Kapitel
15

»Haslanger war also ein Wunderkind«, faßte Gloria Rendine zusammen.

»Tüchtigstes und intelligentestes Mitglied der gesamten Hitler-Jugend …«

»Er entstammt einer Gruppe von Hochbegabten, die man damals durch Tests, die an jedem Kind im Reich vorgenommen wurden, zusammengestellt und dann besonderen Schulen und Einrichtungen zugeführt hatte. In den ersten Kriegsjahren war Haslanger erst Mitte Zwanzig, hatte aber schon einen Doktortitel und durfte an den zentralen Nazi-Forschungslaboratorien in Düsseldorf tätig sein, der Schaltstelle aller fortgeschrittenen wissenschaftlichen Forschungen, die Hitler als sein Hobby betrachtete. Zuchtauswahl, künstliche Befruchtung, sogar Kreuzung unterschiedlicher Spezies … An all dem hat man sich, mit wechselndem Erfolg, hinter verschlossenen Türen versucht.«

»Was, Kreuzung verschiedener Spezies?«

»Da Watson und Krick die Existenz der DNS erst etliche Jahre später entdeckten, beschränkten sich diese Versuche naturgemäß auf äußerst unausgereifte Bemühungen, und die Resultate sollen nach den vorliegenden Informationen grauenvoll gewesen sein. Aber es genügt, um zu sagen, daß die Nazis im allgemeinen und Haslanger im besonderen ihrer Zeit deutlich voraus gewesen sind.«

»Und die Fabrik gestattete es ihm und den übrigen Forschern, die Sie rekrutiert haben, der Zeit voraus zu bleiben.«

»Ja, Mr. McCracken, allerdings mit einem gänzlich anderen Ziel im Hinterkopf.«

»Sieg um jeden Preis, meinen Sie?« fragte Blaine provokativ. »Da besteht kein großer Unterschied.«

»Genauer gesagt, Überleben um jeden Preis. Damals konnte sich kein Mensch ein unblutiges Ende des Kalten Kriegs vorstellen. Wir sahen nur, daß er sich immer mehr verschärfte, und das vermutlich bis zum Dritten Weltkrieg. Für diesen Krieg wollten wir gerüstet sein.«

»Also ließen Sie Haslanger und den Rest ihre Blankoschecks behalten.«

»Mit gewissen Einschränkungen und Vorgaben haben wir genau das getan, jawohl. Sie waren alle brillant, aber Haslanger hatte den schärfsten Verstand. Außerdem war er der einzige, der ihn mit völliger Skrupellosigkeit vereinte. Seine anfänglichen Arbeiten machten einen vielversprechenden Eindruck, resultierten allerdings in keinerlei praktisch nutzbaren Ergebnissen.« Gloria Rendines Stimme sank deutlich. Sie zog ihre Jacke enger um sich. »Bis die Existenz der DNS bestätigt wurde. Für Haslanger war das so, als wäre ihm eine Schatzkammer geöffnet worden. Er vermischte und verknüpfte die DNS-Stränge verschiedener Spezies und forschte nach der richtigen Kombination, aus der ein Idealsoldat hervorgehen sollte, der vollkommene Kämpfer. Es fehlten ihm allerdings die Möglichkeiten der Genidentifikations- und Isolierungsmethoden, die man heute kennt. Bei ihm lief jeder Versuch auf Erfolg oder Mißerfolg hinaus, und die Endprodukte waren unbeschreiblich, Alptraumgestalten der Gentechnik. Die meisten von ihnen wurden schon Minuten nach der Geburt getötet.«

»Auch Menschen?«

»Eben die Menschenversuche waren es, die dazu führten, daß man diesen Teil seiner Tätigkeit dann nicht mehr genehmigt hat. Er experimentierte mit dem menschlichen genetischen Code herum, lange bevor er fertig war … ich weiß nicht, was er da zusammenmixte oder was er damit erzeugen wollte. Ich weiß nur, daß die Monstrositäten, die erschuf …«

Die Frau verstummte; sie zitterte, als sie in Gedanken noch einmal die Resultate von Haslangers Gen-Experimenten vor sich sah. Nach einer Reihe tiefer Atemzüge hatte sie ihre Fassung wieder. »Das ist meine Geschichte, Mr. McCracken. Ich habe ihn zu lange nach Lust und Laune herumpfuschen lassen, bis in die siebziger Jahre hinein, in denen er seine gesamten Anstrengungen auf Zuchtwahl konzentrierte.«

»Nun kommen wir zur Operation Offspring.«

»Sie beruhte auf einer viel schlichteren, weniger dramatischen Konzeption. Uns war klar, daß sich die Kriege der Zukunft nicht auf dem Schlachtfeld, sondern im Labor entscheiden würden. Unter diesem Gesichtspunkt strebte Haslanger die planmäßige Züchtung von Genies an. Wenn sowohl der Vater als auch die Mutter einen weit über dem Durchschnitt liegenden IQ haben, kann man sich leicht ausrechnen, wie ihr Nachwuchs wird. Und natürlich brauchten die Eltern sich überhaupt nicht zu kennen, das war an allem der beste Aspekt. Haslanger benötigte nur ihren Samen und die Eizellen. Er hat weibliche Mitarbeiter dafür bezahlt, die Kinder auszutragen. In den Jahren neunzehnhundertneunundsiebzig und neunzehnhundertachtzig sind von Haslanger auf diese Weise über achtzig Kinder in die Welt gesetzt worden, eine neue Wunderkinder-Generation. Anfangs wurden sie gemeinsam aufgezogen, um sie unter permanenter Beobachtung zu haben und sofort erkennen zu können, welche von ihnen die Anlage zum Genie zeigten. Kurz vor ihrem dritten Geburtstag sind vierzehn Kinder ausgesucht und der Vormundschaft von Personen unterstellt worden, die wir aus unterschiedlichsten Gründen an der Kandare hatten.«

»Also neunzehnhunderteinundachtzig«, rechnete McCracken. »Oder neunzehnhundertzweiundachtzig.«

»Ja.«

»Und was für eine Rolle spielte dabei Harry Lime?«

»Ihr Bekannter war einer der von uns ausgesuchten Vormunde.«

»Obwohl er längst nicht mehr ganz richtig im Kopf war«, konstatierte Blaine vorwurfsvoll, »und Sie das ganz genau gewußt haben dürften.«

Gloria Rendine-Wilkins-Tate ersparte sich jedes Leugnen. »Unsere Auswahl orientierte sich auch an anderen Faktoren als geistiger Stabilität.«

»O ja, Sie wollten dafür Leute haben, von denen sich, wie bei Harry, leicht vortäuschen ließ, es gäbe sie gar nicht. Personen mit engen, aber mühelos kappbaren Beziehungen zur Regierung. Harry Lime erfüllte alle diese Anforderungen. Und wer hat schließlich den Laden dichtgemacht?«

»Gerüchte sind durchgesickert, und es gab peinliche Vorfälle. Unter Präsident Carter ging es uns wirklich schlecht. Das erklärt die Aktenlage bei Ihrem Bekannten und meinen … Rückzug aus diesem Tätigkeitsbereich.«

»Und was ist aus den Kindern geworden?«

»Nach der Einstellung von Operation Offspring wurden sie ihren Vormunden weggenommen und unauffällig in Waisenhäusern untergebracht.«

»Aber Joshua Wolfe nicht.«

»Nein, anscheinend nicht«, antwortete die Frau mit verwirrter, stockender Stimme. Ihr Blick wurde schärfer, verriet auf einmal Furcht. »Jemand anderes muß die Aufgabe übernommen haben, ihn zu observieren und seinen weiteren Werdegang zu steuern … Dieser Jemand hat die Arbeit dort fortgesetzt, wo wir aufhören mußten.«

»Ich vermute, Sie wissen nicht zufällig, wer dafür in Frage käme?«

»Es könnte jeder sein, der Zugriff auf unsere Forschungsunterlagen hat. Die Liste der Leute, auf die das zutrifft, ist sehr kurz, aber ich muß Ihnen wohl nicht erst erklären, daß sie in Washington nicht unbedingt so blieb.«

»Wäre es möglich, daß es Haslanger ist?«

»Nicht er allein. Es ist ausgeschlossen, daß er über die entsprechenden Mittel für eine solche Unternehmung verfügt.«

»Ich könnte mir denken, daß er einen Sponsor gefunden hat.« Blaine schwieg für einen Moment. »Es wäre ja nicht das erste Mal.«

Er zog das Foto aus der Tasche, das er an der Harvard-Universität in Joshua Wolfes Studentenquartier gefunden hatte, und hielt es Gloria Rendine hin. Sie löste ihre in die Jacke gekrallten Finger, nahm das Foto, hob die an einer Kette befestigte Brille vor die Augen und betrachtete die Aufnahme Harry Limes, der mit einem Lächeln den Arm um die Schulter eines langhaarigen Teenagers gelegt hatte.

»Joshua Wolfe«, erklärte Blaine knapp.

Als die alte Frau aufschaute, schien ihr Blick sich in weiten Fernen zu verlieren. »Zur leichteren Kennzeichnung und Unterscheidung bekamen alle Kinder einen Tiernamen. Ich hätte nicht geglaubt, daß ich eines von ihnen je wiedersehen würde, nicht einmal Wolfe.« Ihre Augen belebten sich wieder. »Was sagten Sie, wo er jetzt ist?«

»Ich habe es nicht erwähnt, aber er studiert an der Harvard-Universität. Jetzt ist er allerdings nicht mehr dort. Schließlich hat sich ja eine ziemliche Katastrophe ereignet.«

»Wovon reden Sie? Sie tun so, als ob ich darüber Bescheid wissen müßte.«

»Ich bin mir sicher, daß Sie längst davon erfahren haben. Die ganze Nation weiß es. Es geht um die Katastrophe im Einkaufszentrum von Cambridge, Miss Rendine. Siebzehnhundert Menschen sind ums …«

»Nein!«

»Joshua Wolfe trägt dafür die Verantwortung, glauben Sie mir. Bisher neigt man zu der Ansicht, es sei ein tragischer Unfall gewesen, ein fehlgeschlagenes Experiment. Aber falls Haslanger im Hintergrund die Fäden zieht, sind tatsächlich Zweifel berechtigt. Und wenn er den Jungen als erster in die Finger kriegt …«

»Das kann doch nicht wahr sein …!« stöhnte die Frau.

»Es ist aber wahr, verlassen Sie sich darauf. Und ich habe noch ein größeres Problem, nämlich Harry Limes Verschwinden. Irgendwer hat ihn kassiert, nachdem er mir sein Herz ausgeschüttet hat.

Sie haben ihm das Kind angehängt, Miss Rendine. Sie haben Harry zum Witwer erklärt, um das Szenario zu komplettieren, und er fing irgendwann an, sich einzubilden, er hätte wirklich einmal eine Ehefrau gehabt; ja, er glaubte sogar, ich wäre bei ihrer Beerdigung dabeigewesen. Dann kreuzte eines schönen Tages derjenige auf, der Ihre Arbeit weitergeführt hat, wer auch immer er ist, und holte den Jungen auf Nimmerwiedersehen fort.

Harry wurde nach Florida geschickt und bei Zantop Airlines beschäftigt. Aber in Key West lief alles aus dem Ruder. Harry redete sich ein, der Junge sei verschleppt worden, gekidnappt. Wer die Operation Offspring an sich gerissen hat, will nicht nur die Genies für sich haben, er verwischt auch sorgfältig ihre Spuren.

All das stinkt doch gewaltig nach Haslanger, nicht? Er hat doch in so etwas seit langem einschlägige Erfahrungen gesammelt, nicht wahr?«

»Denken Sie wirklich, Sie könnten daran etwas ändern?«

»Jedenfalls kann ich herausfinden, von wem Harry aus dem Verkehr gezogen worden ist. Das wäre ein guter Einstieg. Wo steckt Haslanger heute, Miss Rendine? Wo kann ich ihn finden?«

»Ich habe keine Ahnung. Das müssen Sie mir glauben. Wenn ich es wüßte, würde ich …«

Sie beendete den Satz nicht. In dem Archivraum erlosch die Beleuchtung. Schlagartig herrschte völlige Finsternis.

»Nehmen Sie meine Hand«, sagte McCracken leise zu Gloria Wilkins-Tate. Unter der Tür drang nicht der schwächste Lichtschein herein, ein Zeichen dafür, daß der Strom im ganzen Kellergeschoß ausgefallen sein mußte.

Starre Finger drängten sich in seine Faust. Behutsam umfaßte McCracken sie, während er mit der anderen Hand nach der Türklinke tastete.

»Das ist nichts Ungewöhnliches«, versicherte die Frau, »vor allem im Sommer nicht. Stromausfälle, meine ich.«

Lautlos hatte Blaine die Tür geöffnet. »Die Notbeleuchtung ist auch aus.«

»Ach«, stieß Gloria Rendine hervor und begann zu verstehen.

»Hier können wir nicht bleiben. Wir müssen weg.«

Blaine führte sie aus dem Archivraum nach rechts auf den Korridor, während er gleichzeitig seine SIG-Sauer entsicherte. An der Wand entlang tappten sie langsam durchs Dunkel bis ans Ende des kurzen Gangs und bogen dann um die Ecke. McCracken erinnerte sich daran, daß rechts moderne Roll-Regale standen und direkt vor ihnen eine beträchtliche Anzahl herkömmlicher Bücherregale.

Aus nicht allzu großem Abstand ertönte ein Schlurfen, gefolgt von einem leisen Rums.

»Wer …?«

Das eine Wort war heraus. Zu spät verschloß McCrackens Hand den Mund der Frau. Vor ihnen bewegte sich ein Schatten, wirbelte auf sie zu. Blaine spürte ihn zunächst nur, dann sah er einen verschwommenen Umriß. Er feuerte mit der SIG-Sauer in die Richtung der wirbelnden Gestalt und suchte nach Gloria Rendines Hand, die sich beim ersten, ohrenbetäubenden Knall der Pistole seinem Griff entwunden hatte. McCracken versuchte noch, die Hand der Frau zu ergreifen, da sprang die Gestalt, eine dunkle, sich bewegende Masse inmitten der Finsternis, zwischen ihn und sie. Blaine schwenkte die SIG-Sauer herum, behielt die Gestalt im Schußfeld, aber weil er nicht wußte, wo die Frau geblieben war, feuerte er nicht.

Ein Keuchen und ein Knacken ertönten. Dann schlug etwas auf den Fußboden. McCracken packte die Pistole fester und gab vier Schüsse ab. Das Mündungsfeuer der ersten drei Schüsse erhellte eine Person, die bis in Dreiviertelhöhe der Bücherregale aufragte, aber sich nun zwischen den ordentlich einsortierten Buchreihen blitzschnell duckte.

Blaine kauerte sich nieder und tastete auf dem Fußboden umher. Seine Hand berührte Gloria Wilkins-Tates Arm, fuhr hinauf zu ihrem Hals. Kein Pulsschlag. Und noch etwas, erkannte McCracken, hatte sich schrecklich verändert.

Der Kopf der Frau war gänzlich in den Nacken gedreht, ihr Hals so mühelos gebrochen worden wie ein Zweig.

Blaine richtete sich auf und verhielt sich für einen Moment vollkommen still. Der nächste Ausgang, wäre er daran interessiert gewesen, lag geradeaus und dann rechts; doch ihm war vollauf klar, daß er hinter der Ausgangstür keine Erklärung finden würde für das, was sich hier abspielte. Die Antworten waren hier zu suchen, bei demjenigen, der soeben Gloria Rendine-Wilkins-Tate ermordet hatte. Also wich McCracken zwischen die dichtgefüllten Bücherregale zurück und machte sich an die Verfolgung des Mörders.

Krill verstand das Dunkel, das ihm so wunderbare Vorteile gewährte, vorzüglich zu nutzen. Seine Augen, diese häßlichen, hervorquellenden Kugeln, die ihm im Licht das Leben erschwerten, durchdrangen mit ihrer Sicht ohne jede Mühe die Schwärze und sahen alles, was sich darin verbarg. Unter diesen Bedingungen funktionierten seine Augen ähnlich wie bei einem Tier, nahmen weniger Umrisse als Bewegung wahr.

Und Bewegung verriet ihm, daß der Pistolenschütze sich vorsichtig durch den Gang schlich, in den er gewichen war, nachdem er das tote Weibsbild abgetastet hatte. Auf beiden Seiten standen hohe Regale voller Erstausgaben, einige von ihnen Jahrhunderte alt. Sie bewirkten eine Art von Tunneleffekt, der Krills nächstem Opfer die Sicht zusätzlich behinderte.

Krill wartete in der Absicht, den Mann herankommen zu lassen, verwarf den Plan dann jedoch zugunsten einer schöneren Idee.

Er sah den Mann auf halber Länge des Gangs dahinschleichen, eine Neun-Millimeter-Pistole vor sich ausgestreckt. Krill tat einen Schritt nach rechts und ging geräuschlos in den benachbarten Gang. Langsam bewegte er sich vorwärts.

Blaine schob sich vorsichtig durch die Dunkelheit und hoffte auf irgendeinen schwachen Lichtschein, um wenigstens etwas besser sehen zu können. Der trübe Schein eines Leuchtschildchens, das auf den Weg zum Ausgang hinwies, erregte seine Beachtung, als er den Gang zwischen den Bücherregalen gerade zur Hälfte durchquert hatte. Eine große Hilfe war das Glimmen nicht, doch zumindest erlaubte es ihm eine gewisse Orientierung.

Ohne Zweifel hatte der Mörder den Stromausfall vorsätzlich verursacht und war mit irgendeinem Nachtsichtgerät ausgerüstet, das ihm einen enormen Vorteil bot. Wie merkwürdig, daß er sich zuerst auf die Frau gestürzt hatte, obwohl er genauso leicht sofort McCracken hätte angreifen können, statt ihn in Alarmbereitschaft zu versetzen.

Es sei denn, Gloria Rendine-Wilkins-Tate war sein auserkorenes Hauptopfer gewesen, und die Erfordernis, Blaine umzubringen, bloß eine Nebensache. Aber wer sollte …

Bücher hagelten auf McCracken herab. Er wirbelte, die SIG-Sauer voran, zu der Stelle herum, von der sie aus dem Regal prasselten. Um sein Handgelenk, das die Waffe hielt, klammerte sich eine Faust, die zupackte, wie Blaine es noch nie erlebt hatte – wie ein Schraubstock, der sich sofort vollkommen schloß. McCrackens Hand zitterte und die Pistole entglitt seinen Fingern und krachte auf den Fußboden.

Eine zweite Faust fuhr in Blaines Kopfhöhe durch das Wirrwarr der im Regal umgekippten Bücher und wollte sich in seine Kehle krallen. McCracken konnte sie gerade noch mit der freien Hand abwehren. Sein Gegner riß mit heftigem Ruck an Blaines anderem Arm, so daß er gegen das Regal prallte, an dem wieder eine ganze Menge Bücher krachten. Verzweifelt schlug er um sich, um zu verhindern, daß die stahlharten Finger seine Kehle erreichten. Zwischen ihm und seinem Widersacher stand das Regal, also konnte er seine Beine nicht als Waffe verwenden. Ihm blieb zur Verteidigung nur die eine Hand.

Die Augen … Greif das, was er auf den Augen trägt.

Auf diese Taktik verlegte er sich aus purer Not; freiwillig hätte er sich nicht dafür entschieden, weil sie dem unmenschlich starken Griff des Gegners seine Kehle entblößte. McCracken wartete, bis er am Arm einen zweiten Ruck spürte. Im selben Moment stieß er die freie Hand aufwärts, in die Höhe, wo er das Gesicht des Mörders vermutete.

Der Hieb traf einen Kopf, der ein Totenschädel hätte sein können, so wenig Fleisch umhüllte ihn. Die zwanzig Zentimeter, um die sich die Augen des Fremden über Blaines Scheitel befanden, erlaubten den Rückschluß, daß er mindestens zwei Meter maß, also die Körpergröße Johnny Wareagles hatte. Blaine merkte, wie der große Kopf zurückzuckte, während seine Finger über die Stirn glitten.

Der Killer trug gar kein Nachtsichtgerät. Er hatte nur … seine Augen. Blaines Finger schrammten über das eine Auge, und er versuchte den Daumen anzusetzen, um Druck ausüben zu können. Vor Schmerz gab der Gegner ein Brummen von sich, und sein Griff um Blaines Handgelenk lockerte sich so weit, daß McCracken sich losreißen konnte. Durch den Schwung prallte er rücklings gegen das gegenüberstehende Regal, so daß auch dort mehrere Reihen Literatur von den Brettern rutschten und auf den Boden polterten.

Blaine hörte einen zweiten Laut, ein rauhes Knurren, dem fast augenblicklich das Berstgeräusch von Metall folgte. Im Dunkeln nach wie vor unsicher, spürte Blaine mehr, als daß er sah, wie ein großes Regaloberteil auf ihn herunterkippte, und schon hagelte es erneut Bücher. Er sprang zur Seite, schaffte es, der Lawine auszuweichen, bemerkte dann aber, daß das benachbarte Regaloberteil sich ebenfalls vornüber neigte. Das Geschehen hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Dominoeffekt und holte Blaine schnell ein, als er den Gang entlangrannte. Bücher überschütteten McCracken, schließlich traf die Kante eines schweren Regals seine Schulter, und er wurde darunter begraben.