Kapitel
41

Das Magic Kingdom reagierte augenblicklich auf den Unfall. Einer der verkleideten Mitarbeiter, der an den Kontrollen der Achterbahn tätig war, drückte gleich den verborgenen Notfallknopf und löste den Alarm aus, der nur in der Sicherheitszentrale gehört werden konnte: ein Summton, der von einem über den Monitoren aufblitzenden Rotlicht begleitet wurde.

Turk sah sofort von der Arbeit auf. »Was, zum Teufel …«

Er schaltete den betreffenden Bildschirm auf Großformat. »Thunder Mountain Railroad, Sir«, meldete einer seiner Mitarbeiter. »Sieht nach einem Sturz aus.«

»Sofort Sanitäter hinschicken«, befahl Wills und wandte sich schon an einen anderen Sicherheitsmann: »Verständigen Sie das County-Krankenhaus, daß gleich ein Notfall eingeliefert wird. Vermutlich schwerverletzt. Sie sollen besser einen Rettungshubschrauber hierher schicken, nur für den Fall, daß es kritisch wird.«

Noch während Turk sprach, schoß schon ein Sanitätsfahrzeug aus einer getarnten Garage und bewegte sich mit Sirene und Blaulicht zur Big Thunder Mountain Railroad. Der Wagen kam in der Menge jedoch nur schlecht voran.

Zur selben Zeit rannten weitere Sanitäter zu Fuß durch die unterirdischen Gänge zur Unfallstelle.

Inzwischen hatte Wills sechs verschiedene Ausschnittsvergrößerungen von der Unfallstelle auf seinen Monitoren.

»Ich komme selbst«, verkündete der Sicherheitschef schließlich seinen Mitarbeitern. Auf halbem Weg zur Treppe hielt er inne und drehte sich zu dem Colonel um: »Tut mir leid wegen dieser dummen, kleinen Störung, Sir.«

Doch Fuchs hörte ihm gar nicht zu, sondern starrte aufgeregt auf einen der Bildschirme und ließ einen bestimmten Ausschnitt noch weiter vergrößern.

Andy stöhnte auf, als Josh ihm eine Hand auf die Schulter legte.

»Mein Bein!« jammerte er immerzu. »Mein Bein!«

Josh betrachtete Andys rechtes Bein, das in einem seltsamen Winkel nach innen gebogen war. Blut strömte stoßweise aus der Oberschenkelarterie. Wenn Andy nicht schnellstmöglichst versorgt würde, würde er in einer Minute verbluten.

Josh rief in seinem Gehirn das Wissen ab, das er während seines zweijährigen Medizinstudiums erworben hatte, und handelte ganz instinktiv. Jede Sekunde war kostbar, und so löste er den Gürtel von seiner Jeans, wickelte ihn oberhalb der Wunde um Andys Oberschenkel, zog ihn stramm und verknotete die Enden.

Die ganze Zeit über stöhnte und wimmerte der Junge.

»Damit stoppen wir die Blutung«, erklärte Josh ihm.

Andys T-Shirt war vom Sturz zerfetzt, und Josh riß einen Streifen heraus, den er zusammenballte. Dann fühlte er mit der Hand vorsichtig über die Wunde und entdeckte oberhalb des Knies die Stelle, aus der das Blut zwar deutlich schwächer, aber immer noch regelmäßig floß. Er drückte den Stoffballen darauf und preßte, so fest er konnte.

Josh hörte, wie sich jemand näherte, und dann eine fremde Stimme: »Vorsicht! Gehen Sie bitte beiseite! Machen Sie doch Platz.«

Er drehte sich um und sah zwei Sanitäter, die außer Atem auf ihn zukamen.

»Sublaterale Verletzung der Oberschenkelarterie«, meldete er den beiden, als sie ihn erreichten. »Ich habe das Bein achtzehn Zentimeter über den Knie abgebunden.«

»Himmel!« murmelte einer der Sanitäter.

»Wir übernehmen den Jungen jetzt«, sagte der andere.

Er kniete sich neben Andy hin und ersetzte Joshs Hand an dem Stoffballen durch seine. Josh stand auf und zog sich zurück. Erst jetzt fiel ihm auf, das Blut auf sein T-Shirt gespritzt war und von seiner Rechten tropfte.

Fuchs, der aufgesprungen war und vor der Monitorwand stand, keuchte. Joshua Wolfe war deutlich auf einem der Bildschirme zu erkennen. Im ersten Moment glaubte der Colonel, der Junge habe sich verletzt, aber dann wischte er sich die Rechte am rotbefleckten T-Shirt ab, sah sich nervös um und lief davon.

Fuchs ließ ihn nicht aus dem Blick und sprach in das Mikrofon seines Kopfhörers.

»Ziel lokalisiert! Thunder Mountain Railroad, am Nordwestende des Parks, im Frontierland. Der Junge trägt ein blaues T-Shirt und eine Baseballkappe.«

Der Colonel erkannte sofort, daß die Stelle perfekt war. Der künstliche Fluß, der Tom Sawyer's Island vom Rest des Parks trennte, hinderte den Jungen daran, nach Norden oder Osten zu fliehen. Im Westen erhob sich die Begrenzungsmauer des Parks, und so konnte Wolfe nur nach Süden in Richtung Frontierland laufen.

»Bilden Sie eine Kette vom südwestlichen Ausläufer des Flusses bis zum Splash Mountain. Einige Männer sollen auf die Dächer der Gebäude im Frontierland. Aber Vorsicht. Es besteht kein Grund zu überstürzten Maßnahmen.« Fuchs atmete tief durch. »Meine Herren, wir haben ihn … endlich.«

»Ein Unfall«, sagte Susan leise, als der Rettungswagen an Cinderella's Castle auftauchte.

McCracken machte sich jedoch viel mehr Sorgen um die Männer in unauffälligen Straßenanzügen, die plötzlich aus allen Ecken kamen, sich kleine Funkgeräte ans Ohr hielten und auf die Stelle zuliefen, an der sich eine immer größer werdende Menschenmenge versammelte.

Blaine erkannte genug von ihnen wieder, um zu wissen, daß die Armee des Colonels zum Frontierland unterwegs war.

Er stellte sich hinter Susans Rollstuhl, schob ihn an und rief über sein Mikrofon den Indianer.

»Ich bin hier, Blainey«, meldete sich Wareagle aus einem Lagerraum in den unterirdischen Gängen, in dem er sich bereits seit einigen Minuten aufhielt.

»Sal?«

»Allzeit bereit, Boß.«

»Es geht los, Jungs. Wir treffen uns am Eingang vom Frontierland. Und das ein bißchen plötzlich!« Schon drehte er den Rollstuhl nach rechts.

»He, warten Sie mal!« rief Susan und drehte sich zu ihm um. »Das ist die falsche Richtung. Sie schieben mich in die falsche Richtung.«

»Das kommt ganz auf den Blickwinkel an«, entgegnete er und brachte sie zu einem Geländer, von dem aus sie Cinderella's Castle und die Parade sehen konnte. »Gleich geht es da hinten nämlich rund. Und Sie wollen doch wohl nicht mittendrin stecken, wenn wir mit unserer Arbeit beginnen, oder?«

»Aber der Junge!« rief sie ihm hinterher und stieg zur Verwunderung der Umstehenden aus ihrem Rollstuhl.

»Um den kümmere ich mich schon!« antwortete er, ohne sich umzudrehen.

Joshua Wolfe verschwand in der Menge, die sich rings um den Unfall gebildet hatte. Erst auf der Hauptstraße vom Frontierland, wo es an Holzhäusern aus dem Wilden Westen vorbeiging, kam er etwas schneller voran. Aus einem Saloon, der den Namen Mile Ling Bar trug, erklang klimpernde Klaviermusik.

Josh erkannte, daß der Menschenstrom gegen ihn floß, also würde er über kurz oder lang den Beobachtern auffallen. Doch was sollte er tun? Wenn er sich treiben ließ, gelangte er wieder zur Achterbahn zurück und würde dort eine ganze Weile nicht vom Fleck kommen.

Er lief ein Stück weit mit den Massen, bis er an eine Passage gelangte, die aus Frontierland hinausführte.

Aber dieser Weg war versperrt, und Josh entdeckte die Männer, die dort auffällig unauffällig eine Absperrung bildeten …

Josh tauchte wieder in der Menge unter und ließ sich weiter durch das Westernstädtchen treiben. Aber auch hier waren Fuchs' Männer. Ihre Kette war nicht so dicht geschlossen, aber sie hielten eindeutig nach ihm Ausschau.

Josh begriff, daß man ihn kurz nach dem Unfall auf einem der Sicherheitsmonitore entdeckt haben mußte. Ihm blieb nur ein Ausweg. Er mußte in eines der Gebäude, am besten in ein Restaurant, wo er vermutlich auf eine Hintertür stoßen würde, vielleicht hatten die Männer ihren Absperring noch nicht geschlossen – dann konnte er dort durchschlüpfen.

Josh verlangsamte seinen Schritt, entschlossen, sich in das erstbeste Haus zu schleichen.

Fuchs' Augen flogen über die Bildschirme und folgten den Bewegungen seiner Männer durch Frontierland. Plötzlich tauchte ein bekanntes Gesicht auf einem der Monitore auf.

»Gehen Sie noch mal zurück!« befahl er dem Techniker an der Konsole.

»Auf welchem Schirm?«

»Na, auf dem hier!« fuhr der Colonel ihn an. »Langsam, ja, fahren Sie die Kamera ganz langsam … Da! Halten Sie genau da!«

Er hätte McCracken mit dem Bauch und dem Strohhut nie erkannt, wenn nicht der Indianer an seiner Seite gewesen wäre.

»Achtung! Äußerste Vorsicht! McCracken und der Indianer haben soeben das Frontierland betreten«, warnte er seine Männer.

Blaine und Johnny trafen am Eingang auf Sal Belamo.

»Hier ist einiges los, Boß«, verkündete Sal mit einem Blick auf die Flachdächer und Balkone entlang der Straße.

»Scharfschützen?«

»Wohl eher Beobachter. Wenn jemand den Jungen entdeckt, dann sie.«

»Wirst du mit denen unten allein fertig?«

»Das fragst du noch, Boß?«

McCracken und der Indianer stürmten in eines der Häuser und rannten die Treppe zum ersten Stock hinauf. Die frühere Inspektion der Anlage hatte Blaine gezeigt, daß man von hier auf den Balkon und aufs Dach gelangen konnte. Die Stunt-Cowboys benutzten diesen Aufgang, um die Besucher mit ihren gespielten Prügeleien und Ballereien zu erfreuen. Blaine entdeckte die Tür zu dem Balkon, der fast über die gesamte Straßenlänge verlief, während Wareagle höherstieg.

Ein Mann stand oben, behielt die Straße im Auge und sprach in ein kleines Mikrofon. Er drehte sich um, sah Johnny und wollte zur Waffe greifen. Wareagle sprang auf den Mann zu und schleuderte ihn vom Dach, ehe der von seinem Schießeisen Gebrauch machen konnte.

Der Schütze landete zur Begeisterung der Zuschauer auf dem Boden. Alle glaubten, diese kurze Darbietung sollte für die nächste Stunt-Show werben.

Der Sturz hatte auch die Aufmerksamkeit zweier weiterer Männer auf dem Dach erregt, beide mit Ferngläsern ausgerüstet. Sie kamen jedoch nicht dazu, davon Gebrauch zu machen. Der Indianer war schon über ihnen, packte mit je einer Hand ihre Köpfe und ließ sie gegeneinander krachen.

McCracken entledigte sich vor der Tür schnell seiner lästigen Verkleidung und stürmte dann auf den Balkon. Wie erwartet richteten die hier postierten sechs Männer gerade ihre Waffen nach oben, um auf den Indianer anzulegen. Blaine blieb genug Zeit, seine SIG-Sauer zu entsichern und loszulegen.

Er feuerte unablässig, und als das Magazin leer war, schob er sofort ein neues ein. Die Patronenhülsen flogen durch die Luft, und die Zuschauer unten fingen sie dankbar auf, um sie als Souvenir mit nach Hause zu nehmen.

Während die ersten in der Menge sich zu wundern begannen, warum die ›Darsteller‹ keine Cowboykleidung trugen, richtete Belamo seine 44er Magnum auf eine Gruppe Schützen am Boden, die gerade auf McCracken anlegten.

Sal wollte keine Unschuldigen verletzen, aber die Gegner machten ihm die Sache leicht, weil sie sich mit Ellenbogen und Stößen eine Gasse in der Menge geschaffen hatten, um möglichst rasch voranzukommen.

Belamo hielt den Speedloader zwischen den Zähnen, drückte ab und zog mit der Linken seine kleinere Pistole aus dem Hosenbund. Er setzte sie jedoch erst ein, als die Magnum leer war, und auch das nur, bis er die größere Waffe nachgeladen hatte.

Während oben Johnny vom Dach auf den Balkon sprang, um McCracken zu helfen, eröffnete Sal schon das Feuer auf die nächste Schützengruppe, die heranstürmte.

Der Indianer hielt jetzt ebenfalls eine Waffe in der Hand, eine Desert Eagle Semiautomatic, das von ihm bevorzugte Schnellfeuergewehr. Er schloß sich Blaine an, und gemeinsam gingen die beiden gegen die Männer vor, die jetzt ihr Heil lieber in der Flucht suchten.

»Der Junge, Johnny«, befahl McCracken, während er nachlud. »Geh lieber Joshua suchen!«

Josh erkannte gleich in dem Moment, als die ersten Kugeln flogen, was hier vor sich ging. Er hob den Kopf und sah einen bärtigen Mann, der den Balkon entlanglief. Der Junge hatte gerade auch den Indianer entdeckt, als hinter ihm geschossen wurde. Er fuhr herum und sah Sal Belamo, der aus einer großen Pistole feuerte.

Blaine und seine Freunde waren erneut erschienen, um ihm zu helfen, aber Josh hatte nicht vor, hier herumzustehen und auf seine Rettung zu warten. Er nutzte das allgemeine Chaos, das das Gefecht in den Reihen von Fuchs' Truppe ausgelöst hatte, und rannte in Richtung Splash Mountain. Dort angekommen, verschwand er im Adventureland.

Der Colonel war außer sich vor Zorn, während er auf die Bildschirme starrte, die in Großaufnahme zeigten, wie McCracken und der Indianer vom Balkon aus nach unten schossen. Ein dritter Mann unterstützte sie und sprang jetzt hinter eine Imbißbude, um nicht von den eigenen Leuten getroffen zu werden.

»Nein!« murmelte Fuchs.

Weitere fünf oder sechs seiner Schützen waren gerade niedergestreckt worden, als die Stimme von Turk Wills aus dem Lautsprecher dröhnte: »Was geht da vor, um Himmels willen?«

»Damit haben Sie nichts am Hut, Chief!«

»Und ob ich das habe! Ich kümmere mich hier um einen Unfall, und im nächsten Moment meldet man mir, daß im Frontierland eine wilde Ballerei im Gange ist, bei der Menschen richtig erschossen werden!«

»Ich habe die Lage vollkommen unter Kontrolle.«

»Ziehen Sie Ihre Leute zurück, Mister, bevor noch ein Unschuldiger getroffen wird.«

»Soll das vielleicht ein Befehl sein?«

»Da haben Sie ausnahmsweise einmal richtig verstanden.«

»Tut mir leid, aber die Befehle gebe ich hier«, entgegnete Fuchs und unterbrach die Verbindung.

Blaine und Johnny sprangen vom Balkon und liefen zu Belamo.

»Der Junge ist da runtergelaufen«, teilte Sal ihnen mit, während er seine Waffe mit einem neuen Magazin bestückte.

Die drei rannten Richtung Adventureland, liefen einen mit Souvenirshops gesäumten Gang entlang und stürmten durch den Eingang. In fünfzig Meter Entfernung machten sie eine Gestalt aus, die gerade in einer Attraktion verschwand. Ohne innezuhalten, liefen sie zu ›Pirates of the Caribbean‹.

Sie kamen hier gut voran, weil in wenigen Minuten die Parade beginnen würde und die meisten Besucher zur Main Street U.S.A. strömten. Nur am Splash Mountain und am Space Mountain herrschte noch Hochbetrieb.

Sie gelangten über eine Rampe zu den Wasserwagen, in denen jeweils sieben Personen Platz hatten. Die drei Männer sprangen jeder für sich in einen Wagen und sahen, daß außer ihren noch zwei weitere besetzt waren.

Blaine konnte erkennen, daß der Junge in dem Wagen direkt vor ihnen nicht Joshua war, und der andere bog gerade um eine Kurve.

McCracken rief sich die Anlage der ›Pirates of the Caribbean‹ ins Gedächtnis zurück. Die Wagen bewegten sich auf Gleisen über einem Wasserkanal, der auf der einen Seite ungefähr anderthalb Meter tief war, ausreichend, um so etwas wie Strömung oder Seegang zu erzeugen. Auf der anderen Seite betrug die Wassertiefe nur dreißig Zentimeter.

Blaine betrachtete die höhlenartigen Tunnel, durch die sie fuhren. Falsche Stalaktiten hingen von der Decke, und an einigen Stellen sammelte sich künstlich erzeugter Nebel. Sie passierten ein Schiffswrack, auf dem ein Skelett hinter dem Steuerrad stand.

»Achtung!« rief jemand aus einem Lautsprecher, und schon ging es steil nach unten. Sie schaukelten auf dem Wasser, ehe sie sich einer Seeschlacht näherten. Ein Kriegsschiff kreuzte vor einem Fort, und beide Seiten beschossen sich aus Kanonen, die Mündungsfeuer und Wasserfontänen täuschend echt nachgeahmt.

»Da ist er, Blainey!« rief Johnny und deutete auf den zweiten Wagen vor ihnen, der gerade mitten durch die Schlacht fuhr.

Aber McCracken spähte bereits auf die Zinnen des Forts.

»Fuchs' Arschlöcher!« bemerkte Sal, der ebenfalls auf den Wehrgängen Bewegungen ausgemacht hatte, die im Programm nicht vorgesehen waren. Er zog sofort seine Pistole. »Zum Teufel, wie konnten die vor uns hier sein?«

»Der Colonel hat sich die Mitarbeit von Disney World gesichert. Seine Leute dürfen unterirdische Tunnel benutzen, die wir nicht einmal kennen.«

Das Fort war ziemlich groß und nahm die ganze Seite einer künstlichen Bucht ein. Auch wenn die Festung nicht echt war, so bot sie doch den Schützen ausreichend Deckung.

Das Kriegsschiff Davy Jones feuerte Salve um Salve auf die Befestigung ab. Ein robotischer Kapitän stand oben auf der Brücke und gab in regelmäßigen Abständen den Befehl zu schießen.

Joshuas Wagen rollte direkt an den Schützen vorbei, die hinter den Zinnen in Stellung gegangen waren.

»Knallt sie ab«, drängte Blaine seine Freunde.

»Feuer!« rief wie zur Bestätigung der Kapitän der Davy Jones.

Die Schüsse des Trios gingen im Kanonendonner unter.

»Gib mir Deckung, Blainey!« rief Wareagle, sprang nach links in das seichte Wasser und lief geduckt auf das Schiff zu.

Als die Schützen sich von ihrem Schrecken erholt hatten und auf die Männer unten anlegten, waren die längst alle von Bord gegangen. Belamo und McCracken waren auf die andere Seite gelangt und stellten fest, daß das Schiff nur eine Fassade war, die man lediglich an der den Besuchern zugewandten Seite fertiggebaut hatte. Das Vorderdeck und die Kanonenstände wirkten dennoch täuschend echt. Blaine stieg zur Brücke hinauf, während Johnny und Sal an den Geschützen in Position gingen.

Die Schießerei zwischen beiden Gruppen ging völlig in der elektronischen Kanonade unter – nur flogen nach ihren Treffern Holzsplitter vom Schiff und Betonstückchen vom Festungswall.

Die wenigen Besucher dieser Attraktion bekamen davon kaum etwas mit, und wenn doch, hielten sie das wohl für einen Bestandteil der Show.

Belamo tauchte plötzlich oben neben Blaine auf. »Ich dachte, wäre höchste Zeit, diese Dinger hier einzusetzen«, meinte er und reichte McCracken ein gefülltes 9-mm-Magazin, das in einer Plastiktüte eingewickelt war.

»Splats?«

»Du hast den Nagel auf den Kopf getroffen, Boß.« Sal zwinkerte ihm zu.

Belamo ließ diese Spezialgeschosse von einem Freund anfertigen. In jeder Kugel befand sich eine Kammer, die mit gemahlenem Glas und Pikrinsäure gefüllt war. Sobald sie abgeschossen wurde, zerplatzte die Kammer, und die Säure vermischte sich mit dem Blei. Diese Mixtur verlieh einer normalen Kugel die Aufschlagwucht einer 40-mm-Granate. Das Glas diente nur zur Stabilisierung der Kammer.

»Gib mir eine Minute, damit ich mich hinter sie schleichen kann«, sagte Sal.

»Bis dahin werden sie Verstärkung bekommen haben.«

»Um so besser!« grinste Belamo.

Für Joshua wurde es zu einer Fahrt des Schreckens. Die Schützen im Fort waren ihm schon vor Beginn der Schlacht aufgefallen. Als dann die Kugeln flogen, duckte er sich und blickte nicht zurück, denn er wußte, daß es McCracken war, der das Feuer erwiderte. Er kauerte sich auf den Boden des Wagens und konnte bald nicht mehr unterscheiden, welcher Knall von den falschen Geschützen und welcher von den echten Waffen stammte.

Josh tastete nach den beiden Fläschchen in seinen Hosentaschen.

Er fragte sich, was geschehen würde, wenn er sie gleich hier mischte, um sie dann hochzuhalten, damit der Colonel sie sehen konnte – von wo auch immer er ihn gerade beobachten mochte.

Könnte das seine Fahrkarte in die Freiheit sein? Nein, aller Wahrscheinlichkeit nach nicht. Fuchs würde ihn erschießen lassen, um dann zu fliehen.

Die Wagen bewegten sich weiter durch das Wasser und fuhren nun an einer Stadt vorbei, die von Piraten belagert wurde. Jede der Puppen konnte ein Schütze des Colonels sein …

Der Mann, der aus einem Brunnen kletterte …

Der Gefangene in der Zelle, der einen Hund dazu bringen wollte, ihm die Schlüssel zu besorgen …

Der Händler, der betrunkenen Seeleuten grell geschminkte Frauen zum Kauf anbot …

Auch hier wurde mit Lichteffekten und Geräuschen vom Band eine perfekte Illusion erzeugt. Der Zug rollte näher und unter einer Brücke hindurch, über deren Geländer gerade eine grimmige Gestalt stieg …

Josh ging sofort wieder in Deckung, weil er sich sicher war, jeden Moment erschossen zu werden.

Dann hatte der Wagen die Brücke hinter sich gebracht, und der Junge wagte kaum zu atmen.

Nun ging es auf ein brennendes Gebäude zu, bei dem mehrere Fenster offenstanden. Ragte da nicht ein Waffenlauf heraus? Und dort …

Josh schloß fest die Augen.

»He!« rief jemand.

Zögernd hob er die Lider. Ein Mann hielt den Wagen an einer Anlegestelle fest.

»Wollen Sie nicht aussteigen, junger Freund?«

Josh sprang aus dem Wagen und rannte die Rampe hinauf.

McCracken wartete eine volle Minute, bevor er die Splats auf die Festung verfeuerte. Sie rissen tiefe und breite Löcher in die Fassade und ließen sie als Trümmerhaufen zurück. Betonbrocken landeten im See und warfen noch größere Wasserfontänen auf als die falschen Kanonenkugeln.

Blaine bedachte das Fort mit sechs dieser Geschosse und zielte auf die Stellen, von denen die größten gegnerischen Feuerkonzentrationen gekommen waren.

Als er den Finger vom Abzug nahm, war von den Wachtürmen, dem Wall und den Zinnen so gut wie nichts mehr übrig.

Das Holzgerüst hinter der Fassade ächzte und brach dann ebenfalls zusammen, bis nur noch ein Schuttberg am Wasserrand stand.

Kein Schuß drang mehr aus der Festung, weder echter noch solcher vom Band. Dennoch hörte der Kapitän auf der Davy Jones nicht auf, seinen Kanonieren regelmäßig den Feuerbefehl zu geben.

»Boß«, meldete sich Belamo über Funk.

»Sind alle erledigt, Sal?«

»Du kommst besser her und siehst dir das selbst an.«

»Sind sie nun plattgemacht oder nicht?«

»Ich sag' doch, komm besser her.«

»Gute Arbeit«, lobte McCracken, als er sich das Werk seines Freundes besah.

Der Eingang hinter dem Fort, der zu dem System der unterirdischen Gänge führte, war mit Leichen übersät. Blaine zählte mindestens zehn Männer. Die Verstärkung, die nicht mehr zum Einsatz gekommen war.

Aber Sal lachte nicht. »Danke für die Blumen, Boß, aber die waren schon tot, als ich hier angekommen bin.«

McCracken sah seine beiden Freunde an. »Aber wenn du es nicht gewesen bist, wer dann?«