Kapitel
16

Wild fuchtelte McCracken, um sich aus dem Wust von Holztrümmern und Büchern zu befreien. Er schaffte es, einen Großteil zur Seite zu schieben, doch ein Regal, das auf ihm lag, widerstand seinen sämtlichen Bemühungen, es hochzustemmen. Es lag im falschen Winkel, die erforderliche Hebelwirkung war nicht möglich.

Leise Schritte näherten sich, glitten regelrecht über den Fliesenboden und streiften dabei kein einziges hingefallenes Buch.

Er kann mich sehen, begriff Blaine. Ich weiß nicht, was für ein Dreckskerl das ist, aber er kann mich im Stockfinstern sehen …

In rasender Hast tastete McCracken durch das Durcheinander auf dem Fußboden, suchte die SIG-Sauer und gab schließlich auf, als er die Sinnlosigkeit seiner Bemühungen einsah. Er spürte die Augen des Killers, die keine normalen Augen waren, spürte, wie er sich Zeit ließ. Blaine bearbeitete wieder das Regal und stellte fest, daß er es ein Stück wegschieben konnte. Jetzt wäre es ihm möglich, seine Beine darunter hervorzuzerren und zu dem schwachleuchtenden Ausgangsschild zu flüchten.

Und was hätte er davon?

Ein Fuß trat ein Buch aus dem Weg, und es schlitterte über den Boden. McCracken blieb, wo er war, und täuschte vor, verzweifelt unter dem umgekippten Regal hervorkriechen zu wollen.

Die Gestalt regte sich. Blaine erahnte Bewegung in der Luft, er nahm an, daß der Mörder sich über ihn beugte, und wartete. Atem berührte ihn. Ein Arm, der eher ein Tentakel war, griff durch die Finsternis nach McCracken.

Blaine stemmte sich hoch und stieß sich mit Beinen ab, von denen er vorgetäuscht hätte, sie seien noch eingeklemmt. Sein Kopf traf den Riesen am Kinn und warf ihm den knochigen Schädel rückwärts. Er nutzte die gewonnene Zeit, um sich vollends aufzurappeln.

Etwas schlug gegen Blaines Schläfe, das sich eisenhart anfühlte und ihn ins Taumeln brachte. Die düstere Gestalt sprang auf ihn zu, aber McCracken duckte sich und huschte unter den ausgestreckten Armen durch. Er drosch dem Koloß die verschränkten Fäuste in die Nierengegend und versuchte als nächstes, Kehle oder Unterleib zu treffen. Doch die Gestalt fuhr schnell herum, und ein unglaublich langer Arm packte Blaine am Hals und hob ihn hoch.

Ich muß seinen Schwachpunkt finden … Er muß eine verwundbare Stelle haben …

McCracken dachte an die Augen des monströsen Kerls, die ihm in der Dunkelheit solchen Vorteil verschafften. Während sich in seiner Brust der Atem staute, fuhr seine Hand in die Tasche und wühlte nach dem Schlüsselbund mit der daran befestigten Mini-Taschenlampe. Seine Finger bekamen sie zu fassen. Er riß sie heraus und ertastete den Schalter. Er fand ihn in der Sekunde, als er endgültig keinen Boden mehr unter den Füßen fühlte. Er schob ihn herunter und versuchte den Strahl direkt ins Blickfeld des Killers zu richten.

Der Lichtstrahl zerteilte die Finsternis wie eine Gewehrkugel die Luft. Die Gestalt schrie auf und schleuderte Blaine von sich, schmetterte ihn wuchtig genug gegen ein Bücherregal, um es zum Einsturz zu bringen. Blaine rappelte sich hoch und erhaschte menschliche Umrisse, aber das war so gut wie alles, was man bei ihm als normal hätte bezeichnen können. Die Gliedmaßen waren zu lang, und über dem hageren, knochigen Gesicht wölbte sich eine Schädeldecke mit spärlichem Haarwuchs. Am schlimmsten jedoch waren seine Augen. Ihre Höhlen waren viel zu klein, so daß die Augäpfel herauszuquellen schienen.

Halb geblendet, prügelte das Monster wie rasend auf Blaine ein und zwang ihn zurückzuweichen, bis er mit dem Rücken gegen ein anderes Bücherregal stieß. McCracken lenkte den Lichtstrahl noch einmal direkt ins Gesicht des Gegners, der die Hände vor die Augen riß, um sich vor dieser Qual zu schützen. McCracken ergriff die Gelegenheit, um sich rasch vor dem entschlossenen, aber unkonzentrierten Angriff des Mißgebildeten wegzuducken. Er nutzte den gegnerischen Schwung und stieß das Monster roh vornüber gegen einen Stahlträger, so daß es mit dem Gesicht aufprallte.

Der Killer brüllte auf, rammte die Ellbogen nach hinten und schüttelte Blaine ab. Als McCrackens Taschenlampenlicht ihm erneut in die Augen drang, schrak er mit nochmaligem gräßlichen Knurren heftig zurück. Ein abermaliges, heiseres Aufschreien ging einer Attacke aus dem Dunkel voraus, die Blaine nicht kommen sah. Die Faust des Entstellten traf Blaines Handgelenk; seine Finger wurden taub, Schlüsselbund und Taschenlampe flogen in hohem Bogen in die Finsternis.

Die Lampe leuchtete weiter, während sie über den Fliesenboden rollte, und gab Blaine genügend Licht, um ihm den Rückzug zu ermöglichen, ehe der Mörder wieder ganz zu sich kam. Aber die überall verstreuten Bücher behinderten sein Vorankommen und raubten ihm wertvolle Sekunden. Und gerade als er das Ende des Gangs erreichte, grub sich eine kraftstrotzende Hand von hinten in seine Schulter.

Jetzt hatte der Mörder offenbar keine Lust mehr zu kleinen Spielchen. Blaine trudelte rückwärts durch die Luft und prallte unweit der Stelle, wo Gloria Wilkins-Tates Leiche lag, gegen die Wand. Bevor er wieder Luft bekam und das Gleichgewicht zurückerlangte, klammerte das Scheusal beide Pranken an seine Jackenaufschläge und riß ihn zu sich heran. Blaine fühlte, wie seine gesamten inneren Organe durchgeschüttelt wurden, und ihm knickten die Beine ein. Der Killer schlug mit der Faust zu, aber Blaine konnte sich noch mit knapper Not ducken. Hinter ihm barst die Wand, und Putz rieselte herab.

Um McCracken schienen Nebel zu wallen, und er nahm alles nur noch undeutlich wahr. Er wehrte den nächsten und auch einen weiteren Schlag ab. Dann jedoch hatte das menschenähnliche Monstrum ihn fest im Griff, und seine Finger drückten ihm die Kehle zu, genau an der Halsschlagader. Da flammte plötzlich, ehe Blaine sich irgendeine Verteidigungsmöglichkeit überlegen konnte, die Beleuchtung auf.

Gequält heulte das Monster auf, löste die Hände von McCrackens Hals und bedeckte die Augen. Es torkelte rückwärts. Blaine schnappte nach Luft und sah, bevor er sich hochrappeln konnte, wie der Killer zum nächstgelegenen Ausgang rannte und verschwand.

Der fette Mann meldete sich mit kaum hörbarer Stimme am Telefon.

»Hallo?« fragte Thurman.

»Ich bin da«, ertönte die diesmal etwas deutlichere Antwort. »Sie haben mich mit vollem Mund erwischt. Anguilles Quo Vadis. Sie wissen, was das ist, oder?«

»Nein, weiß ich nicht.«

»Wir sollten Ihnen ein bißchen Kultur vermitteln, Thurman, das müssen wir wirklich mal angehen. Anguilles Quo Vadis sind Aale in einer besonderen, grünen Kräutersoße aus Schnittlauch, Minze und Petersilie, die ich selber anrühre. Natürlich muß man in der jetzigen heißen Jahreszeit für Aale eine besondere Lieferquelle kennen. Meine werden im Winter in Italien eingefroren und in Spezialbehältern versandt. Ein Anruf, und binnen vierundzwanzig Stunden sind sie hier.«

»Da wir gerade von Anrufen reden …«

»Fassen Sie sich kurz. Warm schmecken die Aale nämlich am köstlichsten.«

»Mir ist es gelungen, dafür zu sorgen, daß McCracken am Leben bleibt«, sagte Thurman.

»An sich zählt er eigentlich nicht zu den Leuten, die dafür Hilfe benötigen.«

»Dieses Mal hatte er sie nötig. Er ist im Hauptgebäude der New Yorker Stadt-Bibliothek einer der … Kreaturen Haslangers in die Arme gelaufen.«

»Ach, dann ist der alte Eierkopf wohl leicht nervös geworden.«

»Dazu hat er allen Anlaß, wenn McCracken ihm nachschnüffelt.«

»Wie wir es erwartet haben.«

»Aber es gibt noch mehr Komplikationen. Gruppe Sechs interessiert sich für Harry Limes Wohnung.«

Die Stimme des fetten Mannes wurde leicht besorgt. »Damit haben wir nicht gerechnet. Wieso?«

»Der Vorfall in Cambridge war wohl eine zu große Versuchung für diese Typen. Sie haben die Zusammenhänge schneller durchschaut, als wir dachten.«

Thurman hörte, daß der Fette wieder kaute. »Dumme Sache … Ich war der Meinung, die hätten inzwischen gar kein Personal mehr.«

»Was sie noch haben, sitzt in Key West. Auf die schnelle können wir ihnen, selbst wenn wir es wollten, nichts entgegensetzen.«

»Es wäre ja Ironie, wenn unsere Aktivitäten dahin führten, daß Gruppe Sechs doch noch ihre Ziele erreicht. Das muß um jeden Preis verhindert werden.«

»Ich kann mir eine Lösung vorstellen«, äußerte Thurman.

»Heraus mit der Sprache.«

»Wir lassen sie glauben, sie hätten gewonnen. Sollen sie sich den Jungen ruhig schnappen.«

»Ein höchst unpassender Vorschlag.«

»Eigentlich nicht. Wir haben ja McCracken.«