Kapitel
5

McCracken ließ sich Zeit auf dem Weg zum Captain Hornblower, von wo aus er Harry Limes Spuren des gestrigen Abends verfolgen wollte. Auf der Duval Street spazierte er an endlosen Reihen von Kneipen, Restaurants und Boutiquen mit den neuesten Trend-Kollektionen vorbei zum Mallory Square. Hier gab es zahlreiche Einkaufspassagen, in Massen Straßenhändler, die Kunstgewerbliches verkauften, und praktisch an jeder Ecke eine Bude, wo man Touristen zu verlocken versuchte, sich zu den unterschiedlichsten Wassersportaktivitäten anzumelden.

Blaine sah zu, wie ein Traktor, den man zu einer falschen Lokomotive aufgemotzt hatte, eine Anzahl mit Segeltuchdächern überspannter Wagen zog. Die Waggons waren kaum zu einem Drittel gefüllt mit Touristen, die pausenlos Fotos schossen. Dahinter folgte ein altmodischer Bus, gleichfalls nur zu einem Drittel belegt. Die Insassen wirkten insgesamt gelangweilt und lustlos, als hätten sie nur daran Interesse, die Rundfahrten möglichst schnell hinter sich zu bringen, ehe der Tag zu heiß wurde, um sich weit vom Wasser zu entfernen.

Das Captain Hornblower hatte gerade geöffnet, als Blaine dort eintraf. Drinnen beschäftigten sich ein Barkellner und eine Kellnerin, die Blaine schon vom Vorabend kannte, mit den Vorbereitungen für den kommenden Betrieb. Beide erinnerten sich, daß Harry am Montagabend das Lokal erst mehrere Stunden nach McCracken verlassen hatte, nachdem es ihm durch Einsatz noch einer Handvoll Vierteldollarmünzen und gestärkt durch sein übliches Quantum Rolling Rock, gelungen war, am Spielautomaten den eigenen Rekord zu brechen.

McCracken wollte sich gerade verabschieden, da bemerkte er, daß einer der Sechs Unverbesserlichen, derjenige, den Harry Sandmann genannt hatte, an demselben Fachwerkbalken stand, an dem er gestern gelehnt hatte. Man hätte meinen können, er wäre gar nicht fort gewesen; allerdings war sich Blaine sicher, daß er heute einen anderen Bademantel trug.

»Ich kenne Sie«, sagte Sandmann, als McCracken zu ihm trat.

»Ich glaube, wir sind uns noch nie begegnet.«

»Sind wir auch nicht. Aber ich kenne Sie trotzdem.«

»Ich suche Harry.«

»Dann kommen Sie später noch mal rein.«

»Ich bezweifle, daß er später hier auftaucht.«

»Harry ist viel unterwegs.«

»Mein Eindruck ist, daß diesmal jemand nachgeholfen hat.«

Der karge Rest von Lebendigkeit in Sandmanns Augen drückte Besorgnis aus. »Haben Sie schon Papa gefragt?«

»Wo finde ich ihn?«

»Im Hafen. Auf Kundenfang für sein Boot.«

Papas Boot hatte den Namen ›Die Stunde schlägt‹. Wie er da auf Deck saß, sah er Hemingway noch ähnlicher als am Vorabend im Captain Hornblower. Er wirkte nicht so, als wäre ihm sonderlich daran gelegen, Leute anzulocken, die sein Boot chartern sollten. Vielmehr zog er es anscheinend vor, den Tag damit herumzubringen, sich aus einer Karaffe Cuba Libre in einen Plastikbecher zu füllen.

»Hallo, Papa«, rief Blaine und sprang vom Kai an Bord, ohne eine Erlaubnis abzuwarten.

Der Grauhaarige setzte den Becher ab und drehte den Kopf. »Kenne ich Sie?«

»Sie kennen Harry.«

Eine Erinnerung durchzuckte die blutunterlaufenen Augen. »Sie waren gestern abend in unserem Stammlokal.«

»Harry brauchte meine Hilfe. Und jetzt ist er fort.«

»So was kommt vor, meistens dann, wenn er irgendwas im Kopf hat, über das er länger nachdenken muß.«

»Und im Moment hat er so eine Nuß zu knacken?«

Papa hob die Schultern. »Wahrscheinlich. Er setzt sich dann spät abends noch in 'n Boot. Den erstbesten Kahn, den er sieht. Betrunken oder nüchtern, ganz egal. Er schätzt, wieviel Benzin im Tank ist, und fährt so weit hinaus, wie er kann, bis er umkehren muß. Er treibt alles gern auf die Spitze, auch sein Glück. Aber bis jetzt ist er jedesmal wiedergekommen.«

»Gibt es ein Boot, das er häufiger benutzt?«

»Ja, mein Schlauchboot.«

»Darf ich es mal sehen?«

»Klar, dürfen Sie, wenn's da wär. Als ich heute früh nachgesehen habe, war's weg.«

»Das haben wir unmittelbar hinter der Ausgangstür der Kellerräume gefunden«, sagte Killebrew zu Susan. Auf dem Tisch des Wohnmobils lagen die verschiedensten Gegenstände verstreut.

Zwei davon rochen durchdringend nach Seife und einem scharfen Desinfektionsmittel, weil sie in einem in der Nähe abgestellten Anhänger unter der mobilen Dekontaminationsdusche gelegen hatten. Susans Haar trocknete zu filzigen, strähnigen Zotteln, aber sie scherte sich nicht darum. Killebrew saß momentan in einem Ersatzrollstuhl, sein eigentlicher Rollstuhl wurde noch der Dekontaminierung unterzogen. Susan wartete gespannt, während er sich vorbeugte und einen verschlissenen, abgetragenen Rucksack aus blauem Nylon vom Tisch nahm.

»Ich habe den Inhalt aufgelistet«, fügte Killebrew hinzu. »Die Liste ist da auf dem Klemmbrett vor Ihnen.«

Susan überging seinen Vorschlag und griff statt dessen in den Rucksack. Er enthielt vier Bücher, ziemlich dicke Schwarten. Susan holte das oberste heraus, einen schweren Band mit dem Titel Fortgeschrittene organische Chemie. Das zweite, fast ebenso dicke Buch hieß Molekularphysik und Quantenmechanik. Das dritte und vierte Buch, Zellphysiologie, und Angewandte Chemie, waren großformatige Paperbacks. Die letzten beiden waren Susan bekannt; sie hatte sie in älteren Auflagen während ihrer Zeit als Medizinstudentin gelesen.

»Lehrbücher«, sagte sie, betastete den jetzt flachen Rucksack. Ihre Finger strichen über das rauhe, blaue Material. »Nirgends ein Name drin?«

»Nein, ich habe schon nachgesehen.«

Susan schob die Hand in den Rucksack und brachte mehrere lose Zettel ans Licht.

»Kassenzettel«, konstatierte sie, während sie diese glättete und vor sich ausbreitete. »Von einem Supermarkt in Harvard. Gehe ich richtig in der Annahme, daß der Rucksack, da er hier auf dem Tisch liegt, keinem der Augenzeugen gehört, deren Personalien festgestellt wurden?«

Killebrew sah zu ihr hoch. »Es hat sich niemand gefunden oder gemeldet. Und es sind darauf nur die Fingerabdrücke einer Person entdeckt worden. Das FBI hat sie schon überprüft, aber ohne Ergebnis.«

Susan betrachtete die vor ihr ausgelegten Papierchen. »Und das sind Kassenzettel über Barkäufe, also helfen sie uns auch nicht weiter. Na, wenigstens stehen Datum und Uhrzeit drauf. Vielleicht haben wir Glück.«

»Die Einkäufe liegen aber schon ein paar Wochen zurück«, meinte Killebrew skeptisch. »Ob wir uns davon etwas versprechen können, ist zweifelhaft. Allerdings werden in Harvard im Sommersemester nur wenige Studenten zugelassen, also dürfte es nicht zu schwierig sein, die Studenten ausfindig zu machen, deren Fächer die Lektüre dieser Lehrbücher erfordern. Wahrscheinlich stellt sich der Eigentümer als irgendein ängstliches Bürschchen heraus, das lieber verduftet ist, statt sich, wie die anderen Zeugen, von der Polizei vernehmen zu lassen.«

»Kann sein«, räumte Susan ein und betrachtete nun drei identische, vierzig Zentimeter lange, mit ultramodernen Meßinstrumenten gekoppelte Röhren, die neben dem Rucksack auf dem Tisch lagen. Die Meßgeräte hatten sowohl Digitalanzeigen als auch Skalen und waren in versiegelte Kästen eingebaut, die an jeder Seite mehrere symmetrisch angeordnete Löcher besaßen. Auf Dreibeinen am Unterende konnten die Vorrichtungen aufgestellt werden.

»Diese Dinger haben wir gestern abend gefunden«, erklärte Killebrew. »Wir wissen noch nicht so recht, was das sein soll.«

»Sparen Sie sich die weitere Mühe«, antwortete Susan. »Solche Apparate habe ich schon gesehen, nicht genau die gleichen, aber ähnliche. Das sind Meßgeräte zum Prüfen der Luftqualität. Man läßt sie für längere Zeit in geschlossenen Räumen, um eventuell auftretende toxische Gase zu messen. Die Resultate solcher Langzeituntersuchungen waren es hauptsächlich, die zum Rauchverbot in Restaurants und Geschäften geführt haben, um die Folgen des Passivrauchens zu mildern.«

»Dann können wir wohl annehmen, daß sie zur Ausstattung dort gehören.«

Doch Susans Gedanken drehten sich schon um etwas anderes. »Wo steckt im Moment die Suchmannschaft?« fragte sie Killebrew. Sie meinte damit das Team, das vor Ort nach Material suchte.

»Es untersucht gerade das Einkaufszentrum noch einmal, für den Fall, daß gestern etwas übersehen worden ist.«

»Geben Sie durch, die Kollegen sollen runter in den Heizungskeller. Sie möchten ihn ein zweites Mal durchsuchen.«

»Auf was sollen sie denn achten?«

»Auf etwas, von dem ich vermute, daß es ihnen bis jetzt nicht aufgefallen ist.«

»Die Sache sieht so aus, Boß«, erklärte Sal Belamo, als Blaine wenige Minuten, nachdem er sich von Papas Boot verabschiedet hatte, mit ihm telefonierte. »Anscheinend bleibt dein Freund Harry gerne für sich. Er hat fast nie jemanden angerufen und nur wenige Anrufe erhalten.«

»Irgend etwas Verdächtiges dabei?«

»Nein. Aber fast alle eingegangenen Anrufe kamen von einem Anschluß in Cambridge. Aus Massachusetts, Boß, aus Harvard, um genau zu sein.«

»Jemand hat Harry aus Harvard angerufen?«

»Aus einem Studentenwohnheim. Der letzte Anruf kam … Moment mal … Am Sonntagnachmittag um ungefähr vierzehn Uhr. Es war ein langes Gespräch, rund zwanzig Minuten. Ach, da fällt mir was ein. Hat Harry ein Faxgerät?«

»Ja, aber es war kein Papier drin.«

»Das paßt zu dem, was du erzählt hast. Leider unterscheiden die Aufzeichnungen nicht zwischen einem Fax und einem normalen Anruf. Möglicherweise ist irgendwas Aufschlußreiches per Fax gekommen.«

»Das heißt«, sagte Blaine zu Sal Belamo, »ich muß wohl das nächste Flugzeug nach Boston nehmen.«

»Du willst nach Harvard? Nach Cambridge?«

»Du klingst plötzlich so komisch, Sal. Was ist los?«

»Vor ein paar Tagen ist dort etwas passiert, über das du besser Bescheid wissen solltest, Boß …«

Der Mann, der die auf dem Gehweg zum Verkauf ausgestellten Original-Ölgemälde betrachtete, wartete ab, bis Blaine McCracken sich ein ganzes Stück weit entfernt hatte, ehe er weiterschlenderte und sein Handy an die Lippen hob.

»McCracken hat angebissen«, berichtete er, als sich am anderen Ende jemand meldete.

Susan sichtete gerade die neuen Daten, als ein gedämpftes Piepsen ertönte. Sie drehte den Kopf und sah Killebrew den Telefonhörer von dem Apparat nehmen, über den er mit der vor einigen Minuten in den Heizungskeller geschickten Suchmannschaft Kontakt hielt. Er hörte kurz zu, ohne den Blick von Susan zu wenden.

»Sie hatten den richtigen Riecher«, teilte er ihr mit. Seine Stimme sank deutlich, als sein Blick auf den Rucksack fiel, dessen Inhalt Susan rasch wieder hineingepackt hatte. »Im Heizungskeller sind Fasern von blauem Nylongewebe gefunden worden.«