasmin, Jasmin!«

Vielleicht zuckte meine Hand in seiner, vielleicht zog ich unbewusst seine Hand zu mir an meine Brust, vielleicht aber war es auch nur so, dass unsere Blicke sich trafen, ineinandertauchten, sich aneinander betranken. Seine Nasenflügel waren geweitet, seine Lippen halb geöffnet. So also war das, wenn man alles um sich herum vergaß, wenn die Welt verstummte und versank. Es war ganz anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Gewaltiger, ausschließlicher. Es machte, dass man alle Warnungen in den Wind schlug, sich auf nichts mehr besann. Gefahr? Vorsicht? Gesundes Misstrauen? Das waren Worte, die für mich nicht mehr galten, nie mehr gelten würden. Die Jasmin, die ich gekannt hatte, starb. Eine neue entstand und sie war völlig anders. Ich wusste nur noch nicht so genau, wie anders.

Seine Lippen waren weich und warm und schmeckten ein wenig salzig. Seine Hände waren zart wie Spinnweben. Ich hielt still. Viel zu still. Seine Haare hätte ich anfassen wollen, mit dem Daumen seine Lippen nachziehen, fühlen, wie seine wunderbare Bronzehaut sich anfühlte, aber ich tat nichts dergleichen. Ich stand still und ließ mich küssen. Es war viel zu kurz.

Er löste sich von mir, hielt meine Hände fest, die nach ihm fassen wollten, um noch mehr von ihm zu bekommen, und er sagte gequält: »Es geht nicht, Jasmin.«

Der Schreck explodierte kalt in meinem Magen. »Warum nicht?«, fragte ich. »Was heißt das? Ist es, weil ich Deutsche bin und du Indio? Das stört mich nicht. Ich bin sechzehn! In anderthalb Jahren bin ich volljährig, dann können meine Eltern mir nichts mehr ...«

»Langsam!« Ein Lächeln wider Willen huschte über seine Lippen. Machte er sich über meinen Eifer lustig? Hatte er mich nur geküsst, weil es sich so ergeben hatte, weil ich gerade vor ihm stand und es so offensichtlich gewollt hatte?

Ich wollte mich von ihm losmachen, aber er hielt meine Hände fest. »Hör zu, Jasmin. Du musst wissen, ich bin ...«

Weiter kam er nicht, denn mit Pling war auf der anderen Seite des Saals der Fahrstuhl angekommen, und mit Gelächter und Getöse enterten Leute den Saal. Hatte ich bis eben nichts mehr von meiner Umgebung wahrgenommen, so zeichnete sie sich jetzt umso schärfer und deutlicher ab. Obwohl wir uns hinter einer Stellwand befanden und vom Saal geschieden waren, konnte ich von meinem Standpunkt aus die Fahrstuhltüren sehen.

Der Schrecken fuhr mir in die Glieder.

»Elena!«, unterbrach ich Damián hastig. »Das ist Elena, die Tochter von Leandro Perea. Wahrscheinlich sucht sie mich!«

Aber sie durfte mich nicht mit Damián sehen. Das war mir sonnenklar, wenn mir auch noch nicht so ganz klar war, warum ich das verhindern musste. Und sagen konnte ich das Damián so auch nicht. Das hätte geklungen, als schämte ich mich, von meiner Freundin mit einem Indio erwischt zu werden. Abgesehen davon, dass ich außerstande war, ihn wegzuschicken. Nicht jetzt! Nicht bevor wir das alberne Missverständnis geklärt hatten, das ihn dazu brachte, zu glauben, mit uns beiden, das gehe nicht.

Aber was sollte ich tun? Wo sollten wir hin? Vom Saal aus konnten sie uns nicht sehen, aber wenn sie wie wir die Fenster entlangwanderten, würden sie uns in unserer Ecke aufstöbern. John Green war bei Elena, wenn ich richtig gesehen hatte, und noch zwei Leute, die ich nicht erkannt hatte oder nicht kannte. Deren lärmende Fröhlichkeit konnte ich jetzt ganz und gar nicht brauchen. Aber wo sollten wir uns verstecken? Hinter den Theken der dunklen Cafeteria?

Damián nahm mir die Entscheidung ab. »Geh!«, sagte er leise.

»Aber ich ...!«

»Geh!« Und widerstrebend setzte er hinzu: »Ich ... ich melde mich bei dir!«

Und wenn er das nur gesagt hatte, damit ich ging? Im nächsten Augenblick war ich hinter der Stellwand hervorgetreten und auf dem Weg durch den Saal zu der Gruppe der Neuankömmlinge. Ich hätte mich nicht wegschicken lassen dürfen, dachte ich, aber jetzt war es zu spät, um umzukehren. Elena hatte mich erblickt und winkte und rief. Auch John drehte sich um. Bei ihnen befanden sich auch unsere Väter, meiner und Leandro Perea. Sie waren bereits auf dem Weg zu den Fenstern. Perea erklärte mit großer Geste irgendetwas.

»Hier steckst du also!«, rief Elena.

Ich stolperte. Mir war hundeelend. John Green fasste mich am Ellbogen. »Geht’s?«

Ich riss mich los, viel zu heftig. »Mir geht es gut.«

Elena lachte. Sie war ziemlich beschwipst. »Ich habe dich gesucht. Ich hätte ja noch mal angerufen, aber dann dachte ich, vielleicht störe ich nur bei einem ... na ja!« Sie kicherte und blickte sich suchend um. »Wer ist es denn? Kenne ich ihn?«

»Hör auf! Ich wollte nur mal kurz ... Ich meine, der Blick von hier oben ist wunderbar. Und wann hat man schon mal die Gelegenheit, hier heraufzukommen, nicht wahr?«

Ich musste all meine Selbstbeherrschung aufbieten, damit ich mich nicht umdrehte, um zu schauen, was Damián machte. Blieb er in seiner Ecke, wartete er, schlich er sich davon? Es war zu albern und irgendwie völlig absurd. Was für einen Grund gab es denn, dass wir aus unserer Beziehung ein Geheimnis machten? Aber war es denn schon eine Beziehung? Und was für eine? Was hatte er mir wirklich sagen wollen? Was für ein Geheimnis hütete er?

Am liebsten wäre ich augenblicklich umgekehrt. Aber schon befand ich mich in der Gefangenschaft einer gut gelaunten und unbeschwerten Gesellschaft, die mich nicht entlassen würde, wenn ich nicht eine sehr gute Begründung lieferte. Wie hasste ich diesen Ball! Und dennoch konnte ich ihn nicht wirklich hassen, hatte er mir doch nicht nur peinliche, verzweifelte und unglückliche Momente beschert, sondern etwas, womit ich in meinen kühnsten Träumen nicht gerechnet hatte, nicht hatte rechnen können, auch wenn ich die ganze Zeit nur an Damián gedacht hatte. Ich hatte nicht ahnen können, dass wir uns heute hier küssen würden und sich mein Leben in diesem Moment total verändern würde.

»He!«, rief Elena. »Hörst du mir überhaupt zu?«

»Ja«, sagte ich. »Wir ...« Ich versuchte mich zu erinnern, was sie mir gerade erzählt hatte. Es war in meine Ohren gerauscht, ohne in meinem Bewusstsein Platz zu finden. »Die Smaragdmine ... du ... hast gesagt, dass ...«

»Ich sagte, in drei Wochen geht es los, am ersten Ferientag. Und dein Vater kommt mit und du auch! Mein Vater wird deinem Vater bei seiner mobilen Krankenstation helfen. Ist das nicht super? Wir können zusammen meinen Geburtstag in Inza feiern. Und ich bekomme endlich meinen Smaragd!«

Elena wedelte vor meinen Augen mit ihren Fingern, an denen sie jede Menge silberner Ringe stecken hatte. »Mein Vater hat es versprochen: Zu meinem sechzehnten Geburtstag, Sonntag in drei Wochen, kriege ich ihn. Ich glaube, ich werde wahnsinnig bis dahin.«

»Wirst du schon nicht!«

Dass Elena zu ihrem sechzehnten Geburtstag ihren ersten großen Smaragd geschenkt bekommen würde, hatte sie mir schon ein halbes Dutzend Mal erzählt. Die höheren Weihen des Erwachsenwerdens in Gestalt eines wertvollen Edelsteins waren derzeit ihr größtes denkbares Glück. Letzte Woche hatte ich ihre Hoffnungen auf einen schönen Stein noch mit ihr geteilt. Wenn ich mit Elena eine Smaragdmine besichtigte, hatte ich insgeheim gedacht, dann würde Elenas Vater sich sicher nicht lumpen lassen und auch mir einen kleinen Stein schenken. Er saß ja an der Quelle, Smaragde waren ein typisches Souvenir aus Kolumbien. Doch nichts schien mir jetzt so belanglos wie ein Schmuckstück. Seit ein paar Minuten lag mein Glück woanders, kilometerweit von Elenas unbeschwert und heiter funkelnden Welt entfernt und zugleich nur ein paar aufregende Meter weit weg hinter der Stellwand der Cafeteria. Aber das musste sie jetzt nicht wissen, zu sehr war sie in ihrer eigenen Begeisterung gefangen.

Offenbar hatte mein Vater sich mit Leandro Perea verständigt, dass wir alle zusammen eine seiner Smaragdminen in den Bergen besuchen würden. Mama würde nicht begeistert sein.

Und ob ich wirklich mitwollte, wusste ich im Moment auch nicht. Es hing davon ab, was Damián ... Ich stoppte meine Gedanken. Es machte mir ein bisschen Angst, dass ab heute alles von Damián abhing. Vielleicht würde er auch Ferien haben, wenn unsere Schulferien begannen, und dann konnte er uns ... Ich stoppte meine Gedanken erneut. Ausgeschlossen, dass Damián uns auf unserer Reise zur Smaragdmine in Inza, wo auch immer das lag, begleiten würde. Er hatte vorhin nicht gerade freundlich über Leandro Perea gesprochen, den Gran Guaquero, den Großen Schatzgräber.

Viel wichtiger war es, dass ich meine Eltern überredete, in den Cauca zu reisen, die ärmste Provinz des Landes. Ihre Hauptstadt Popayán wurde immerhin in jedem Reiseführer als sehenswert angepriesen. Dort konnte Damián uns ... Ich bremste mich wieder. Langsam! Hatte er mir nicht gerade eben zu verstehen gegeben, dass wir noch weit davon entfernt waren, dass ich anfangen konnte, sein und mein Leben zu verplanen? Hatte er sich nicht im Grunde von mir getrennt, bevor es richtig angefangen hatte?

Mir wurde erneut übel. Alles drehte sich. Was hatte er wirklich gesagt? Fast nichts. Und was hatte er sagen wollen? Dass er und ich ... dass es mit uns beiden nicht ging. Das hatte er gesagt. Und zwar warum? Das hatte er nicht gesagt. Aber er hatte es sagen wollen: »Ich bin ...«

Und ich blöde Kuh, ich dummes Huhn hatte mich wegschicken lassen. Warum hatte er mich weggeschickt? Weil er gespürt hatte, dass ich mit ihm ums Verrecken nicht von Elena erwischt werden wollte? Oder weil er selbst nicht mit Elena zusammentreffen wollte, der Tochter des superreichen Smaragdminenbesitzers, die offensichtlich meine Freundin war. War es das, was zwischen uns stand?

»Ist dir nicht gut?«, hörte ich John fragen. Wieder spürte ich seine Hand am Ellbogen.

»Ich bin in Ordnung!«, blaffte ich ruppig. »Es ist nur ein bisschen stickig hier oben.«

Ja, wenn es nur das ist!, dachte ich währenddessen einfach weiter. Erleichterung sackte mir ins Gemüt. Das ließ sich klären, erklären. Und zwar sofort. Elena konnte nichts für ihren Vater. Wenn ich nicht verrückt werden wollte, musste ich jetzt sofort noch einmal mit Damián sprechen. Ich wollte mich umdrehen, aber John hielt mich immer noch.

»Wer ist das denn?«, hörte ich da halb hinter mir Elena erstaunt fragen.

»Wer?«, fragte John.

»Hallo Damián«, rief da auch schon mein Vater vom Fenster her und hob winkend die Hand.

Ich dachte, ich müsste im Boden versinken. Außerdem verschluckte ich mich schier, so klopfte mir das Herz im Hals.

Leandro Perea hatte sich ebenfalls umgedreht.

Alle blickten den hoch aufgerichteten jungen Mann an, der auf dem Weg zum Fahrstuhl gewesen war und jetzt seine Richtung änderte. Langsamen Schrittes durchquerte Damián den Saal, die Sohlen seiner Schuhe knisterten auf den spiegelblanken Steinplatten, seine Hände hingen ohne Zeichen der Verlegenheit herab. Er wirkte unverschämt selbstbewusst. So als gehörte ihm nicht nur der Laden hier, sondern das ganze Land. In seinem ruhigen Gesicht zuckte kein Muskel.

»Wer ist das? Wer ist das?«, flüsterte mir Elena drängend ins Ohr. »Kennst du den? Der sieht voll süß aus.«

»Komm, nicht so schüchtern, Damián!«, rief mein Vater fröhlich.

Dabei war an der Haltung des Indios wirklich nichts von Schüchternheit zu bemerken.

»Komm, ich will dir jemanden vorstellen!«

Mein Vater ließ wirklich keine Peinlichkeit aus.

»Das«, wandte er sich jetzt an Leandro, »ist der junge Mann, von dem ich Ihnen erzählt habe. Der in seiner Heimat eine Universität gründen will.«

Leandro Perea lächelte interessiert, aber reserviert.

»Er heißt Damián Dagua.«

Elena an meiner Seite verschluckte sich an dem eingeatmeten Flüsterwort »Der Dieb!«, krallte sich an mir fest und hustete fürchterlich.

»Und Damián, das ist Leandro Perea. Er ist ...«

Damián deutete eine Verbeugung an und unterbrach meinen Vater: »Sein Name ist jedem Mann im Land bekannt. Die kleinen Jungs träumen davon, eines Tages einen kleinen grünen Stein zu finden und so reich zu werden wie er. Die Mütter fürchten den Tag, an dem die Söhne losziehen, um in den Minen zu verrecken.«

Leandro Perea richtete sich mit einem Ruck auf. Sein gemütliches rundes Gesicht vereiste. »Nicht so ungestüm, junger Mann! Immerhin gebe ich Zehntausenden von euch Arbeit. Nicht zu reden von all den Hunderttausenden, die indirekt von der Smaragdverarbeitung und dem Export leben.«

»Die Smaragdminen in den Bergen des Cauca gehören uns«, erwiderte Damián ruhig.

Leandro Perea lachte. »Ich habe das Land bei Inza rechtmäßig erworben. Willst du den Kaufvertrag sehen?«

Ein bitteres Lächeln zuckte über Damiáns Gesicht. »Ich kenne den Kaufvertrag. Sie haben damals erklärt, sie wollten feste Häuser bauen und ein landwirtschaftliches Zentrum errichten, mit Schule und Krankenhaus. Die Bauern haben es Ihnen geglaubt. Sie warten noch immer auf ihre Krankenhäuser und Schulen. Denn Sie wussten damals bereits, dass der Berg eine Smaragdmine enthält.«

»Das hättet ihr auch wissen können«, antwortete Perea. »Ihr habt doch eure Thé Walas

»Unsere Thé Walas sind Medizinmänner, sie sind unsere geistlichen Führer, keine Geologen!«

»Und sagen die nicht immer, Gold und Smaragde interessierten euch nicht?«, lächelte Leandro. »Heißt es nicht, ihr wolltet im Einklang mit der Natur leben, Koka anbauen, Alpakas züchten und Pullover stricken? Was kann ich dafür, dass ihr eure Berge und euch selbst so schlecht kennt? Ich zwinge niemanden, bei mir zu arbeiten und im Schlamm nach den Edelsteinen zu suchen, die ihr so sehr zu verachten vorgebt.«

Damiáns Augen blitzten gefährlich.

»Kinder!«, rief mein Vater beschwichtigend. »Kein Grund, sich hier zu streiten. Soziale Widersprüche müssen dadurch gelöst werden, dass man miteinander redet. Und, Damián, dir wollte ich sagen, dass Señor Perea bereit ist, etwas zu tun. Er wird mir helfen, für die Guaqueros eine Krankenstation zu errichten. Und vielleicht könnt auch ihr euch einigen, wenn ihr einander zuhört. Es ist ja auch in Leandros Interesse, wenn die Indígenas Schulen und Krankenhäuser bekommen und eine Universität.«

Oje, mein Vater! Unerschütterlich in seinem Glauben an die Vernunft und das Gute im Menschen.

Inzwischen hatte sich Elena wieder so weit von ihrem Hustenanfall erholt, dass sie dazwischenkrächzen konnte: »Das ist doch der Dieb!«

Damián fuhr herum.

»Still!«, zischte ich in Elenas Ohr.

»Das ist doch der, der dir die Uhr geklaut hat!«, sagte sie noch lauter. »Oder vielmehr, dem der diebische Affe gehört, der dir die Uhr geklaut hat. Ist das nicht so? Ist das nicht dieser Damián Dagua, der im Colegio Bogotano als Hausmeistergehilfe arbeitet? Einen Diebstahl hatten wir dort schon. Als Nächstes sind vermutlich die Computer dran.«

»Elena!«, fauchte ich. »Mir hat niemand meine Uhr geklaut. Trüge ich sie sonst hier am Arm?«

»Aber, du hast doch gesagt ...«

»Halt den Mund, du bist total betrunken!«

»So, wenn du meinst?« Sie schnappte ein und torkelte. Ich musste sie festhalten, damit sie nicht sonst wohin segelte.

Damiáns Blick streifte mich, sanft wie der letzte Hauch eines Sommerwinds, bevor es kühl wird und die Mücken zu stechen beginnen. Dann blickte er in die Runde. »Buenas noches, señores y señoras«, sagte er mit einer schrecklich eisigen Höflichkeit, drehte sich um und verließ mit langen Schritten den Saal. Er blieb auch am Fahrstuhl nicht stehen. Er nahm die Treppe, vermutete ich. Bitter und zornig! Ich konnte es ihm nachfühlen, ich spürte seinen Zorn körperlich. Und ich schämte mich so sehr, dass es wehtat. Leandro Perea hatte es nicht einmal für nötig gehalten, den Indio zu siezen. Mein Vater zwar auch nicht, aber das lag daran, dass er das Spanische noch nicht so gut beherrschte und ein freundlicher Mensch war. Aber bei Perea war es pure Überheblichkeit gewesen.

Der Ball hatte grässlich angefangen und endete fürchterlich. Niemand von uns hatte jetzt noch Interesse am Ausblick. Wir fuhren dicht gedrängt mit dem Fahrstuhl hinunter. Elena konnte sich von der Idee nicht lösen, dass dieser Damián derjenige sei, von dem ich ihr erzählt hatte, und sie fragte mich immer wieder, ob ich gewusst hätte, dass er hier war, und was er hier zu suchen habe. John Green betonte, dass niemand hier hereinkomme, der keine Einladung habe, was ihn, je mehr er es betonte, immer weniger zu überzeugen schien.

Eine Stunde später wollten meine Eltern endlich nach Hause aufbrechen. Da hatte ich schon eine ganze Weile das Gefühl, ich würde es keine Sekunde länger aushalten. Ich konnte kaum noch stehen, die Füße taten mir weh und in meinen Kopf ging nichts mehr hinein von all dem Gerede. Ich wollte nur noch ins Bett und nachdenken.

Auf der Heimfahrt im Taxi fragte Papa mich, was es mit Elenas Behauptungen auf sich habe. Auf ihn habe Damián einen höflichen und gebildeten Eindruck gemacht.

Und Mama wollte es auf einmal ganz genau wissen. »Was ist das für eine Geschichte mit der geklauten Uhr?«

Woher zum Teufel wusste sie das?

»Elenas Mutter hat erzählt, dass es Gärtner gibt, die über die Balkone einsteigen und die Wohnungen ausräubern. Manchmal schicken sie kleine Kinder die Balkone hoch. Die kommen durch die kleinsten Fenster. Manche haben auch dressierte Affen.«

Sie insistierte so lange, bis ich einräumte: »Ja, das stimmt. Mir hat letzten Sonntag ein Affe die Uhr vom Nachttisch gestohlen. Aber der Gärtner hat sie ihm dann weggenommen und mir zurückgegeben, als ich aus dem Haus ging, um einen Spaziergang zu machen.«

»Und der Gärtner, war das dieser Damián?«

»Könnte sein«, sagte ich.

»Was heißt, könnte sein? Ist er es oder ist er es nicht?«

»Ja, ich denke schon!«

Wenn ich gehofft hatte, dass meine Mutter sich damit zufriedengab, hatte ich mich getäuscht, auch wenn sie während der Fahrt zunächst mit meinem Vater den Abend besprach, wie sie es immer tat. »Eine nette Frau, die Mutter von Elena, aber sehr einsam und traurig. Sie ist Deutsche und in Düsseldorf geboren. Doch sie hat Deutschland mit fünf Jahren verlassen.«

Mein Vater machte immer nur »Hm«.

Ich hörte nicht hin. Ich fragte mich, wo Damián jetzt war. Schon zu Hause? Lebte er wirklich bei der alten Frau im Haus am Wald, der Wunderheilerin? Ich war nicht dazu gekommen, ihn zu fragen, welche Beziehung er zu dieser Frau hatte. Es gab so vieles, was ich ihn in der kurzen Zeit nicht hatte fragen können. Wir mussten uns wiedersehen! Wir würden uns wiedersehen. Am Montag in der Schule. Ich begann zu träumen. Aber meine Mutter machte dann alles kaputt mit ihren Fragen. Zuverlässig wie ein Zirkel zum Ausgangspunkt des Kreises kam sie auf das Thema zurück, als wir durch die nächtliche Anlage von El Rubí gingen, die Damián jedes Wochenende pflegte, vermutlich um sich Geld für sein Studium zu verdienen.

»Und dieser Damián«, begann sie. »Der soll ja auch als Hausmeister im Colegio Bogotano arbeiten. Stimmt das, Jasmin?«

Es klang wie ein Vorwurf. Dabei hatte ich ihn nicht eingestellt. Was wollte sie überhaupt?

»Hat es im Colegio nicht auch Ende letzten Jahres einen Einbruch gegeben?«, fragte sie weiter.

Was hieß hier »auch«? Ich biss die Zähne zusammen. Lieber nichts sagen. Vielleicht ging es so vorbei. Ich sehnte mich nach dem Bett. Ich hatte so viel zu durchdenken!

»Elenas Mutter hat mir erzählt«, fuhr Mama unerbittlich fort, als wir im Fahrstuhl hochfuhren, »dass Diebesbanden immer wieder ihre Leute in Reinigungsfirmen und Hausverwaltungen einschleusen, die dann auskundschaften, wo es was zu holen gibt.«

»Aber doch nicht Damián!«, entfuhr es mir. »Nicht alle Indios sind Diebe!«

»Das hat auch niemand gesagt, Jasmin!«, antwortete meine Mutter. »Du sollst nicht immer alles so interpretieren, wie es dir gerade passt.«

Meine Sicherungen begannen durchzuschmoren. »Aber ihr verdächtigt Damián völlig grundlos«, ereiferte ich mich wider Willen.

»So? Grundlos? Das scheint mir gerade in diesem Fall nicht so zu sein«, bemerkte meine Mutter, während mein Vater die Wohnungstür aufschloss und uns eintreten ließ.

»Ihr kennt ihn doch gar nicht!« Beinahe hätte ich geschrien. Es war so ungerecht! Mussten sie mir mit ihrem Gemäkel und Kritisieren alles kaputtmachen, was an diesem Abend schön gewesen war?

»Aber du kennst ihn offensichtlich«, sagte Mama.

»Ja! Und ich finde es voll ungerecht, dass ihr an ihm herumkritisiert, obwohl ihr ihn gar nicht kennt.«

»Was regst du dich denn so auf, Jasmin?« Lächelnd stand meine Mutter vor mir, als wollte sie im nächsten Moment sagen: »Du hast dich doch nicht in diesen Gärtner verknallt! Sei nicht kindisch, Jasmin!« Aber sie sagte es nicht. Sie sah nur so aus. Oder ich fühlte mich so: kindisch und übermüdet!

Stattdessen sagte sie: »Was interessiert dich denn dieser Gärtner?«

In mir knallte eine Sicherung durch. »Dieser Gärtner hat einen Namen. Er heißt Damián Dagua, er studiert an der Uni Ökonomie. Und ich ...« Ich konnte mich nicht mehr bremsen: »Ich liebe ihn!«

Mama lachte auf. »Sei nicht kindisch, Jasmin! Was redest du da für einen Unsinn.«

»Das ist kein Unsinn!«, schrie ich. »Und damit ihr es wisst: Ich werde ihn heiraten ...« Verdammt, was redete ich da? »Wenn er mich nimmt«, setzte ich für mich hinzu.

Stille plumpste in die grabeskalte Diele.

Meine Eltern wechselten ihren Katastrophenblick. Es war ein rascher Blick, mit dem sie sich rückversicherten, dass sie beide das, was ich mir gerade geleistet hatte, inakzeptabel fanden und nun gemeinsam zu erzieherischen Worten und Maßnahmen schreiten mussten. Mein Vater würde zuerst einen Vorschlag zur Güte machen.

»Es war ein langer Tag«, sagte er. »Da sollte man nicht alles auf die Goldwaage legen. Deine Mutter hat das alles sicher nicht so gemeint, Jasmin, und du hoffentlich auch nicht.«

»Doch!«, sagte ich.

Meine Mutter verschluckte einen Stock und richtete sich kerzengerade auf. Langsam und vorsichtig, als enthielte sie Sprengstoff, stellte sie die Handtasche auf der Kommode ab. »Was soll das heißen, Jasmin?«

»Was ich gesagt habe.«

»Du hast dich also in diesen Damián verknallt.« Hätte sie dabei nur nicht so amüsiert gelächelt!

»Nein«, widersprach ich. »Ich habe mich nicht in ihn verknallt. Ich liebe ihn! Und ich werde ihn heiraten!«

»Kind!«, murmelte mein Vater. »Das ist eine wichtige Entscheidung. Die trifft man nicht so mir nichts dir nichts auf einer Tanzveranstaltung.«

»Zum Glück bist du ja noch nicht volljährig«, setzte meine Mutter drauf und zog den Mantel aus.

»Darüber reden wir morgen«, versuchte mein Vater zu schlichten.

»Da gibt es nichts zu reden!«, schrie ich aufgebracht. »Und wenn ihr nicht mein Lebensglück zerstören wollt ...«

»Nun mach aber mal einen Punkt!«, donnerte meine Mutter. »Und schrei bitte nicht so! Niemand zerstört dein Lebensglück. Wir wollen nur dein Bestes. Und du wirst gefälligst vernünftig mit uns reden!«

»Aber nicht mehr heute Nacht«, sagte mein Papa. »Wir werden jetzt alle erst einmal darüber schlafen.«

Der Ruf des Kolibris
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