Kapitel
9

Wie gewohnt wartete Hank Belgrade auf den Stufen des Lincoln-Denkmals, als McCracken eintraf. Belgrade war ein großer, fleischiger Mann und zählte zu den wenigen Auserwählten in Washington, die Einkommen bezogen, ohne auf einem offiziellen Posten zu sitzen. Er stand auf der Gehaltsliste des Innen- und ebenso des Außenministeriums, arbeitete jedoch für keines von beiden; statt dessen betätigte er sich als ihr Mittelsmann und erledigte für beide Institutionen die Schmutzarbeit. Belgrade hatte Zugang zu Daten und Informationen, von denen selbst in Washington kaum jemand etwas ahnte.

Während des Kalten Krieges hatte Blaine einmal Belgrades Karriere gerettet; er hatte einen sowjetischen Überläufer sicher in die USA befördert, nachdem wegen einer undichten Stelle im Geheimdienst sämtliche Sicherheitsvorkehrungen zusammengebrochen waren. Aus Dankbarkeit war Belgrade heute immer für McCracken da, wenn er Informationen brauchte. Dann verabredeten sie sich auf der Treppe des Lincoln-Denkmals, und jedesmal war Belgrades Miene mißmutig, denn er freute sich nie, Blaine zu sehen. Hank hockte auf einer Stufe und hatte einen dicken Pappschnellhefter unters Knie geschoben.

Belgrade blieb stumm, während er Blaine entgegenblickte.

»Wenn Sie nichts dagegen haben, setze ich mich«, sagte McCracken zur Begrüßung.

»Wenn's sein muß …«

»Schlecht gelaunt heute, wie?«

»Erst seit Ihrem Anruf. Sie haben wirklich den Bogen raus, wie man voll in die Scheiße tritt, McBeknackt, wissen Sie das?«

»Vielen Dank.«

»Keine Ursache. Es ist nämlich so, daß Sie mit Ihrem geradezu unglaublichen und unheimlichen Talent mal wieder zielsicher ins Klo gegriffen haben. Wie schaffen Sie das bloß?«

»Mir läuft das Unglück eben nach, Hank.«

»Mir wär's lieber, Sie würden aufhören, mir nachzulaufen. Wann sind wir endlich quitt?«

»Wann Sie wollen. Sofort, wenn Sie darauf bestehen. Von mir aus verziehen Sie sich. Nehmen Sie die Akte ruhig mit.«

»Lecken Sie mich am Arsch.«

»An so historischer Stätte?«

»Es ist das letzte Mal, McBeknackt. Jetzt reicht es.«

»Klar.«

»Das hier ist die bislang größte Scheiße überhaupt. Absolut oberste Güte.« Belgrade legte die Stirn in Falten und senkte die Stimme. »Ihrem Kameraden Harry Lime sind rund zehn Jährchen aus dem Leben gestrichen worden. Ihm und vielleicht einem Dutzend weiterer Kerle, die ins gleiche Profil passen.«

»Welches Profil?«

»Ausgerastet genug, um sie an der Kandare halten zu müssen, aber nicht so kaputt, daß sie als unzuverlässig gelten. Ich bin auf keine konkreten Zahlen oder Daten gestoßen und kann mich nur auf Hörensagen, Andeutungen und ein paar Querverweise stützen, bei denen man allerdings 'ne Gänsehaut kriegt. Angefangen hat alles mit einer Einrichtung, die man ›Die Fabrik‹ nannte. Je was davon mitbekommen?«

»Nein.«

»Wir reden von einer ganz üblen Geschichte, soviel kann ich Ihnen sagen. Die Fabrik hat sich schon vor zwanzig Jahren mit Scheiße beschäftigt. Sie haben dort Scheiße getrieben, die wir uns heute gar nicht mehr vorstellen können. Irgendwelche Bedenken wegen der möglichen Folgen oder gar moralische Skrupel gab es nicht. Irgendwelche Arten kreuzen, um zu sehen, was sich ergibt? Warum nicht? Ein paar Geisteskranke verstrahlen? Wen schert's schon, wenn wir dadurch eine bessere Vorstellung von dem bekommen, was Fallout heißt? Soldaten tödlichem Gift aussetzen? Gute Idee, wenn's uns irgendwann mal hilft, in der chemischen und biologischen Kriegsführung die Oberhand zu behalten.

Der Kalte Krieg war auf dem Höhepunkt, und die Macher in der Fabrik arbeiteten auf Hochtouren. Zumindest bis Ende der siebziger Jahre, da hat Jimmy Carter per Unterschrift einen Schlußstrich gezogen. Reagan hat sie noch für eine Weile weiterwursteln lassen, aber nach dem ersten Jahr seiner Amtszeit war dann endgültig Feierabend. Zum Leidwesen einer Menge Leute, würde ich wetten; denn inzwischen hatten sich die Eierköpfe dort nämlich auf etwas Tolles, Neues verlegt, auf die Gentechnik.«

»Oh oh …!«

»Jawohl, McBeknackt, Sie haben richtig gehört. Alle Forschungsberichte und Akten über das, was eigentlich genau dort angestellt worden ist, sind restlos vernichtet worden. Wir dürfen aber ohne weiteres davon ausgehen, daß man mit der DNS gearbeitet hat wie sonst in der Küche mit dem Gewürzregal. Das letzte verzeichnete Projekt fand neunzehnhundertneunundsiebzig statt, und es ist die Geschichte, in der Harry und die anderen, über die in dieser Akte einiges steht, dringesteckt haben.«

Belgrade schwieg lange genug, um Blaine den Schnellhefter unauffällig zuzuschieben. »Operation Offspring«, sagte er. »Alles, was ich darüber kriegen konnte, steht da drin, und das ist nicht viel. Beurteilungen über Harry Lime und die anderen. Begründungen, weshalb man sie als die besten Kandidaten eingeschätzt hat.«

»Kandidaten wofür?«

»Das ist die Frage, bei der ich nur Nieten gezogen habe, McBeknackt. Da muß ich passen.«

Operation Offspring, dachte Blaine.

»Neunzehnhundertneunundsiebzig war das, Hank?«

»Oder neunzehnhundertachtzig. So ungefähr um die Zeit.«

McCracken dachte an das Foto, das er in Harvard gefunden hatte; das Bild, auf dem Harry den Arm um einen Jungen legte, der heute fünfzehn Jahre alt war.

Operation Offspring …

»Sie halten mich in dieser Sache auf dem laufenden, ja, McBeknackt?«

»Das ist das erste Mal, Hank, daß Sie darauf Wert legen.«

»Weil die Sache so enorm stinkt.«

»So ist es immer, wenn unschuldige Menschen umgebracht werden.«

»Harry Lime war vielleicht kein Unschuldiger. Möglicherweise hat er sich freiwillig gemeldet.« Belgrade starrte in den Himmel.

»Er und die anderen wurden dafür ausgewählt, Freiwillige zu sein, Hank. Um mir darüber im klaren zu sein, brauche ich nicht erst diese Unterlagen durchzuackern.«

»Um so wichtiger ist es, mich fortlaufend zu informieren. Eines habe ich gelernt, was Institutionen wie die Fabrik betrifft. Werden sie ausgeknipst, sind sie nicht für immer dahin, sie bleiben bloß für einige Zeit im Winterschlaf, bis sie eines Tages unter neuem Namen wiedergeboren werden. Diese verdammte Stadt ist wie eine riesige Drehtür.«

»Nur gut für uns«, meinte Blaine zu Belgrade, »daß sie sich in beide Richtungen dreht.«

»Ich habe das unterste nach oben gekehrt, was Operation Offspring angeht, Boß«, erklärte Sal Belamo mehrere Stunden später am Telefon, »aber überall nur ins Leere gegriffen. Nichts. Nada. Du verstehst, was ich meine. Aber bei den Namen, die der dicke Hank freundlicherweise herausgerückt hat, hatte ich mehr Erfolg.«

Seit er mit McCracken zusammenarbeitete, hatte Belamo sich als tüchtiger und vertrauenswürdiger Nachrichtenlieferant erwiesen. Irgendeine offizielle Position konnte er aufgrund dessen nicht mehr einnehmen. Aber dank seiner Vergangenheit hatte er ein weitverzweigtes Netz von Kontaktleuten, die ihm entweder Gefälligkeiten schuldeten oder umgekehrt ihn wiederum zu Gefälligkeiten verpflichten wollten. Darum gab es bei der Regierung kaum Informationen, die er nicht auftreiben konnte, selbst wenn sie in vielen Fällen als geheim oder sogar streng geheim galten. Und wenn er sie nicht selbst beschaffen konnte, kannte er jemanden, der sie zu besorgen verstand.

»Eine Spur?« fragte Blaine.

»Mehrere. Zunächst mal ist bemerkenswert, daß keiner von denen noch als aktiv geführt wird. Du sagst, Harry Lime fliegt von Süd-Florida aus für die Air America, aber in den Datenbanken des Militärs steht er bei den Ausgeschiedenen, wird nur als Ehemaliger geführt. Mit den anderen ist es genauso. In den Akten ist einfach Schluß, ab einem gewissen Zeitpunkt ist nichts mehr dazugekommen.«

»Seit wann?«

»Neunzehnhunderteinundachtzig.«

»Also etwa um die Zeit, als Feierabend war für die Fabrik.«

»Damit war die Tür zu. Aber du weißt, wie ich bin, wenn die Vordertür zu ist, nehme ich die Hintertür. Und ist die auch zu, versuche ich's bei einem Fenster. Dieses Mal mußte ich erst einen Riß in der Wand finden. Ich habe mich ganz dünn machen müssen, ehe ich mich hindurchzwängen konnte.«

»Und was gab es da zu sehen?«

»Fette Beute. Ich habe die Namen, die dir Hank genannt hat, auf gemeinsame Bekannte überprüft. Und sieh an, es war nur ein Name auffindbar, eine Frau namens Gloria Wilkins-Tate.

Weißt du, Harry Lime und die anderen waren alle als Söldner fürs Militär aktiv, die Sorte Anhängsel, die sich nicht einfach an den Veteranenverband wenden kann, wenn ein Problem auftaucht, oder mit fünfundsechzig Jahren ihre Rente beantragen darf. Und alle, die auf der Liste stehen, hatten psychische Probleme. Gloria Wilkins-Tate war ihre Betreuerin. Witzig daran ist, daß sie ungefähr so gut geeignet ist, irgendwelchen Spinnern zu helfen, wie ich dazu, Kindern gute Manieren einzutrichtern. Mrs. Wilkins-Tate ist selbst ein extremer Fall. Ihre Karriere geht zurück bis zur OSS, als an Langley noch keiner gedacht hat. Sie war die einzige Frau im ursprünglichen Kader. Gerüchten zufolge soll sie eine Affäre mit dem wilden Bill Donovan höchstpersönlich gehabt haben. Ihre eigentliche Spezialität war aber das Anwerben von Nazi-Wissenschaftlern und deren Integration in unsere Institutionen. Sie hat sogar eigens eine Einrichtung für sie geschaffen.«

»Sag nichts, laß mich raten … Die Fabrik.«

»Gloria Rendine gehörte zu den Gründern.«

»Ich dachte, sie heißt Wilkins-Tate.«

»So hieß sie auch, bis sie sich vor rund fünfzehn Jahren aus diesen Sachen zurückgezogen und eine völlig neue Laufbahn in der Raritätenabteilung der New Yorker Stadt-Bibliothek angefangen hat. An deiner Stelle würde ich nicht anrufen, bevor du hingehst.«