EPILOG

Am nächsten Tag ergaben die Tests, die Susan durchführen ließ, daß das ausgetretene CLAIR das Ozark-Gebirge noch nicht verlassen hatte.

Joshua wußte genau, was jetzt zu tun war. Zuerst sollte flüssiger Sauerstoff über dem infizierten Gebiet abgeregnet werden. Die deutlich wärmere Temperatur in den Bergen ließ eine Dampfwolke entstehen, die das tödliche CLAIR einschloß und erstarren ließ.

Damit besaßen Josh, Susan und die Techniker vom SKZ ausreichend Zeit, das Enzym zu entwickeln, mit dem die Gen-Mutationen zerstört werden konnten.

Fünf Tage nach der Explosion, bei der alle Anlagen im Mount Jackson zerstört worden waren, war das Ausgetretene CLAIR neutralisiert.

»Du scheinst nicht sehr zufrieden zu sein«, meinte McCracken, nachdem er Johnny von der Rettungsaktion berichtet hatte.

Wareagle hatte sich von Will Darkfeather verarzten lassen. Die Halskrause, die seinen ausgerenkten Nacken stützen sollte, hatte er bereits wieder abgelegt. Ein dicker Verband verbarg die Wunde, die Krill ihm in die Brust gerissen hatte.

Etwas weiter die Reservatsstraße hinunter sah sich Joshua Wolfe sein neues Heim an. Blaine spürte, daß der Junge jetzt für eine Weile allein bleiben wollte. Gruppe Sechs würde nicht die letzte Organisation gewesen sein, die ein besonderes Interesse an ihm entwickelte.

»Ich bin der Überzeugung, daß wir in unserem Sinne gehandelt haben, Blainey, so wie wir es immer tun. Aber irgendwie habe ich das dumme Gefühl, daß wir es diesmal später vielleicht bereuen könnten.«

»Häuptling Silver Cloud hat keine Bedenken geäußert. Und Will Darkfeather freut sich schon auf seinen neuen Auszubildenden.«

»Beide haben sich nicht dagegen ausgesprochen, weil ihnen die Alternative klar war. Wir wissen doch alle, daß der Junge eine instabile Persönlichkeit besitzt. Im Moment hat er deinem Plan zugestimmt, aber wie lange wird das anhalten? Irgendwann könnte er es sich anders überlegen und davonlaufen. Und vielleicht sind es dann nicht wir, die ihn als erste finden.«

»Er wird nicht davonlaufen.«

»Wie kannst du da so sicher sein?«

»Ich hoffe es nur. Dieser Ort hier ist die einzige Chance, die Joshua bleibt.«

»Bei all den Schlachten, die wir geschlagen haben, haben wir nie ein so ungutes Gefühl zurückbehalten. Und ich möchte nicht die Kämpfe führen, die dem Jungen bevorstehen. Wenn wir ihn noch einmal suchen und finden müssen, wird es bestimmt kein so gutes Ende nehmen wie diesmal.«

Joshua trat aus dem Haus und schien sehr beschäftigt zu sein. »Dies ist jetzt seine Heimat, Johnny. Er wird nicht von hier weggehen.«

»Solange niemand kommt, um ihn zu holen.«

»Wird bestimmt nicht einfach«, erklärte der Junge Blaine zum Abschied, »alles aufzugeben und zurückzulassen. Die Bücher, die Computer und so weiter. Ich kann mich nicht erinnern, daß es jemals in meinem Leben eine Zeit gegeben hat, in der das nicht mein ganzes Dasein bestimmt hat.«

»Gott sei Dank habe ich nie vor einer solchen Entscheidung gestanden.«

Joshua hielt sich erst einen Tag hier auf, und schon hatte sein Gesicht Farbe bekommen. Auch die ständige Nervosität war weitgehend von ihm abgefallen. Er machte den Eindruck, als würde er bald das Lächeln lernen.

»Wenn ich nur etwas mehr Zeit gehabt hätte, wäre es mir wahrscheinlich gelungen, die Luftverschmutzung zu besiegen. Und das wäre erst der Anfang gewesen.«

»Und die Katastrophe in Cambridge zeigt dir, wie nah Gut und Böse beieinander liegen. Die Grenze zwischen beiden ist sehr schmal. Und es wird immer jemanden geben, der genau beobachtet, ob du sie überschreitest; denn wenn du das tust, haben sie dich.«

»Ist das bei Ihnen auch so gewesen?«

»Ja.«

»Aber Sie haben sich davon befreit.«

»Sagen wir, ich bin einfach etwas pfiffiger als die auf der anderen Seite gewesen.«

»Vielleicht gelingt mir das auch eines Tages.«

»Aber du hast ihnen viel mehr zu bieten als ich. Die anderen geben niemals auf, denn es ist ihr Lebenszweck, ständig weiter Tod und Vernichtung zu entwickeln. Du kannst ihnen nur entrinnen, wenn du dich hier versteckt hältst. Natürlich wirst du hier nicht der sein, der du werden willst, aber das Leben an diesem Ort ist immer noch besser, als zu ihrem Werkzeug zu werden.«

Der Junge senkte den Kopf. »Ich glaube, ich schulde Ihnen eine ganze Menge.«

»Ich weiß, daß es so für ihn am besten ist«, sagte Susan, als sie von dem Reservat fortfuhren, »aber trotzdem …«

»Sie bedauern, daß er Ihnen jetzt nicht mehr helfen kann, den Krebs zu besiegen.«

»Ach, ich weiß auch nicht … Es kommt mir nur wie eine Verschwendung vor …«

»Die Alternative lautet, daß Sal, Johnny und ich bis an unser Lebensende nichts anderes mehr tun können, als den Jungen zu schützen. Und selbst dann können wir nicht sicher sein, ob es nicht doch jemandem eines Tages gelingt, ihn zu entführen.«

»Ist er hier denn soviel sicherer?«

»Zumindest kann man einen Feind schon von sehr weit kommen sehen.«

Die beiden schwiegen für einen Moment.

»Joshua ist anders als wir alle. Er will die Welt bessermachen und läuft dabei Gefahr, ausgenutzt und manipuliert zu werden. Vielleicht ist er mir darin doch etwas ähnlich, und möglicherweise habe ich mich im Spiegel gesehen. Was meinen Sie dazu?«

»Psychologie ist nicht mein Fachgebiet.«

»Meins auch nicht. Damit reduziert sich alles auf die Chancen. Wie viele erhält man in seinem Leben? Ich glaube, ich habe eine ganze Menge bekommen. Und deshalb habe ich mir gedacht, der Junge verdient auch eine – mehr noch, er soll etwas haben, das mir fehlt.«

»Ein Zuhause.«

»Einen Ort, an den man sich zurückziehen kann, wenn alle Arbeit getan ist.«

»Für Sie ist aber nie alle Arbeit getan, nicht wahr?«

»So bin ich nun einmal, und so hat es das Leben wohl auch für mich vorgesehen.«

»Macht Ihnen das was aus?«

»Nein.«

»Mich würde das krank machen. Ich bin nämlich nicht auf einer Straße gefangen, die ich immer weitergehen muß. Ich kann aussteigen, kann die nächste Abfahrt nehmen. Vielleicht finde ich ja eines Tages ein Heilmittel gegen den Krebs. Aber Sie und Josh müssen ständig weiterziehen.«

»Wenn es anders wäre, würde es mir bestimmt keinen Spaß mehr machen.«

»Auf Josh wartet aber noch eine Straßensperre …«

»Haslanger.«

»Ja. Er ist der einzige, der noch über ihn Bescheid weiß.«

»Da gibt es leider noch einen, um den wir uns kümmern müssen.«

Livingstone Crum schaltete seinen Kassettenrecorder ein, damit sein neues Rezept der Nachwelt erhalten blieb. Es war ihm zu lästig, alles aufzuschreiben.

»Heute beginne ich meine eigene Version von Braciolette Ripiene«, sprach er in das Mikrofon und listete die Zutaten auf, die auf seiner Küchenanrichte aufgereiht standen: »Zwölf kleine Scheiben Kalbfleisch vom Bein, zwölf dünne Scheiben mageren Schinken, drei Eßlöffel Ananasstückchen, eine Tasse kleingehackte Petersilie …«

Der fette Mann hielt plötzlich inne und drehte sich um. Ein kleiner, dunkler Mann mit einer gebogenen Nase war unvermittelt in der Küche erschienen, bediente sich mit einer Hand großzügig aus den Schälchen Crums und richtete mit der anderen eine Pistole auf ihn.

»Und zwei Kugeln in den Kopf«, beendete Sal Belamo das Rezept.

Alles in allem hätte es für Erich Haslanger nicht besser ausgehen können. Die Katastrophe im Magic Kingdom war voll und ganz Colonel Fuchs angelastet worden. Man hatte Haslanger sogar belobigt, und damit war Gruppe Sechs gerettet. Er würde weiter dabeisein, weil das Land ihn brauchte, und insbesondere General Starr.

Haslanger hatte bereits die Akte zerstört, die Fuchs über ihn angelegt hatte, und nun war seine Vergangenheit nicht mehr existent. Der neue Chef, der an die Stelle des Colonels treten würde, hatte keinerlei Anlaß, dumme Fragen zu stellen.

Eines Tages würde auch Joshua Wolfe zu ihm zurückkehren. Möglicherweise mußte Haslanger ein wenig nachhelfen, aber im Lauf der Zeit würde der Junge immer mehr begreifen, wohin er in Wahrheit gehörte.

Haslanger füllte seinen Becher mit Wasser und ließ sich am Schreibtisch nieder. Für eine Weile waren alle Projekte von Gruppe Sechs eingestellt – so lange, bis die Untersuchungen über die Ereignisse im Magic Kingdom abgeschlossen waren. Natürlich würde dabei nichts herauskommen, weil Starr persönlich die Untersuchungen leitete.

Haslanger nahm einen tiefen Schluck, dann noch einen und seufzte anhaltend. Merkwürdigerweise vermißte er Krill, gestand sich aber ein, daß damit eine weitere Verbindung zu seiner Vergangenheit gekappt war.

Er ertappte sich dabei, wie seine Lider schwer wurden. Er zuckte hoch und zwang sich wachzubleiben. Wie jemand, der nachts alleine eine lange, dunkle Straße entlangfuhr. Da passierte es wieder.

Haslanger riß die Schreibtischschublade auf und suchte nach seinen Pillen.

So müde war er wirklich schon lange nicht mehr gewesen. Die Schatten ragten wie eine riesige Meereswelle hinter ihm auf.

Alle Glieder waren schwer wie Blei. Es gelang ihm nur mit Mühe, das Pillenfläschchen zu öffnen. Doch seine Hand, die das Wasserglas nehmen wollte, hielt auf halbem Wege inne.

Plötzlich begriff er … … GL-12.

Das Telefon auf seinem Schreibtisch läutete. Er nahm schwerfällig ab und beglückwünschte sich, weil der Anrufer ihm das Leben retten würde.

»Helfen Sie mir!« rief er in die Sprechmuschel.

»Angenehme Träume, Doktor«, entgegnete McCracken.

Der Hörer glitt Haslanger aus der Hand. Er schob sich aus dem Sitz und taumelte auf die Tür zu.

Schon nach ein paar Schritten knickten seine Beine ein. Er brach auf dem Boden zusammen, und die schwarze Woge überspülte ihn. Er schaffte es nicht, an die Oberfläche zurückzukommen, und irgendwann war die Oberfläche verschwunden.

Erich Haslanger war eingeschlafen.