Kapitel
26

»Dafür werden Sie mir büßen«, hörte Blaine die Stimme nach kurzem, nur von Schritten durchdrungenem Schweigen. »Sie, Dr. Lyle, und auch der Junge.« Susan Lyle – die Teamleiterin der Sonderabteilung Brandwacht, die er in Joshua Wolfes Studentenwohnung kennengelernt hatte. Nun kreuzten ihre Wege sich zum zweiten Mal, und dieses Mal war der Junge bei ihr.

McCracken schaute Wareagle an, dessen Blick unverwandt auf die Luke gerichtet war. Offenbar rechnete er jeden Moment mit einer Auseinandersetzung. Doch niemand zeigte sich, die Konfrontation blieb aus. Die Personen oben in der Garage waren so auf sich selbst konzentriert, daß sie die offene Bodenklappe nicht bemerkten.

»Ich glaube, wir können mit den Höflichkeiten Schluß machen«, fuhr die Stimme fort, diesmal weiter weg von der Luke. Wahrscheinlich gehörte sie Fuchs oder vielleicht auch Haslanger. »Krill«, befahl der Mann, »bring sie her.«

Reglos lauschte Blaine, während kaum hörbar Schritte über den Betonboden tappten. Er erkannte sie wieder: Es waren die Schritte des greulichen Mutanten, der ihn in der New Yorker Stadtbibliothek angegriffen hatte. Höchstwahrscheinlich handelte es sich um ein lebendiges Laborgeschöpf Haslangers.

McCracken wartete, bis keine Schritte oder anderen Geräusche mehr zu hören waren, ehe er ein zweites Mal den Fuß auf die Leiter setzte. Bevor er jedoch hinaufkletterte, sah er Johnny an. »Stell uns einen brauchbaren Schlitten bereit, Indianer, und mach dich auf eine rasante Spritztour gefaßt.«

»Was soll ich nun mit Ihnen anfangen?« wandte Colonel Fuchs sich in vorwurfsvollem Ton an Joshua Wolfe und Susan und schüttelte den Kopf, während er die Tür der Testkammer von innen schloß. »Obwohl Sie mein Vertrauen mißbraucht haben, möchte ich natürlich nichts Unvernünftiges tun.«

Der Raum, in den Susan und Josh gebracht worden waren, war ein kleines Beobachtungszimmer, mit einer Glaswand, durch die man in die gegenwärtig dunkle Testkammer sehen konnte.

»Bitte nehmen Sie Platz«, sagte Fuchs.

Susan und Josh setzten sich auf die Stühle am einzigen Tisch des Beobachtungszimmers.

Die breitschultrigen Wachmänner stellten sich in starrer Haltung neben ihnen auf, und Haslanger hielt sich hinter Fuchs' Rücken; doch es war das mißratene menschliche Wesen, unter dessen Aufsicht Susan und Joshua aus der Garage heraufbegleitet worden war, das Josh offensichtlich als gleichermaßen faszinierend wie abstoßend empfand.

»Wie ich sehe, junger Freund«, meinte Fuchs zu Josh, »stößt Krill bei Ihnen auf großes Interesse.«

»Ich finde ihn eklig.«

»So sollten Sie aber nicht über ihn reden. Sie und er sind gewissermaßen Verwandte.«

Joshuas Miene spiegelte äußerstes Befremden.

»Sie gehören zu uns, mein Junge, so wie er«, erklärte Fuchs. »Sie sind genauso ein Resultat unserer Arbeit wie alle unsere übrigen Experimente. Man könnte sagen, Sie verkörpern ein Erbe unserer Vergangenheit.«

»Warum erzählen Sie ihm nicht die Wahrheit, Colonel?« brauste Susan auf. »Weshalb erzählen Sie ihm nicht, daß er nur hier ist, um Ihren Kopf zu retten? Washington ist drauf und dran, Sie rauszuwerfen und Ihren Saustall zu schließen.« Susan warf Josh einen kurzen Blick zu. »Du brauchst deine Sachen nicht auszupacken.«

Wütend funkelten Fuchs' Augen sie an. »Sehr beeindruckend, Doktor. Anscheinend endet Ihre Forschungstätigkeit nicht bei den Reagenzgläsern.«

»Sie haben sich über meine Vorgeschichte informiert, und ich mich über Ihre.«

»Und es hängt vieles von der Vorgeschichte ab, nicht wahr? Ihrer, meiner …« Fuchs heftete den Blick auf den Jungen. »Seiner.«

Wortlos erwiderte Josh den Blick.

»Kommen Sie, junger Freund, es kann doch unmöglich sein, daß Sie selbst nach dem Gespräch mit Dr. Haslanger am gestrigen Abend die Wahrheit nicht einmal ahnen? Denken Sie mal an seine Vorgeschichte.«

Joshuas Blick huschte von Fuchs zu Haslanger und zurück zu dem Colonel. Er wirkte völlig entgeistert. Seine Lippen zitterten.

»Für jemanden mit Ihrer Intelligenz müßte der Zusammenhang eigentlich offensichtlich sein. Dr. Haslanger ist Ihr Erzeuger. Sie sind das Produkt seiner früheren Experimente, die er betrieb, ehe er sich Gruppe Sechs angeschlossen hat. Das Projekt hieß Operation Offspring. Ihr Zweck war die Erzeugung von Genies, die ihren Erzeugern willig jeden Dienst erweisen sollten.«

»Mein Gott«, stöhnte Susan halblaut.

Fuchs beachtete sie nicht, sondern schaute nun Haslangers Ungeheuer an. »Krill dagegen wurde für einen ganz anderen Zweck geschaffen. Geeignete genetische Elemente anderer Spezies wurden identifiziert, erhielten eine neue, gemeinsame Form … Welche, sehen Sie ja selbst. Nicht alle Produkte unseres guten Doktors haben den Wunschvorstellungen entsprochen, aber Krill war schon ziemlich nahe dran.«

»Das wahre Ungeheuer sind Sie, Colonel«, sagte Susan in scharfem Tonfall.

Fuchs würdigte sie keines Blicks. »Sie hingegen, junger Mann, entsprechen voll und ganz seinen Erwartungen. Leider haben ihn die Umstände gezwungen, auf die Beeinflussung Ihrer weiteren Entwicklung zu verzichten, auf die sorgfältige Erziehung und Schulung, die gesichert hätten, daß Ihre Fähigkeiten noch umfangreicher entfaltet worden wären. Das war bedauerlich, aber unvermeidlich.«

»Quatsch«, widersprach Joshua Wolfe. »Sie steuern mein Leben schon, solange ich mich erinnern kann.«

»Das waren nicht wir, leider. Wir hätten die Situation mit entschieden mehr Takt und Verantwortungsbewußtsein gehandhabt als Dr. Haslangers Nachfolger. Außerdem wären Ihnen von uns die Mittel zur Verfügung gestellt worden, die es Ihnen erlaubt hätten, Ihr eigenes Potential besser zu erkennen. Als Beweis führe ich das hier an.«

Fuchs legte eine kleine Ampulle, die in Joshs Tasche gefunden worden war, vor den Jungen auf den Tisch. »Dank der wundervollen Einrichtungen, die wir hier besitzen«, stellte er fest, »hatten Sie heute einen höchst produktiven Tag.«

Joshua Wolfe gab keine Antwort.

»Ich vermute, diese Ampulle enthält das Ergebnis Ihrer Bemühungen, CLAIR zu korrigieren.«

Der Junge nickte.

»Wir sind natürlich der Auffassung, daß CLAIR ganz in Ordnung ist. Aus unserer Sicht hat es sich in Cambridge bestens bewährt, und wir möchten es für uns in genau dieser Version haben. Deshalb muß ich Sie jetzt bitten, uns die Formel bekanntzugeben.«

»Damit Sie noch selektiver töten können als bisher«, mischte sich Susan ein. »Dummerweise haben Sie keine sonderlich eindrucksvolle Erfolgsbilanz vorzuweisen. Wo würden Sie CLAIR zuerst testen, Colonel? Wo wollen Sie das nächste Mal Murks machen?«

Endlich sah Fuchs sie doch an. »Ich rate Ihnen dringend davon ab, weiter in diesem Ton zu sprechen. Sie haben Ihren Mutterinstinkt zu weit getrieben, Dr. Lyle, und Sie sind mir in die Quere gekommen. Ich habe Ihnen vertraut, und Sie haben mein Entgegenkommen schlecht gelohnt.«

»Sie haben mich von Anfang an über den Tisch gezogen.«

»Reine Sicherheitsvorkehrung, sonst nichts.«

»Ihnen war klar, daß ich dem Jungen zur Flucht verhelfen wollte. Sie wußten, daß ich ihn auf keinen Fall hier bei Ihnen lassen konnte.«

In diesem Moment bemerkte Josh, daß der Blick aller Anwesenden auf Susan ruhte. Bevor irgend jemand ihn wieder anschauen konnte, schnappte er sich die Ampulle mit der klaren Flüssigkeit vom Tisch; erst legte er sie in seinen Schoß und hielt eine Hand darüber, dann schob er sie in die Tasche.

»Weil Sie hundertprozentig berechenbar sind. Selbstverständlich war der Plan, den Sie und der Junge sich ausgedacht hatten, leicht zu durchschauen. Wir brauchten nur abzuwarten, bis Sie sich selbst verraten.«

»Unser Fluchtversuch war vollkommen gerechtfertigt. Ihr Verhalten beweist es.«

»Und was hat der Unfug Ihnen eingebracht? Fühlen Sie sich jetzt wohler, vielleicht mütterlicher? Ist dadurch etwa der kleinste Schritt getan worden, um die gefürchtete Krankheit Krebs zu besiegen, die sich bei Ihnen eventuell schon in mikroskopisch kleinen Zellanomalien zeigt, die noch niemand entdecken kann? Auf eine solche Weise können Sie weder sich retten, Doktor, noch Joshua Wolfe. Es gibt Größeres als Sie beide.«

»Sie zum Beispiel?«

»Ich? Nein. Die Gruppe Sechs – ja. Um zu erreichen, was unser Vaterland zum Überleben benötigt, gibt es keine Regel, die nicht gebrochen werden dürfte, kenne ich keine Maßnahme, die ich nicht ergreifen würde.« Zur Bekräftigung nickte Fuchs und wandte sich erneut an Joshua Wolfe. »Und nun die CLAIR-Formel bitte.«

In abweisendem Trotz schüttelte der Junge den Kopf. »Die kriegen Sie nicht. Von mir kriegen Sie überhaupt nichts.«

»Bitte überlegen Sie sich das noch mal.«

Joshua schüttelte erneut den Kopf.

Fuchs seufzte in aufrichtigem Bedauern auf und nickte den beiden breitschultrigen Wachmännern zu. Vor Joshs Augen packten sie Susan, zerrten sie vom Stuhl und trugen sie zu einem anderen, vom Tisch entfernten Stuhl. Der eine Mann drückte sie auf den Sitz, während der andere ihr die Hände auf dem Rücken fesselte.

»Was soll denn das?« rief Josh. »Lassen Sie sie los!«

»Gerne, junger Freund«, beteuerte Fuchs. »Sie müssen sich nur zur Zusammenarbeit entschließen.«

»Lassen Sie sie in Frieden!«

Krill trat vor und holte aus seiner Tasche einen sonderbar aussehenden Gegenstand, der einer Pistole ähnelte, die statt des Abzugs eine Taste hatte. Das Gerät war rund dreißig Zentimeter lang und glänzte in dem trüben Licht des Beobachtungszimmers.

»Sie wissen, was das ist?« meinte Fuchs.

»Nein«, antwortete Josh.

»Dr. Haslanger, wenn ich bitten darf …«

Der Greis kam näher. »Ich nehme an, das Taser-Elektroschockgerät ist Ihnen ein Begriff. Dieses Exemplar ist eine von uns entwickelte Variante mit stufenweise verstellbarer Voltstärke. Der Lauf schickt zwei Sonden über eine Distanz, die wir auf rund zehn Meter erweitert haben. Die Schockwirkung reicht so vom Lähmungseffekt bis zum Tod.«

»Es gibt zehn Stufen«, ergänzte Fuchs die Darlegungen Haslangers. »Wir fangen bei Stufe fünf an.«

Krill schaltete die Elektroschock-Pistole auf die gewünschte Voltstärke.

»Sie müssen hier jetzt nicht die Heldenhafte spielen, Dr. Lyle«, sagte Fuchs. »Sie sind unter Freunden.«

Drei Meter trennten Krill von Susan; damit befand er sich in optimaler Schußentfernung.

»Ich schlage vor, Dr. Lyle, Sie empfehlen nun Ihrem jungen Freund, uns zu überlassen, was wir haben möchten. Ich gebe Ihnen den Rat, ihm zu sagen, er soll uns den Chip aus dem Faxgerät aushändigen, auf dem wir die CLAIR-Formel finden können.«

»Rutschen Sie mir den Buckel runter«, entgegnete Susan, die sich angestrengt bemühte, nicht zu Krill hinüberzublicken.

»Junger Mann«, sagte Fuchs zu Josh, »ich hoffe, Sie zeigen die Reife, an der Dr. Lyle es eindeutig fehlen läßt. Und Ihr Bruder Krill hat weniger Geduld als ich. Bitte geben Sie uns, was wir verlangen.«

Josh zitterte und sah hilfesuchend zu Susan. Ihre starre Miene sagte ihm, was er zu tun hatte.

»Von mir bekommen Sie nichts.« Joshua strich sich mit der Hand durchs Haar und merkte, daß sie zitterte.

»Krill«, sagte Fuchs.

Der Riese zielte mit der Schockwaffe auf Susan.

»Halt, warten Sie!« schrie Josh und beugte sich vor, ohne vom Stuhl aufzustehen.

»Haben Sie es sich anders überlegt, junger Mann?«

»Ich, ich …«

»Abfeuern!«

Krill drückte die Taste.

McCracken preßte die Schultern gegen die Mauer. Er stand an der Ecke des Korridors, der zu dem Raum führte, in den Susan Lyle und Joshua Wolfe gebracht worden waren, und beobachtete die Wächter neben der in rund sechs Metern Abstand gelegenen Tür. Die Entfernung war zu groß, um sie mit einem Sprung zu überwinden. Blaine überdachte andere Möglichkeiten, da hörte er einen Schrei – den Schrei einer Frau, ein schrilles, durch schrecklichen Schmerz verursachtes Aufheulen.

Susan Lyle …

Damit hatte er nur noch eine Möglichkeit.

McCracken rannte in den Korridor, Waffe und Augen von den Wächtern abgewandt. Er näherte sich den beiden, als wäre er einer von ihnen und befände sich in heller Panik.

»Ist der Colonel da drin?« rief er und streifte sie nur mit halbem Blick.

Die zwei Männer schauten sich an, die Hände dicht an den Waffen, offensichtlich unsicher, wie sie reagieren sollten.

»Ob der Colonel …«

Mehr brauchte McCracken nicht an Ablenkung, um nahe genug an die Wächter heranzukommen und sie auszuschalten. Er stieß dem näherstehenden Mann den Pistolenlauf gegen das Kinn und attackierte sofort den zweiten Wächter, der gerade die Waffe gezückt hatte. Blaine hieb die Knöchel seiner hart geballten Faust gegen dessen Luftröhre und zerquetschte sie. Der Mann griff sich an die Gurgel, die Augen quollen ihm hervor, und er sackte zu Boden.

Der andere Wächter, dessen Gesicht nur noch aus blutigem Fleisch bestand, wollte auf ihn losgehen, doch McCracken knallte ihm den Griff der SIG-Sauer auf den Nasenrücken. Blaine spürte, wie die Knochen zerkrachten und die Splitter sich in den Schädel bohrten. Der Mann brach zusammen.

Augenblicklich wandte sich McCracken der Tür zu und holte eine zündfertig vorbereitete Ladung C-4-Plastiksprengstoff aus der Tasche. Er zog die Schutzhülle von der Zündvorrichtung und klebte die Ladung neben dem Türrahmen an die Tür. Dann drückte er den Knopf. Die Verzögerung betrug zwanzig Sekunden, genug Zeit für Blaine, sich in sicherer Entfernung an der Wand, die Pistole in der Faust und die Ohren zugestopft, bereitzuhalten.

Die Schock-Pistole hatte sich in der Hand des Riesen nicht im mindesten bewegt. Er aktivierte den Einholmechanismus, und die beiden winzigen Elektroden wurden an ihren Drähten aufgespult. Susan wand sich auf dem Stuhl. Zuckungen schüttelten ihren Körper. Weil sie sich infolge der Konvulsionen auf die Zunge gebissen hatte, sickerte ihr Blut aus dem Mundwinkel. Schließlich sank sie so weit vornüber, wie die Fesseln es zuließen.

Verzweifelt versuchte Josh, in ihren glasigen Augen Leben zu entdecken.

»Hören Sie damit auf«, sagte er. »Hören Sie auf«, wiederholte er lauter.

»Wir wollen die Formel haben, junger Freund«, hielt Fuchs ihm entgegen. »Geben Sie sie uns.«

Josh sah Fuchs an, dann wieder Susan. »Krill«, befahl der Colonel, »stell den Schocker auf Stufe sieben.« Sein Blick fiel zurück auf Joshua. »An Ihrer Stelle würde ich jetzt zu reden beginnen, junger Mann.«

Josh sah, daß der Riese den Schocker ein zweites Mal auf Susan richtete. »Er ist hier«, sagte er, die Worte sprudelten heraus, bevor er sie denken konnte.

Fuchs schaute kurz zu Haslanger. »Was soll das heißen, er ist hier?«

»Der Faxchip. Er ist in meinem Zimmer. Ich habe ihn aus Florida mitgebracht.«

»Sie sind im Hotel gründlich durchsucht worden. Das hat Sinclair mir glaubhaft versichert.«

»Nicht gründlich genug. Ich habe den Chip in einen Kaugummi eingewickelt und ihn im Mund behalten. In der Flugzeugtoilette habe ich ihn rausgenommen.«

»Wo in Ihrem Zimmer, junger Freund?«

Mühsam schluckte Josh. »Dr. Lyle braucht ärztliche Behandlung. Ich will, daß Sie erst einen Arzt rufen.«

Fuchs wandte sich an den Riesen. »Krill …«

Josh sprang vom Stuhl auf. »Er ist in der Bonbondose. Ganz unten. In Bonbonpapier eingewickelt.«

Fuchs lächelte. »So gefällt mir das schon besser.«

»Und jetzt rufen Sie einen Arzt!«

Fuchs' Mundwinkel verzogen sich zu einem bösartigen, hämischen Grinsen. »Überflüssig. Sie müssen eine Lektion erhalten. Mr. Wolfe, Sie sollen eine deutliche Vorstellung davon bekommen, was Ihnen droht, wenn Sie sich künftig meinem Willen widersetzen.«

»Nein!«

»Stell Stufe zehn ein«, sagte Fuchs zu Krill, »und mach sie fertig.«

Ratlos stand Josh da und konnte keinen klaren Gedanken fassen. Jetzt war er bereit, alles aufzugeben. »Es existiert noch eine Ampulle! Eine zweite Ampulle CLAIR!«

»Sie behaupten, es …«

Josh sah Krill die Schockwaffe heben und einen riesigen, überlangen Finger auf die Auslösetaste legen. Er machte einen Satz in Susan Lyles Richtung, um sie aus der Schußbahn der Sonden zu reißen.

Als er sie gerade erreicht hatte, hörte er einen gedämpften Knall, und in derselben Sekunde trafen ihn die Sonden. Die Wirkung fühlte sich an, als wäre er gegen eine glühendheiße Wand gelaufen und käme nicht mehr von ihr weg. Mitten im Atemzug schien alles ringsum zur Bewegungslosigkeit zu erstarren. Sogar seine Augen blieben offen und sahen, wie die Tür explosionsartig ins Zimmer geschleudert wurde.

Unter der Wucht der Detonation stürzte Susans Stuhl um und riß Josh mit sich. McCracken registrierte es aus den Augenwinkeln, als er hinter den Trümmern der Tür in das Zimmer sprang. Der Sturz hatte Susan vom Stuhl getrennt. Blaine streifte die Fesseln von ihren Handgelenken und zog sie vom Fußboden hoch.

Joshua Wolfe lag reglos auf den Fliesen. Blaine schob Susan hinter sich und deckte sie mit seinem Körper, als er das Feuer auf die beiden Männer eröffnete, die durch die Explosion gegen eine Glaswand geworfen worden waren.

Sie hatten ihre Waffen gerade gezogen, als Blaines Treffer sie zum zweitenmal gegen das Glas taumeln ließen, diesmal mit solcher Gewalt, daß es zersprang. Sofort war Blaines Aufmerksamkeit bei den zwei anderen Gestalten, die die Detonation ebenfalls zu Boden geworfen hatte und die jetzt hastig in Deckung krochen.

»Vorsicht!«

Susans Zuruf ließ ihn nach rechts schauen, als er gerade die Waffe auf die beiden am Boden richten wollte, die nur Fuchs und Haslanger sein konnten. Das Ungeheuer, mit dem er schon in der New Yorker Stadtbibliothek unangenehme Bekanntschaft gemacht hatte, zielte mit irgendeinem Ding auf ihn. Er duckte sich, und mit Geknister sauste etwas über ihn hinweg.

Geduckt verschoß er das restliche Magazin der SIG-Sauer auf den Riesen. Seine Kugeln gingen daneben, zwangen aber die Kreatur, hinter einem umgekippten Tisch in Deckung zu gehen.

Blaine nutzte die Gelegenheit, um ein neues Magazin nachzuladen, und feuerte auf die dicke Tischplatte, um das Scheusal unten zu halten. Dadurch hatte er Zeit, mit einem Arm die schlaffe Gestalt Joshua Wolfes zu sich heranzuziehen.

»Los, raus!« rief Blaine Susan zu. Obwohl sie noch unsicher auf den Füßen war, wankte sie in den Flur hinaus.

Sobald er ihr auf den Gang gefolgt war, nahm Blaine Joshua Wolfe, den er hinter sich her geschleift hatte, über die linke Schulter, so daß er die Rechte weiterhin zum Schießen benutzen konnte. Genau in diesem Moment stürmte durch den Korridor ein halbes Dutzend Wachleute mit gezogenen Waffen auf sie zu.

»In Deckung!« schrie er Susan an und schoß das zweite Magazin leer.

Mit fast unheimlicher Präzision stürzten die Männer der Reihe nach vor ihm zu Boden, so daß McCracken sein Tempo kaum verringern mußte, sondern zügig über sie hinwegsetzen konnte. Der Junge, den er von Harry Limes Foto kannte, baumelte ihm über der Schulter.

»Dort nach links«, rief McCracken Susan zu. »Dann zweite Treppe rechts! Wir müssen in die Tiefgarage zurück.«

Er bemerkte, daß sie stutzte, als er die Garage erwähnte, sparte sich aber fürs erste umständliche Erklärungen. Gerade waren sie zum Treppenabsatz gelangt, da heulten im gesamten Bereich des Gruppe-Sechs-Hauptquartiers die Alarmsirenen auf.

In der Tiefgarage wartete Johnny Wareagle neben einem sechsrädrigen Fahrzeug, wie es sonst beim Militär zu Aufklärungszwecken Verwendung fand, einem Panzerwagen aus solidem, schwarzem Stahl. Die Luke oben stand offen, der Motor lief warm, und die Nase zeigte schon in Richtung Auffahrt.

»Die Karre war das Beste, was ich auftreiben konnte, Blainey«, sagte Wareagle und nahm Joshua Wolfe von Blaines Schulter.

»Bring den Jungen rein! Und sie auch.«

»Du fährst, Blaine.«

»Wir müssen durch die Laser, Indianer.«

»Deshalb sollst du ja fahren.«

»Schnell«, flehte Susan Lyle verzweifelt. »Ich glaube, er atmet nicht mehr.«

Blaine sah, daß Joshua Wolfes Lippen blau anliefen, während Johnny ihn in das Fahrzeug hinunterließ. Speichel rann ihm aus den Mundwinkeln, und Krämpfe schienen ihn zu schütteln.

Susan Lyle war als erste in den gepanzerten Wagen geklettert und half Johnny, den Jungen auf einen Sitz zu legen. Sein Körper blieb jetzt vollkommen still.

»Nein«, stöhnte Susan, »nein …!«

»Fahr los, Blainey!« drängelte Johnny, kaum saß Blaine am Lenkrad. Die großen Reifen rollten ruckartig und quietschend an, als McCracken den Gang einlegte und Gas gab. Wareagle bückte sich und nahm eine gewehrähnliche Waffe, die an der Mündung eine Art Sprühdüse aufwies. Außerdem hängte er sich zwei Apparate um, die auf den ersten Blick nach Funkgeräten aussahen, bei denen es sich aber vermutlich um etwas ganz anderes handelte. Blaine entsann sich, daß sie zu den Gegenständen gehörten, die Wareagle in dem unterirdischen Waffenlager eingepackt hatte. Offenbar hatte er inzwischen ihren Zweck und die Bedienungsweise herausgefunden. Die Adrenalinschübe, die Susan durchströmten, ließen sie allmählich die Folgen des Elektroschocks überwinden. Sie begann an Joshua Wolfes Brustkorb Herzmassagen. Zwischendurch bog sie seinen Kopf immer wieder nach hinten und beatmete ihn Mund zu Mund.

»Komm schon! Los doch! Laß mich jetzt bloß nicht im Stich!« Während sie die Herzmassage unermüdlich fortsetzte und seinen Kreislauf zu stabilisieren versuchte, rang sie selbst nach Atem.

McCracken steuerte den Panzerspähwagen durch das Parkdeck und die steile Rampe hinauf, die nach oben führte.

»Oh oh«, murmelte er, als er am Ende der Rampe eine zweiflügelige, schwere Tür sah, die Johnny offensichtlich nicht hatte öffnen können. »Festhalten!«

Blaine raste mit dem Fahrzeug direkt auf das Tor zu und trat das Gaspedal bis zum Anschlag durch. Das Tor barst nicht, als McCracken es rammte, flog aber aus den Angeln und zur Seite. Der Spähwagen rumpelte auf das flache, grasige Feld vor dem Gruppe-Sechs-Gebäude.

Susan hielt Josh fest, aber die holprige Fahrt schüttelte seinen schlaffen Körper durch. Seine Gliedmaßen hüpften wie bei einer Marionette, deren Drähte durchtrennt worden waren. Im Rückspiegel sah Blaine, daß Susan weiterhin zwischen Herzmassage und Beatmung abwechselte. Währenddessen traf Johnny Vorbereitungen für die nächste Phase der Flucht.

»Sie sind draußen«, meldete Sinclair aus der Tiefgarage.

Völlig außer Atem war Colonel Fuchs soeben in der Kommando- und Kommunikationszentrale eingetroffen. Er drückte sich ein Taschentuch an den Kopf, um den Blutfluß einer Verletzung zu stillen, die er durch umherfliegende Glassplitter erlitten hatte.

»Nicht verfolgen!« ächzte der Colonel. »Ich wiederhole, keine Verfolgung aufnehmen! Wir lassen sie von den Lasern erledigen.«

»Alle Abwehrsysteme in Funktion, Sir«, meldete Larsen von seinem Platz. »Alle Lichter grün.«

»Prüfen, ob Automatikstatus in Betrieb.«

»Bestätige Automatikstatus in Betrieb, Sir.«

Fuchs stützte sich auf die Rücklehne eines Stuhls und wandte sich den Observationsmonitoren zu. Gerade übertrugen die Kameras der Sicherheitszonen, wie ein Radpanzerwagen das Feld entlangraste.

Johnny Wareagle hatte die Dachluke des Panzerfahrzeugs aufgeklappt und sich halb hinausgezwängt. Laue Abendluft umwehte ihm Gesicht und Oberkörper.

»Die Laser, Indianer«, rief Blaine vom Fahrersitz zu ihm hinauf. »Sie werden rausfahren.«

Wareagle betätigte am einen der beiden unidentifizierbaren Apparate einen Schalter und schleuderte ihn nach vorne links. Dann tat er das gleiche am zweiten Gerät und warf es nach vorne rechts. Anschließend duckte er sich ins Fahrzeuginnere zurück und knallte die Luke zu.

Es folgten keine Explosionen, sondern nur ein kurzes, äußerst durchdringendes Zwitschern, das eine Gänsehaut hervorrief, ganz ähnlich wie das Kratzen von Fingernägeln auf einer Schiefertafel. Blaine spürte, wie der Panzerspähwagen bockte, langsamer wurde und der Motor beinahe ausging. Am Armaturenbrett spielten die Instrumente verrückt. Die Uhr blieb stehen.

»Na, das ist ja 'n Ding«, meinte er, bevor er das Fahrzeug mit neuer Beschleunigung durch die Nacht lenkte.

Sämtliche Monitore, die den vorderen Abschnitt der Sicherheitszonen des Gruppe-Sechs-Komplexes zeigten, fielen mit einem Schlag aus. Gleichzeitig flackerte die Beleuchtung, um danach leicht trüber weiterzubrennen.

»Was ist passiert?« wollte Fuchs von Larsen erfahren. »Was ist los?«

»Sie müssen die NEPPs benutzt haben«, sagte Haslanger, der gerade die Kommando- und Kommunikationszentrale betreten hatte. Er lehnte sich an die Wand. Eine Vielzahl kleiner Schnittwunden und Abschürfungen verunstalteten sein Gesicht.

»Die was?«

»Die Nonnuclear Electromagnetic Pulse Packs. Damit haben sie die Bewegungsmelder und Infrarotsensoren der Sicherheitszone lahmgelegt.«

»Und wie steht's mit den Lasern?«

»Sie werden von hier aus mit Strom versorgt«, erklärte Larsen. »Sie dürften noch einsatzbereit sein, Sir.«

»Dann setzen Sie sie ein!« befahl Fuchs. Er vergaß die Schnittwunde an seinem Kopf und ließ das Blut über den Kragen auf den Uniformrücken sickern. »Schalten Sie auf manuelle Bedienung um!«

»Wir müßten aber blind feuern, Sir.«

»Ist mir egal. Feuern Sie! Schießen Sie auf alles, was sich bewegt! Eröffnen Sie augenblicklich das Feuer! Verstanden? Sofort …!«