Kapitel
6

»Doktor?«

Die zusammengesunkene Gestalt Dr. Erich Haslangers hinter dem Schreibtisch rührte sich nicht.

»Wir werden auf dem Testgelände erwartet. Es dürfte ratsam sein, wenn wir uns nun auf den Weg machen.«

In dem hochlehnigen schwarzen Ledersessel regte Erich Haslanger sich langsam. Unter großer Anstrengung stand er auf und schlurfte mit knackenden Gelenken auf Colonel Fuchs zu. Demnächst wurde er dreiundsiebzig, und damit viel zu alt für diese Art von Arbeit. Doch er wußte keine andere, geschweige denn bessere Alternative. Ohne Beschäftigung hätte er zuviel Zeit, und Zeit fürchtete er mehr als alles andere, ausgenommen den Schlaf. Der Schlaf flößte ihm das größte Entsetzen ein. Darum hatte er vor fast zwei Jahren das Schlafen gänzlich aufgegeben. Dafür hatte er einen guten Grund: Einmal hätte Schlaf ihn fast das Leben gekostet.

Haslanger blieb vor Colonel Fuchs stehen. Sein Haß auf diesen Mann war heute noch größer als sonst. In tadellos geschneiderter Uniform, in vollem Wichs, stand er da. Fuchs' Haut umspannte ihn so straff, als müßte sie jeden Moment abspringen. Haslanger stellte sich gerne vor, daß Fuchs sich seinen Gesichtsausdruck morgens als Maske aufs Gesicht sprühte und den ganzen Tag zur Schau trug. Normalerweise zeigte seine Uniform um diese Zeit bereits ein paar Knitterfalten, und sein altmodischer Bürstenhaarschnitt mußte vor der hohen Luftfeuchtigkeit Long Islands kapitulieren. Aber heute nicht. Heute statteten hohe Tiere des Pentagons der Gruppe Sechs einen Besuch ab, und deshalb hatte Colonel Lester Fuchs dafür gesorgt, daß er taufrisch wie sonst nur am frühen Morgen aussah.

»Haben Sie gehört, Doktor?«

»Wie? Verzeihung, was ist?«

Inzwischen hatten er und Fuchs den Lift am Ende des Korridors erreicht. Wie er dort hingelangt war, wußte Haslanger schon nicht mehr, weil er sich in einem der Dämmerzustände befand, von denen er annahm, daß sie ihm den Schlaf ersetzten. Die blank polierte Stahltür des Aufzugs zeigte ihm sein Spiegelbild – ein erschreckender Anblick.

Sehe ich wirklich so gräßlich aus?

Ein lebender Leichnam, etwas anderes war er nicht mehr. Sein Gesicht war hager wie ein Totenkopf. Unter der bleichen, runzeligen Haut zeichneten sich Wangenknochen, Kiefer und Kinn schroff ab. Die Augen stierten grau und leblos, das weiße Haar bildete einen wilden Schopf. Dauernd schmerzten seine Gelenke, und er hatte ständig einen steifen Nacken.

»Ich habe Sie nach dem abschließenden Durchlauf gefragt, den Sie gestern für den heutigen Test machen wollten«, sagte Fuchs.

»Ja. Alles bestens.«

»Bestimmt?«

»Völlig.«

Fuchs schlug einen eisigen Ton an. »Ich entsinne mich daran, daß Sie vor der Panne in Reyvastat auch fest davon überzeugt waren.«

»Gar kein Vergleich«, erwiderte Haslanger ohne zu zögern. »Heute findet das Experiment unter vorher festgelegten Bedingungen statt, nicht in Kriegsgebiet.«

»Jedenfalls noch nicht«, entgegnete Fuchs grimmig.

Haslanger überhörte die Bemerkung. Er dachte schon an das ewig gleiche, salbungsvolle Gerede, das Fuchs seinen neugierigen Besuchern aus dem Pentagon auch heute wieder bieten würde: die ganze Geschichte der Gruppe Sechs, angefangen bei ihrer Entstehung. Wie die Organisation hier in der Abgeschiedenheit der entlegensten Kiefernwälder, nämlich im Regierungslaboratorium Brookhaven in Upton auf Long Island, tätig wurde, und schon damals ihre Ziele mit einzigartiger Hingabe und Entschlossenheit verfolgt hatte … Gruppe Sechs war so benannt worden, weil sie vom Pentagon ursprünglich als die sechste Abteilung der Streitkräfte vorgesehen war. Im Pentagon war man, allen voran General Starr, der Vorsitzende der Vereinigten Stabschefs, zu der Auffassung gelangt, aufgrund der hohen Bedeutung von Technologie und Technik sei es erforderlich, ihre Entwicklung zu zentralisieren. In Laboratorien wie Los Alamos, Lawrence Livermore oder Aragon verliefen häufig parallele Forschungen, so daß für dieselben Forschungsziele zahllose Arbeitsstunden doppelt und dreifach anfielen. All das sollte Gruppe Sechs ändern und im Rahmen dieser Umstellungen zu einer ganz neuen Institution heranwachsen.

Das war der Teil der Geschichte, den Fuchs am liebsten und am längsten breittrat. Haslanger wurde schlecht, wenn er nur daran dachte.

Die fünf Institutionen, die gegenwärtig damit betraut waren, die Interessen der Nation zu wahren, sahen sich dabei mit immer größeren Schwierigkeiten konfrontiert. Heer, Marine und Marinekorps, Luftwaffe und genauso das neu gegründete Spezialoperationen-Kommando, die Special Forces, mußten sich in der Welt nach dem Kalten Krieg behaupten, in der sich die Verhältnisse schneller änderten, als sie die Fähigkeit zur Anpassung entwickeln konnten. Brandherde flammten plötzlicher auf, als man sie löschen konnte, und eine Anzahl neuer Staaten hielten in einer Hand Brandfackeln und in der anderen Hand Atombomben.

Gruppe Sechs hatte anfangs den Auftrag erhalten, Waffen nichttödlicher Natur zu entwickeln. Allerdings betraf das jetzige, als bedeutsamer eingestufte Projekt des Brookhaven-Labors die Konstruktion einer Waffe mit dem Effekt, auch die modernsten nuklearen Systeme zu neutralisieren. Das Problem war allerdings, daß dieses Projekt – unter der administrativen Leitung Colonel Fuchs' – bisher kläglich gescheitert war. Noch komplizierter wurde die Angelegenheit dadurch, daß die quasigeheime Existenz von Gruppe Sechs in letzter Zeit Gegenstand mehrerer Enthüllungen in den Medien gewesen war. Der Präsident war wütend. Der Kongreß verlangte eine gründliche Untersuchung. In Washington waren einige der wichtigsten Förderer von Gruppe Sechs nach und nach auf Distanz gegangen; sie wollten nicht mit Projekten in Verbindung gebracht werden, die Hunderte Millionen von Dollars verschlangen, aber häufig nur die verheerendsten Ergebnisse erzielten.

Das jüngste Beispiel dieser Art war gleichzeitig das blamabelste: ein unsichtbares, nicht meßbares Gas mit der Bezeichnung GL-12, das in der Luft – oder im Trinkwasser, wenn man es in flüssigen Zustand brachte – die Wirkung hatte, jeden Betroffenen in Schlaf zu versetzen. Stellen Sie sich die Möglichkeit vor, hatte Haslanger stolz geprahlt. Denken Sie sich nur, wie leicht ein halsstarriger Gegner überwältigt werden kann, während die Verluste unserer Truppen auf Null reduziert werden. Mit Unterstützung der Armee hatte Gruppe Sechs eine Erprobung in Bosnien vorgenommen, in der moslemischen Kleinstadt Reyvastat, die unter dem rücksichtslosen Beschuß einer auf den umliegenden Hügeln eingegrabenen serbischen Panzereinheit stand.

Planmäßig hatte man über diesen Hügeln unbemerkt GL-12 abgeworfen. Dummerweise hatte Haslanger es versäumt, ein eventuelles Drehen des Windes in Betracht zu ziehen; deswegen wehte der Wind das Gas in den belagerten Ort. Als Ergebnis fielen die Bewohner in unvorhergesehenen Schlaf, aus dem aufgrund des anhaltenden Granatfeuers der Serben Hunderte nie mehr erwachten.

An Gruppe Sechs, an Erich Haslanger und an Colonel Lester Fuchs, haftete jetzt der Ruch des Massenmords. Obwohl die Umstände der Erprobung gewährleisteten, daß sie in Washingtoner Kreisen nie zum Gesprächsstoff wurde, ließ man von da an die Finger vom so verheißungsvollen GL-12. Haslanger führte den Fall GL-12 und andere Peinlichkeiten auf Colonel Fuchs' Hang zurück, eine Unmenge verschiedenster und großangelegter Projekte zu verfolgen, anstatt sich geduldig auf einige wenige ausgesuchte, aber erfolgversprechende Vorhaben zu konzentrieren. Fuchs warf seinerseits Haslanger vor, nicht die Erwartungen zu erfüllen, die Gruppe Sechs in ihn gesetzt hatte.

Trotz allem war Haslanger die beste Chance für Fuchs, irgendwann an die Generalstreifen zu gelangen, und er wußte das. Alle seine Hoffnungen stützten sich auf die durchaus nachgewiesene, und dennoch umstrittene Genialität des Alten. Ein halbes Jahrhundert lang hatte Haslanger frappierende Resultate geliefert. Doch seine Tätigkeit bei Gruppe Sechs hatte bisher nicht die eine, überzeugende Superwaffe hervorgebracht, die sich eignen könnte, die Effizienz der Organisation zu bestätigen und ihr Fortbestehen zu sichern. Der heutige Test war ein neuer Versuch in einer langen Reihe solcher Anstrengungen und die erste neue Bemühung seit dem vernichtenden Versagen in Reyvastat.

Haslanger sehnte sich zurück nach den einfacheren Zeiten kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Amerikaner ihn in ihre Dienste übernommen hatten. Früher hatte ihn nie jemand mit dummen Fragen belästigt. Man hatte ihm eine Aufgabe gestellt und sich um die Methoden, mit denen er sie löste, nicht geschert. Fehlschläge galten als unvermeidliche Etappen auf dem Weg zum letztendlichen Erfolg. Nie wurde ihm zugemutet, sich für irgend etwas rechtfertigen zu müssen.

Dafür mußte er jetzt bezahlen. Er büßte jedesmal, wenn er die Augen schloß und die Erinnerungen ihn heimsuchten, bevor es ihm gelang, den Schlaf zu verscheuchen. Gelegentlich holten vergangene Taten ihn fast ein, so wie es ihm noch vor zwei Jahren ergangen war, bis er begriffen hatte, daß Schlaf und Tod ein und dasselbe waren.

Haslanger hielt sich selbst für unschuldig an all dem, was er vor seiner Tätigkeit bei Gruppe Sechs verbrochen hatte, er kannte keine Gewissensbisse. Er war seiner Zeit voraus, sagte er sich immer wieder. In früheren Zeiten hatten Technologie und Technik schlichtweg noch nicht die Voraussetzungen zur vollkommenen Verwirklichung seiner visionären Vorstellungen geboten. Heutzutage waren sie vorhanden, aber es gab für ihn kein Zurück mehr, selbst wenn das Pentagon es Haslanger erlaubt hätte. Zu viele Schatten und Schemen lauerten in seiner Vergangenheit, grauenvolle Gefährten der Nacht, die ihn zu einem Leben im Wachzustand verurteilten.

Ab und zu fragte sich Haslanger, was aus seinen Schöpfungen geworden sein mochte. Doch seit er auf Schlaf verzichtete und die Kreaturen aus seinem Dasein verbannt hielt, fiel es ihm zusehends leichter, sie zu vergessen.

Am heutigen Nachmittag lag die Testzone auf einem großflächigen, freien Gelände zwischen dem Gruppe-Sechs-Hauptquartier und dem Begrenzungszaun des Brookhavenlaboratoriums. Künstlich angelegte Hügel und Mulden simulierten Gefechtsfeldbedingungen. Zwischen zwei Anhöhen waren drei Jeeps und ein Dutzend Rekruten positioniert worden. Die Soldaten waren Freiwillige aus einem nahen Armeestützpunkt, die daran Spaß hatten, an einem hochgeheimen Forschungsprojekt der Regierung mitzuwirken.

Sechshundert Meter von ihnen entfernt standen fünf Männer in Sommeruniformen neben einem M1A2-Kampfpanzer und hörten sich den Schluß von Colonel Fuchs' Gerede an, bei dem Haslanger wieder einmal die Haare zu Berge standen.

»Sieht völlig normal aus, nicht wahr, Gentlemen?« meinte Fuchs und wandte sich nach Beendigung seiner weitschweifigen Faseleien dem Panzer zu.

Die fünf Männer aus dem Pentagon folgten seinem Beispiel und hefteten den Blick auf den M1A2.

»Aber diesem Kampfpanzer ist ein von Gruppe Sechs konstruierter Laser in die Bugwanne installiert worden«, erklärte Fuchs. »Er gibt, je nach den Umständen, eine breit- oder enggestreute Reihe von Laseremissionen ab. Der gewünschte Effekt besteht, wie Ihnen bekannt ist, in der vorübergehenden Erblindung des Gegners. Diese Entwicklung entspricht unseren Bestrebungen, die moderne Kriegsführung immer weiter zu verbessern. Dabei ist unser Ziel nichts Geringeres, als für amerikanische Truppen hundertprozentige Nullverluste zu garantieren.«

Auf seinen Wink hin verteilte ein Techniker in weißem Laborkittel, der soeben dem Panzer entstiegen war, schwarzgefärbte Schutzbrillen an die Anwesenden.

»Würden Sie nun bitte mit mir hier rüber kommen und die Schutzbrillen aufsetzen?«

Die Männer aus dem Pentagon folgten dem Colonel und setzten die Schutzbrillen auf. Währenddessen tappte Haslanger an ihnen vorbei, schaute hinüber zum Panzer und nickte den beiden Technikern zu, die auf dem Fahrzeug kauerten. Sie stiegen hinein und schlossen die Luke. Haslanger hörte ein scharfes Sirren, das anzeigte, daß der Generator des Lasers eingeschaltet worden war. Er drehte sich um und blickte in Fuchs' Richtung.

»Feuer frei, sobald Sie fertig sind«, sagte der Colonel in das Funksprechgerät, durch das er Kontakt zu den Männern im Panzer hatte.

Fuchs hob den Feldstecher an die Schutzbrille und beobachtete, daß die in sechshundert Metern Abstand stehenden Soldaten die vorgesehenen Positionen einnahmen und der Befehlshabende das Funksprechgerät an den Gürtel zurückhängte. Bei einem solchen Experiment lebende, ungeschützte Menschen einzusetzen, wäre in Los Alamos oder Lawrence Livermore undenkbar gewesen – bei Gruppe Sechs dagegen war alles möglich, weil man von ihr alles erwartete.

Fuchs hielt das Fernglas fest in den Händen.

Wie aus einem großen Stroboskop schossen in rasanter Folge blendenhelle Lichtstrahlen aus dem Laser. Im ersten Moment schien alles glänzend zu gelingen, und Fuchs fühlte sich in Hochstimmung und dachte schon ans Feiern. Aber dann entfuhr ihm bei dem Anblick, der sich ihm durch das Fernglas bot, ein vernehmliches Keuchen.

Die Uniformen der Soldaten brannten lichterloh. Selbst über die Entfernung hinweg konnte Fuchs ihre Schreie hören, während sie zusammenbrachen und sich in Qualen auf der Erde wälzten. Diese Schlappe war mindestens so übel wie der Fall Reyvastat und zog voraussichtlich noch mehr negative Aufmerksamkeit auf Gruppe Sechs, weil sie sich hier ereignete, wo sich Geheimhaltung und Schadensbegrenzung viel schwieriger gestalteten. Als er daran dachte, wie der Kongreß reagieren mochte, brachen seine Enttäuschung und Wut sich endlich Bahn. Sein Blick fiel auf Haslanger, der wahrhaftig wirkte, als ob er schmunzelte.

»Was haben Sie denn jetzt wieder für einen Murks gemacht?« brüllte Fuchs und packte den Greis am Arm.

Haslanger stand mit aufgerissenen Augen da, als empfände er höchste Ehrfurcht, und konnte den Blick, während er antwortete, nicht von den Flammen wenden.

»Nicht ganz so, wie wir es geplant haben, aber genauso effektiv, würde ich sagen. Mit ein paar Verbesserungen …«

»Verflucht noch mal!« wetterte Fuchs.

»Wundervoll«, raunte Haslanger und konnte die zufällige, erstaunliche Entdeckung dieses Todesstrahls noch nicht so recht fassen. »Einfach wunderbar.«