Kapitel
11

Am Mittwochmorgen traf Colonel Lester Fuchs ganz früh, während die Korridore noch gähnend leer waren, im Gruppe-Sechs-Hauptquartier ein. Er schloß seine Bürotür hinter sich und trat an den begehbaren Kleiderschrank. Darin bewahrte er eine schon komplett mit Generalssternen versehene Uniformjacke auf, die in einem Wäschebeutel versteckt war. Er tauchte sie gegen die Colonel-Uniformjacke aus, die er trug, und setzte sich an den Schreibtisch.

Ein mieser Tag stand ihm bevor, einer der schlimmsten überhaupt. Heute mußte er sich für das gestrige Debakel rechtfertigen. Fünf Freiwillige waren gestorben. Drei weitere würden für den Rest ihres Lebens von schrecklichen Brandnarben verunstaltet bleiben. Fuchs rechnete damit, daß man die Gruppe-Sechs-Aktivitäten zumindest drastisch einschränkte. Im schlimmsten Fall aber drückten seine Widersacher im Kongreß ihren Willen durch, und man servierte ihn ab. Die Kräfte in Washington, deren Rückhalt Gruppe Sechs genoß, konnten nur geringe Schadensbegrenzung betreiben. Irgendwann mußte jemand als Sündenbock herhalten. Und dieser Jemand würde wahrscheinlich er sein. Fuchs erschrak, als auf seinem Schreibtisch das Telefon klingelte. Wer glaubte, daß er so früh im Büro zu erreichen war?

»Ja?« meldete er sich, preßte den Hörer ans Ohr.

»Es gibt eine Neuigkeit«, sagte General Starrs Stimme. »Und zwar etwas, das es uns eventuell ermöglicht, der Pechsträhne, in der wir momentan feststecken, ein Ende zu machen.«

Erstarrt kippte Fuchs gegen die Rückenlehne des Sessels, als befürchte er, Starr könnte seine unrechtmäßig angezogene Generalsjacke sehen.

»Gruppe Sechs muß sich unverzüglich um die Sache kümmern«, fuhr der General fort. »Da bieten sich immense Aussichten. Ich faxe Ihnen zu, was uns an bisherigen Erkenntnissen vorliegt. Das Fax müßte jeden Augenblick bei Ihnen eingehen.«

»Einen Moment bitte, Sir.«

Fuchs sprang auf und eilte zu der in die Rückwand des Büros integrierten Kommunikationsanlage. Außer vier abhörsicheren Telefonen umfaßte die Ausstattung drei Faxgeräte. Fuchs' Hand schwebte schon über dem Apparat, als aus dem für Mitteilungen aus Washington reservierten Faxgerät das erste Blatt zum Vorschein kam. Das Fax war nur drei Seiten lang. Während das zweite und dritte Blatt hervorsurrten, las sich Fuchs bereits die erste Seite durch. Seine Hand zitterte, als er den Telefonhörer wieder ans Ohr hob.

»Wie vertraulich sind diese Informationen, Sir?«

»Sie sind als streng geheim zu betrachten.«

»Diesen Jungen müssen wir unbedingt haben, Sir.«

»Mein Stab hat die Aufgabe übernommen, ihn zu schnappen. Ich glaube, ich kann es so arrangieren, daß keine juristischen Bedenken entstehen.«

»Und die Frau, diese …« Fuchs mußte auf dem Blatt nachschauen. »Ich meine Dr. Lyle. Mit ihrem Fachwissen könnte sie uns ebenfalls nützlich sein. Wäre es möglich, sie zu versetzen?«

»Warum nicht?« gab General Starr gelassen zurück. »Schließlich ist sie für denselben Brötchengeber wie wir tätig.«

Die Tür zu Colonel Fuchs' Büro stand offen, als sich wenige Minuten später Erich Haslanger dort einfand. Der Anruf des Colonel hatte ihn in einem Labor der Gruppe Sechs erreicht. Fuchs hatte einen Ton angeschlagen, den Haslanger seit Wochen nicht mehr gehört hatte. Der Colonel saß am Schreibtisch, als Haslanger eintrat, hatte die Hände unter dem Kinn gefaltet, und die Andeutung eines Lächelns umspielte seine Lippen. Noch nie hatte Haslanger ihn so erregt gesehen, und endlich leuchtete ihm einmal etwas anderes als Verzweiflung aus den Augen.

Über den Tisch hinweg drückte Fuchs ihm das Fax in die Hand. »Das ist vorhin aus Washington gekommen«, sagte er und versuchte seine Aufgeregtheit im Zaum zu halten. »Ich möchte, daß Sie dazu Ihre Meinung äußern.«

Als er die Blätter entgegennahm, sah Haslanger, daß der Colonel eine Generalsuniform trug. Fuchs bemerkte seinen Blick auf die Generalssterne, doch anscheinend war ihm im Moment alles egal. Haslanger las; nach der Hälfte der ersten Seite und der erstmaligen Erwähnung Joshua Wolfes weiteten sich seine Augen. Er spürte, wie ihm die Farbe aus dem Gesicht wich, und fühlte sich benommen. Mit einer Hand klammerte er sich an die Rückenlehne des Stuhls, der vor Fuchs' Schreibtisch stand.

»Na?« drängte Fuchs.

»Im Effekt ist diese Substanz eine gut regulierbare Tötungsmaschine.« Haslanger hörte die eigenen Worte, als spräche die ein anderer. »Theoretisch kann das Zielgebiet so klein wie ein Häuserblock oder so ausgedehnt wie eine ganze Großstadt sein.«

»Wieso?«

»Wenn die Temperaturempfindlichkeit sich zur Ausbreitungsregulierung einsetzen läßt, dann ist das auch mit der Zellteilung möglich. Dafür bedarf es nur einer relativ simplen Berechnung, man muß ermitteln, wie oft die Zellen des Organismus sich teilen müssen, um ein bestimmtes Gebiet zu erfassen.«

»Ein Gebiet beliebiger Größe?«

»Fast jeder Größe.«

Fuchs beugte sich in seinem Sessel vor. »Das könnte unsere Rettung sein, Doktor. Auf genau so etwas haben wir gewartet. Es wurde bereits veranlaßt, den Jungen in Gewahrsam zu nehmen und uns zu überstellen …«

Erst jetzt fiel dem Colonel die gespenstische Blässe auf, die Haslangers Gesicht überzog. Sein Gesicht glich noch stärker einem Totenkopf. Er wirkte, als hätte ihm etwas den Atem geraubt.

»Was ist los, Doktor?«

»Dieser Junge …«

»Raus mit der Sprache.«

Haslanger schob sich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch, der absichtlich niedriger war als Fuchs' Sessel. »Es gibt etwas, das Sie wissen sollten …«

Der dicke Mann auf der Parkbank beugte sich vor, um mit den Brotkrümeln, die er den Tauben zuwarf, besser zielen zu können.

»Wissen Sie, eigentlich soll man das nicht tun, Thurman«, meinte er zu dem Mann, der neben ihm saß. »Die Vögel sind angeblich alle verseucht. So was gibt mir doch sehr zu denken.«

Thurman zappelte ungeduldig, obwohl er sich bemühte, ruhig zu sein. Er war groß und breitschultrig und zu stark mit Muskeln bepackt, als daß ihm Anzüge je bequem passen konnten. Die Sehnenstränge an seinem Hals zuckten jedesmal, wenn sein Gesichtsausdruck wechselte. Er hatte einen kantigen Quadratschädel, der wegen des blonden Borstenschnitts um so wuchtiger wirkte. Seine augenfälligste Eigenschaft war jedoch die häßliche Narbe, die auf der linken Gesichtshälfte von der Wange bis zum Kinn verlief.

»Wir haben nämlich mit Tauben experimentiert, Thurman«, erklärte der Dicke, dessen kahle Schädelwölbung dichte Haarbüschel umkränzten. »Auch mit Sperlingen. Wir dachten, sie wären unter Umständen das perfekte Übertragungssystem für eine lokale biologische Kriegsführung. Stellen Sie sich nur mal vor, was sich uns für Möglichkeiten geboten hätten! Aber die Viecher erwiesen sich als zu unzuverlässig. Sie sind weggeflogen und nie wieder aufgekreuzt.« Er warf den Vögeln zu seinen Füßen noch mehr Krumen zu. »Das hier könnten ihre Nachkommen sein.«

»Sie wollten wohl Freiheit und Abenteuer genießen.«

»Wissen Sie, sie sind eine ziemlich leckere Delikatesse«, sagte der Dicke und lehnte sich mit einem Aufseufzen des Behagens ein Stück weit zurück. »In diesem Alter natürlich nicht mehr. Nein, sie haben nur als Nestlinge, also bevor sie fliegen können, diesen wunderbaren Geschmack. Dann kann man sie mit einer Füllung braten. Besonders köstlich sind sie, wenn man sie mit der Leber in Madeirasoße zubereitet. Aber man darf nicht vergessen, sie zuzunähen. So etwas findet man heutzutage bei keinem Fleischer mehr. Am allergelungensten ist es, sie auf Toast zu servieren. Das kennen nur noch die Spitzenköche. So geht der Saft nicht verloren. Dann hat man etwas wirklich Wunderbares, einer guten Sache geopferter Nachwuchs …«

»Da wir gerade von Nachwuchs reden …«

»Die Sache in Cambridge wird als Unfall eingestuft, genau wie wir es vorausgesehen haben. In dieser Beziehung brauchen wir uns keine Sorgen zu machen. Und wie ist es bei Ihnen?«

»McCracken ist noch dran an der Angelegenheit«, sagte Thurman.

»Behalten wir ihn im Auge?«

»Wenn wir ihm zu nah auf die Pelle rücken, merkt er es sofort.« Eine unangenehme Erinnerung kam Thurman, und seine Finger strichen über die Narbe. »Das Risiko dürfen wir nicht eingehen.«

»Aber es war doch schon ein Risiko, ihn überhaupt für uns einzuspannen, und trotzdem haben wir es stillschweigend in Kauf genommen.«

»Das war ein überstürzter Entschluß. Wir haben nicht lange genug darüber nachgedacht … nicht die Nachteile erwogen.«

»Für den Fall seines Scheiterns, meinen Sie?«

»Nein«, antwortete Thurman. »Für den Fall, daß er uns auf die Schliche kommt.«