Kapitel
19

»Vielen Dank, daß Sie gekommen sind, Dr. Lyle«, sagte Colonel Fuchs zur Begrüßung, als man Susan in sein Büro führte. Er zupfte am Saum seiner Uniformjacke, um die Falten zu glätten.

»Man hat mir keine Wahl gelassen, Mr. Fuchs.«

»Colonel Fuchs, Doktor.«

»Verzeihung.«

»Abtreten«, befahl Fuchs dem Untergebenen, der Susan vom Haupteingang des Laboratoriums Brookhaven bis zu ihm begleitet hatte. »Und schließen Sie die Tür. So, Doktor, wenn Sie nun Platz nehmen möchten, kann ich Ihnen sicherlich sämtliche Fragen beantworten, die Sie wahrscheinlich an mich haben.«

Susan hatte jede Menge Fragen. Ihre Vorgesetzten waren ungewöhnlich verschlossen gewesen, als sie sie über ihre zeitweilige Versetzung informiert hatten. Sie hatten ihr für die ausgezeichnete Arbeit in Cambridge gratuliert und gemeint, auf dieser hervorragenden Grundlage könnte jemand anderes sie leicht erfolgreich beenden. Sonst hatte man ihr lediglich eine sehr karge, allgemein formulierte Begründung gegeben sowie den Einsatzort genannt, eben das Laboratorium Brookhaven in der Ortschaft Upton auf Long Island.

»Mir ist mitgeteilt worden«, sagte sie, um das Gespräch überhaupt irgendwie anzufangen, »ich hätte vorübergehend in Brookhaven tätig zu sein, um neu veranlaßte Forschungen nach der Todesursache der in der Cambridge-Citypassage gefundenen Opfer zu überwachen.«

»Genau so ist es, Doktor.«

»Nein, so ist es nicht, denn hier, wo man mich hingeführt hat, befindet sich strenggenommen gar kein Teil des Brookhaven-Labors, oder?«

»Sie sind eine gute Beobachterin.«

»Ich bin nicht blind. Wo bin ich hier wirklich, Colonel?«

»Bei Gruppe Sechs. Wir sind eine hundertprozentige Regierungsinstitution, und das erklärt, weshalb Ihre Versetzung so kurzfristig und unkompliziert vonstatten gehen konnte.«

Verwirrt rutschte Susan auf ihrem Stuhl hin und her. »Und wofür ist die Gruppe Sechs zuständig, Colonel?«

»Oh, für vieles. In diesem Fall könnte man sagen, wir knüpfen an Unfälle und Forschungsergebnisse an, die sich nicht ganz so bewährt haben, wie es sein sollte. Dann verbessern wir sie so, daß sie sich für unsere Ziele eignen.«

»Und was sind das für Ziele?«

»Wir verfolgen die gleichen Zwecke wie Sie in Atlanta, Doktor. Wir dienen dem Vaterland.«

Susan beugte sich vor. »Colonel, was hat das mit dem Vorfall in Cambridge zu tun?«

Fuchs spielte mit einer Akte auf seinem Schreibtisch. »Ich habe Ihren Bericht gelesen.«

»Das ist ein vorläufiger Bericht. Er war ausschließlich für Atlanta bestimmt.«

»Das ist bloß eine Formalität. Sie haben da unten herausragende Arbeit geleistet, Doktor. Ich bin darauf aufmerksam geworden, weil sich die Möglichkeit bietet, sie hier bei Gruppe Sechs fortzusetzen.«

»Wozu?«

»Dr. Lyle …«

»Beantworten Sie meine Frage, Colonel. Wozu?«

»Weshalb beantworten Sie sie nicht selber?«

Susan gab sich alle Mühe, ihren Ärger zu verbergen. »Ich muß wohl annehmen, daß Sie Forschungen betreiben.«

»Völlig richtig.«

Sie betrachtete Fuchs' Uniform. »Und die Tatsache, daß Sie der Armee angehören, verweist auf eine gewisse Richtung Ihrer Forschungen.«

»Mich hat man mit diesem Posten betraut, damit ich dem Vaterland in anderen Belangen, aber auf ähnliche Weise diene, wie Sie es bisher getan haben, Doktor. Fällen Sie über unsere Tätigkeit kein voreiliges Urteil. In diesem Haus werden unerhört bedeutsame Projekte angepackt, die sich bahnbrechend auf die Zukunft auswirken können …«

»Waffen«, unterbrach Susan ihn. »Die Forschungen von Gruppe Sechs betreffen Waffen.«

»In der Hauptsache, Doktor«, fügte Fuchs seinen Darlegungen hinzu, als hätte Susan kein Wort gesagt, »gilt unser Interesse einer geregelten Zukunft.« Er deutete auf die Weltkarte, die hinter seinem Schreibtisch an der Wand hing. »Die Gebiete, die ich rot markiert habe, sind die Krisenzentren der Erde, Dr. Lyle, Hexenkessel, in denen es nahezu täglich zu Gewaltausbrüchen kommt. Ich brauche Ihnen keine Namen zu nennen. Aber beachten Sie die Vielzahl der Unruheherde und außerdem die in Gelb markierten Stellen, die Anlaß zur Sorge geben und zur Zeit eine ständige Beobachtung erfordern. Die Gesamtzahl geht in die Hunderte. Fortwährende Instabilität bedroht die Welt, Doktor, und sollte einmal der Tag kommen, an dem alle diese Markierungen rot sind, könnte die Schwelle überschritten werden, hinter der das endgültige Verderben wartet.«

»Nach dem, was Sie da sagen, engagiert sich Gruppe Sechs also für Stabilität.«

»Für die Erhaltung der Stabilität, ja.«

»Durch Waffenforschung.«

»Mit allen Mitteln, derer es bedarf, und leider spielen Waffen nun einmal eine große Rolle bei der Bewahrung der Stabilität.«

»Das ist kein wissenschaftliches, sondern militärisches Denken, Colonel.«

»Es ist beides, und ersteres dient dem letzteren.« Er starrte Susan jetzt unverhohlen aggressiv an, die Maske des freundlichen Hausherrn mitsamt dem falschen Lächeln eines Fremdenführers hatte er endgültig abgestreift. »Sie sprechen, als hätten Sie eine Wahl, Doktor. Aber Sie sind dienstlich zu uns versetzt worden. Ehe Sie sich zu irgendwelchen Protesten hinreißen lassen, möchte ich klarstellen – Ihnen zusichern –, daß Ihre Aktivitäten bei uns enden, sobald Sie Ihre Untersuchungen rundum abgeschlossen haben und uns Ihr kompletter Schlußbericht vorliegt. Das könnte innerhalb weniger Tage, höchstens einiger Wochen erledigt sein. Ich bitte Sie, uns eine Chance zu geben. Möglicherweise werden Sie letzten Endes erkennen, daß unsere Zusammenarbeit zum beiderseitigen Nutzen geschieht.«

Susan merkte, daß ihr Gaumen vollkommen ausgetrocknet war. »Wie Sie schon sagten, Colonel, mir bleibt keine Wahl.«

Fuchs lächelte und beugte sich über das Mikrofon seiner Sprechanlage. »Dr. Haslanger, würden Sie bitte hereinkommen?«

Die Bürotür wurde geöffnet, und ein erschreckend ausgemergelter Mann, der über siebzig sein mußte, trat ein. Seine Haut hatte einen kränklich-hellgelben Farbton, als wären Frischluft und Sonnenschein für ihn nichts anderes als längst vergessene Erinnerungen. Er hatte ein leichenhaftes Gesicht, und Wangen- und Kieferknochen zeichneten sich so schroff ab, daß es schien, als müßten sie jeden Moment die Haut durchstoßen.

»Ich darf Ihnen Dr. Erich Haslanger vorstellen«, sagte Fuchs, »den Leiter unserer Abteilung Spezialprojekte.«

Susan nickte dem Greis zu. »Ich dachte, Sie beschäftigten sich ausnahmslos mit speziellen Projekten.«

»Manche sind speziellerer Natur als andere. Dr. Haslanger hat ein paar Fragen an Sie, Doktor.«

»Ich habe Ihre Berichte über den Vorfall in Cambridge und die dazugehörige Analyse gelesen«, begann Haslanger gleich. »Sie sind nicht ganz zu Ende geführt …«

»Weil es sich dabei um vorläufige Ausarbeitungen handelt.«

»Ich meine nicht die wissenschaftliche Seite der Arbeit. Was sie anbelangt, ist alles beinahe vollständig und nicht zu beanstanden. Nein, ich rede von der Person. Ich wüßte gerne, warum Sie glauben, daß dieser junge Mann sich solcher Mühe unterzogen und weshalb er nicht gewartet hat, bis er seine Entdeckung als unbedenklich einstufen und davon ausgehen konnte, daß der Effekt sich mit seinen Absichten deckte.«

»Zunächst einmal hatte er seinen Forschungsunterlagen zufolge überhaupt keinen Grund zu der Befürchtung, es könnte sich ein anderer als der gewünschte Effekt einstellen. Ich habe die Vermutung, er wollte ein Held werden, etwas Bedeutendes tun, um Anerkennung zu erwerben.« Susan sprach ohne zu stocken, als hätte sie nur darauf gewartet, jemandem ihre Theorien unterbreiten zu dürfen. »Er wollte sich sozusagen bei den Normalbürgern eingliedern.«

»Soviel Aufwand, nur um sich eingliedern zu können?«

»Ja, denn das war es, was Joshua Wolfe sich mehr als alles andere gewünscht hat. Er ist völlig isoliert von anderen Kindern seines Alters aufgewachsen und konnte nur seine intellektuellen Aspekte entfalten. Ich glaube, daß er in der Citypassage von Cambridge die große Gelegenheit gesehen hat, seine persönliche Situation nachhaltig zu verändern. Wäre alles gutgegangen, hätte sein Organismus die Luftverschmutzung beseitigt, wäre er, wie er es sich erträumt hat, der Held des Tages gewesen.«

»Und hat es geklappt?« Fuchs erhob sich vom Schreibtisch. »Die Beseitigung der Luftverschmutzung, meine ich.«

»Es ist ihm gelungen, ja.«

»Aber zum Helden ist er dadurch nicht geworden.«

»Jedenfalls noch nicht«, warf Haslanger ein.

Susan wandte sich wieder ihm zu. »Ich glaube, ich verstehe nicht, was Sie damit andeuten wollen.«

»Ich denke, Sie verstehen mich sehr wohl, Doktor«, entgegnete Haslanger. »Was Sie sagen, läuft darauf hinaus, daß Joshua Wolfe trotz seiner wunderbaren Begabungen nie etwas anderes wünschte, als normal zu sein. Aber selbst wenn das vorher möglich gewesen sein sollte, so ist es inzwischen auf alle Fälle vollkommen ausgeschlossen. Nach dem Ereignis in dem Einkaufszentrum kann er seinen Wunsch begraben. Der Tod von rund eintausendsiebenhundert Menschen hat ihm das alles unmöglich gemacht. Stellen Sie sich nur vor, wie ihm zumute sein dürfte. Was für Schuldgefühle er haben, wie erbärmlich er sich fühlen muß. Wie kann er jemals verwinden, was er am Sonntag angerichtet hat?« Der alte Mann musterte Susan lange genug, um sicher sein zu können, daß sie sich einer Antwort enthielt. »Doch nur, indem er nachträglich beweist, daß sein Experiment einen Sinn hatte, daß sich daraus hinterher etwas Gutes ableiten läßt.«

»Sie meinen, was Sie hier so unter gut verstehen«, schlußfolgerte Susan, die endlich verstand.

»Wir möchten, daß Joshua Wolfes Talent angemessen genutzt wird«, beteuerte Fuchs. »Wir sind die einzigen, die ihm aus der Patsche helfen können, Doktor. Nur wir haben die Mittel, um sicherzustellen, daß diese Tragödie seine Zukunft nicht beeinträchtigt oder womöglich ganz zerstört. Wir können diese Sache für den Jungen einfach aus der Welt schaffen. Man kann den Medien ohne weiteres eine völlig andere Erklärung des Unglücks in der Citypassage von Cambridge liefern.«

Die Vorstellung, daß die Gruppe Sechs über soviel Macht verfügte, jagte Susan eine Gänsehaut über den Rücken. »Mit anderen Worten, eine Lüge.«

»Wenn Sie es unbedingt so nennen wollen.«

»Und natürlich brauchen Sie dafür meine Mithilfe.«

»Und ich nehme an, daß Sie sie uns bereitwillig und ohne zu zögern gewähren.«

»Aus welchem Grund sollte ich das tun?«

»Weil ich den Eindruck habe, daß Ihre Hauptsorge inzwischen dem Schicksal Joshua Wolfes gilt, und genauso verhält es sich auf unserer Seite.« Fuchs' Gesicht trug wieder das Fremdenführerlächeln, eine Fassade des Mitgefühls, die überhaupt nicht zu ihm paßte. »Ich möchte, daß Sie uns behilflich sind, wenn wir den Jungen finden.«

»Warum gerade ich?«

»Anscheinend verstehen Sie ihn gut. Ich bin der Auffassung, Sie sind in einem so schwierigen Abschnitt seines Lebens besser als irgendein Mitglied meines Stabs dazu imstande, sein Vertrauen zu gewinnen.«

»Weil ich eine Frau bin?«

»Weil sein Schicksal Ihnen nicht gleichgültig ist. Also, ja oder nein?«

»Ich wüßte nicht, was ich …«

»Geben Sie mir eine Antwort. Ja oder nein?«

»Ja.«

Fuchs trat näher. »Sie mußten selbst einmal eine schwere Tragödie durchstehen, nicht wahr?«

Susan zuckte wie von plötzlichem Schmerz getroffen zusammen.

»Für uns gibt es keine Geheimnisse, Dr. Lyle. Wir versuchen nie, irgend jemanden für die Mitwirkung an unserer Arbeit zu gewinnen, ohne über den Betreffenden vollständig Bescheid zu wissen. Ihre Akte enthält alles, sogar Informationen, von denen Sie vermuteten, daß nicht einmal Ihre Vorgesetzten beim SKZ Zugang zu ihnen hatten. Verraten Sie mir eines, Doktor, wie haben Sie es geschafft, sich nach einem so katastrophalen Verlust wieder aufzurappeln?«

Jede Antwort, die Susan jetzt in den Sinn kam, erstickte gleich in ihrer Kehle.

»Ich sage Ihnen, was ich glaube«, fuhr Fuchs fort. »Daß Sie nämlich Ihrem Leben einen neuen Sinn verliehen haben. Ich denke auch, daß dieser neue Sinn Sie zum Durchhalten befähigt und zu der starken Persönlichkeit weiterentwickelt hat, die Sie heute sind. Und ich bin der Überzeugung, daß Joshua Wolfe nun nichts dringender braucht, als einen neuen Sinn in seinem Leben zu finden. Dem werden Sie wohl kaum widersprechen können.«

Susan schwieg.

»Und wenn es uns gelingt, ihm zu zeigen, daß sich aus dieser Tragödie doch noch etwas Gutes machen läßt«, sagte Haslanger, »wenn wir ihm verdeutlichen, daß all die Toten nicht vergeblich waren, sondern einem höheren Zweck dienten, kann er voraussichtlich verkraften, was ihn jetzt so quält, so wie Sie Ihren Schicksalsschlag gemeistert haben. Nur hier bei Gruppe Sechs wird Joshua Wolfe nicht der gesellschaftliche Außenseiter sein, der er immer gewesen ist. Hier – und nur hier – würde er dazugehören.«

Fuchs versuchte seine verkrampften Gesichtszüge zu lockern. »Ihnen ist die Tragweite seiner Entdeckung klar, oder?«

»Ich …«

»Sie kennen die Grundlagen und das Potential der Nanotechnologie, nicht wahr?«

Susan nickte.

»Das läßt die Mutmaßung zu, daß auch Ihr Interesse an Joshua Wolfe nicht ganz so selbstlos ist. Molekulare Organismen, die schadhafte einzelne Zellen reparieren können … Malen Sie sich ruhig einmal die Möglichkeiten aus!« Fuchs starrte sie wieder kalten Blicks an. »Denken Sie an die Krankheiten, die besiegt werden könnten. Die Menschenleben, die sich retten ließen.«

»Möchten Sie mir einen Handel vorschlagen, Colonel?«

»Ich mache Sie lediglich darauf aufmerksam, daß das Gute, was Joshua Wolfe bei Gruppe Sechs tun könnte, keineswegs auf Waffensysteme beschränkt bleiben muß, Doktor. Ich kann durchaus veranlassen, daß die Forschungen, die Sie zu überwachen haben, sich auch auf andere wissenschaftliche Bereiche erstrecken. Es ist überflüssig, das Bundesgesundheitsamt oder das SKZ mit der Nase auf Ihre wahren Fähigkeiten und Neigungen zu stoßen. Ich kann es in die Wege leiten, daß Ihre Wünsche schon morgen wahr werden.«

»Und als Gegenleistung müßte ich nur …«

»Sie brauchen nur dafür zu sorgen, daß Joshua Wolfe sich hier bei Gruppe Sechs wohl fühlt. Uns dabei helfen, ihm klarzumachen, daß er hierher gehört und daß er hier erfolgreich sein wird.«

Susan war sprachlos. Das Schnurren eines zweiten Telefons auf Colonel Fuchs' Schreibtisch ersparte ihr die Suche nach einer Antwort.

»Was soll das heißen, Sie haben ihn aus den Augen verloren?« brüllte der Colonel ins Telefon.

»Er muß noch hier im Viertel sein, Sir«, versicherte Sinclair in Key West. »Nach meiner Lagebeurteilung …«

»Ihre Lagebeurteilung interessiert mich keinen Deut, Sinclair! Sie haben den Jungen im Netz gehabt und ihn durch die Maschen schlüpfen lassen?!«

»Unsere Leute durchkämmen das Viertel, Sir. Ich wollte Sie um die Genehmigung für eine Verstärkung ersuchen.«

»Sie haben doch schon fünfzehn Mann da unten im Einsatz. Ich kann nicht noch mehr abkommandieren, jedenfalls nicht rechtzeitig genug, daß sie Ihnen noch von Nutzen wären.«

»Ich habe daran gedacht, ein paar Einheimische miteinzubeziehen.«

»Einheimische?!«

»Unter glaubwürdigem Vorwand. Ich bin sicher, daß ich alles unter Kontrolle behalten kann.«

»Sie waren auch sicher, daß Sie den Jungen erwischen, Sinclair. Das haben Sie behauptet, sobald wir wußten, wohin er geht.«

»Da ist noch etwas, Sir.«

»Raus damit.«

»Einer meiner Mitarbeiter ist von dem Jungen angegriffen worden und hat mir das Fehlen seiner Brieftasche gemeldet.«

»Angegriffen, sagen Sie?«

»Jawohl, Sir. Ich schreibe alles in meinen Bericht.«

»Auf den freue ich mich schon. Und der Inhalt der Brieftasche?«

Der Reihe nach zählte Sinclair die Gegenstände auf.

»Ist es eine Angewohnheit Ihrer Männer, ständig mit solchen Sachen durch die Gegend zu laufen?«

»Das Team wurde in größter Eile zusammengestellt. Ein paar meiner Mitarbeiter sind praktisch von der Straße weg herbeordert worden. Meines Erachtens besteht aber kein Anlaß zur Beunruhigung. Der Mann ist eine Spitzenkraft. Der Inhalt seiner Brieftasche kann niemanden auf irgendwelche Spuren bringen.«

»Sehen Sie zu, daß Sie sich den Jungen greifen, Sinclair. Finden Sie ihn, bevor er die Gelegenheit erhält, das Gegenteil zu beweisen.«

Susan Lyle saß in dem Gruppe-Sechs-Büro, das Colonel Fuchs ihr zur Verfügung gestellt hatte, und dachte über ihr weiteres Vorgehen nach. Am liebsten wäre sie augenblicklich aus dieser Einrichtung hinausmarschiert; einfach aufgestanden und durch alle Türen gegangen, die man durchqueren mußte, um diesen miesen Stall zu verlassen – sogar auf Kosten ihrer Karriere.

Joshua Wolfe jedoch machte ihr das unmöglich. Sie konnte ihn nicht einfach Fuchs und Haslanger überlassen. Ihr war völlig klar, daß Gruppe Sechs sich nicht an dieselben Regeln hielt wie normale Regierungsinstitutionen. Zur Erfüllung ihres Auftrags waren die Verantwortlichen dieser Organisation buchstäblich zu allem fähig, und dieser Umstand verhieß nichts Gutes für einen knapp Sechzehnjährigen, der zufällig etwas entdeckt hatte, das Fuchs und Haslanger dringend brauchten.

Aber das war noch nicht alles. Susan wünschte, es hätte damit nicht mehr auf sich; doch der Fall lag leider anders.

»Sie mußten selbst einmal eine schwere Tragödie durchstehen, nicht wahr?«

Genaugenommen wäre Absurdität die passendere Bezeichnung dafür gewesen. Während sie noch die High School besuchte, waren ihre Eltern binnen sechs Monaten nacheinander an Leberkrebs gestorben. Die Ärzte hatten dazu gemeint, die Wahrscheinlichkeit für ein derartiges Vorkommnis läge bei fünfzig Millionen zu eins. Als man jedoch zwei Jahre später bei Susans Bruder Leukämie diagnostizierte, bezifferte man die Wahrscheinlichkeit, daß sie in ihrem späteren Leben daran oder an einem anderen tödlichen Krebs erkranken werde, auf über fünfundsiebzig Prozent.

»Verraten Sie mir, Doktor, wie haben Sie es geschafft, sich nach einem so katastrophalen Verlust wieder aufzurappeln?«

Susan hatte Fuchs keine Antwort gegeben, und sie bezweifelte, daß ihm wirklich daran gelegen gewesen war. Der Colonel hatte ihr lediglich klarmachen wollen, daß er informiert war – daß er die Möglichkeit hatte, alles zu erfahren. Die wahre Antwort lautete, daß der Kampf sie zum Durchhalten und Weitermachen befähigt hatte, ein Ringen, das in Labors stattfand, bei dem als Waffen Mikroskope und Reagenzgläser dienten, und in dessen Verlauf sie eine innige Vertrautheit sowohl mit ansteckenden als auch mit nicht ansteckenden Krankheiten erlangt hatte.

Dank dieser Arbeit hatte sie die Stellung beim SKZ in Atlanta erhalten, wo sie das Aufgabengebiet Seuchenbekämpfung und danach die Sonderabteilung Brandwacht von Anfang an als Sprungbrett zu einer wirklich einflußreichen Position betrachtet hatte. Beispielsweise als Leiterin der Genforschungsabteilung eines großen biotechnischen Unternehmens. Irgendwo in dieser Wissenschaft verbarg sich das Heilmittel gegen Krebs, so wahrscheinlich, wie das Gespenst ihrer Erkrankung in der Zukunft auf sie lauerte, und Susan wünschte sich verzweifelt, an der Forschung mitzuwirken, die dieses Heilmittel entdeckte.

»Das läßt die Mutmaßung zu, daß auch Ihr Interesse an Joshua Wolfe nicht ganz so selbstlos ist …«

Fuchs hatte recht, und die Vorstellung, deswegen nicht besser zu sein als er, erweckte in ihr Selbstabscheu. Sie mußte beweisen, daß sie mehr als er taugte, indem sie dem Jungen half. Sie wußte, wie es war, wenn man unter dem Bann einer Besessenheit stand. Falls Joshua Wolfe das Desaster in der Citypassage von Cambridge den Rest seines Lebens bestimmen ließ, fiele er ihm irgendwann ebenso zum Opfer, wie Susan Leidtragende des Krebses war, ohne bis jetzt selbst daran erkrankt zu sein. Er würde sein Dasein im Zustand emotionaler Leere verbringen, in dem sich jede mögliche Beziehung auf die Erinnerung an Verlust und Schmerz reduzierte, statt zu einer Aussicht auf Hoffnung zu werden.

Trotzdem ging ihr der Gedanke nicht mehr aus dem Kopf, daß Joshua Wolfe jetzt ihre Hoffnung war. Aus diesem Grund wollte sie ihn genau so dringend hier haben wie Fuchs. Vielleicht lohnte es sich, das Angebot des Colonels zu überdenken. Es konnte sein, daß der Junge tatsächlich die besten Chancen hatte, wenn er …

Nein! Nein!

Um das zu bekommen, was sie wollten, würden Fuchs und Haslanger den Jungen zugrunde richten oder ihn, was noch schlimmer war, dahin bringen, sich selbst zu vernichten. Sie waren zu egozentrisch, um zu erkennen, welche emotionalen Folgen das hatte, was sie von ihm forderten: neue, zielsichere Methoden des Tötens zu entwickeln. Ihnen war nicht klar, daß er dabei die Cambridge-Katastrophe immer wieder aufs neue erleben würde. Sie würden so viel wie möglich aus ihm herausholen, bis er schließlich völlig durchdrehte.

Das durfte sie nicht zulassen. Den Jungen vor der Gruppe Sechs zu schützen, bedeutete für sie, wenigstens einen Teil ihrer selbst zu bewahren. Susan mußte ihn in Sicherheit bringen, ehe Fuchs die Klauen so tief in ihn krallte, daß er sich nie wieder davon befreien könnte.

Aber wie?

Als Haslanger in sein nur vom matten Schein der Schreibtischlampe erhelltes Büro zurückkehrte, lümmelte sich dort Krill im Sessel.

»Ich nehme an, es hat alles gut geklappt«, begrüßte der Doktor sein Geschöpf.

»Die Frau war nicht allein«, antwortete Krill und reichte Haslanger etwas.

Es dauerte einen Moment, bis Haslanger in dem trüben Licht erkannte, daß es sich um einen Schnellhefter handelte, auf dessen Vorderseite ein Schwarzweißfoto geklebt war.

»Dieser Mann war bei ihr«, erklärte Krill. »Ich habe ihn anhand der Informationen aus einer Washingtoner Datenbank identifiziert – das heißt, sogar aus mehreren Datenbänken. Sein Name ist Blaine McCracken.«

Haslanger betrachtete das körnige Foto. Dann schlug er die Akte auf. »Du hast gewußt, wo du suchen mußtest?«

»Das war nicht schwierig. Man könnte sagen, er ist ein Unikum. McCracken-Sack.«

»Was?«

»Seite drei. Blätter weiter. Er wird von einigen Leuten McCracken-Sack genannt. Interessiert es dich, warum?«

Haslanger sparte sich die Mühe, Seite drei aufzuschlagen.

»Er hat vor Jahren in London dem Denkmal Winston Churchills den Sack abgeschossen, weil die Briten ihn geärgert hatten. Ich habe den Eindruck, er läßt sich nur ungern ärgern.« Kurz schwieg Krill. »Momentan ist er bestimmt ziemlich sauer.«

»Du hast ihn am Leben gelassen?«

»Irgendwer in der Bibliothek hat ihm geholfen.«

»Ein Kumpan McCrackens?«

»Kann sein. Spielt keine Rolle.«

Haslanger seufzte. Die Akte wog schwer wie Blei in seiner Hand. »Es spielt sehr wohl eine Rolle, wenn dadurch jemand auf Gruppe Sechs aufmerksam wird. Und wenn wir dadurch mehr als nur einen einzelnen gegen uns stehen hätten.«

Haslanger hätte schwören können, daß jetzt die Andeutung eines Schmunzelns Krills fleischige Lippen umzuckte.

»Lies erst mal weiter.«

»Sie sind 'ne echte Nervensäge«, meinte Hank Belgrade, der wie üblich auf der Treppe des Lincoln-Denkmals kauerte. »In Zukunft lasse ich nur noch den Anrufbeantworter laufen.«

Ungeduldig hockte McCracken sich neben ihn auf die Stufe. »Erzählen Sie mir lieber was über Erich Haslanger, Hank.«

Belgrade zeigte die Handteller vor. »Wie Sie sehen, komme ich mit leeren Händen. Dafür gibt's einen Grund. In Haslangers Akte steht nämlich, daß er im Jahre neunzehnhundertdreiundachtzig gestorben sein soll.«

»Aber Sie und ich wissen es besser.«

»Wie Sie es hinbiegen, immerzu dermaßen voll in die Scheiße zu treten, ist mir einfach ein Rätsel, McBeknackt. Und jedes Mal wird der Haufen größer.« Er schaute Blaine verkniffen an. »Je von Gruppe Sechs gehört?«

»Das eine oder andere.«

»Strengen Sie mal 'n bißchen Ihre Phantasie an.«

»Haslanger?«

»Toller neuer Posten für den Dreckskerl. Ich habe keine Ahnung, wo Sie das alles ausgegraben haben, was Sie über ihn wissen, aber eines steht fest: mit diesen Informationen könnten Sie jede Menge Leute in Verlegenheit bringen, die es gar nicht gerne sehen, wenn sie in die Schlagzeilen kommen.«

»Wie stehen die Aussichten, daß ich mal mit ihm plaudern könnte?«

Belgrade setzte eine düstere Miene auf. »Da stünde die Wahrscheinlichkeit besser, 'ne Audienz beim Herrgott zu kriegen. Zu Gruppe Sechs kommt niemand, der nicht die Sorte Sondergenehmigungen vorweisen kann, für die Sie sich schon vor längerem endgültig disqualifiziert haben.«

»Auch wenn dort jemand am größten Massenmord in der Geschichte der Vereinigten Staaten schuld sein könnte?«

»Was?«

»Gestern war ich in Cambridge …«

Belgrades übergroße Backen gerieten ins Schlottern. »Ach du Scheiße …«

»Ich weiß, wer das Desaster in der Einkaufspassage von Cambridge verursacht hat. Ich bin in seiner Studentenbude an der Harvard-Universität gewesen. Ein ungefähr neunzehnhundertachtzig geborenes Wunderkind. Kommt Ihnen das bekannt vor?«

»Operation Offspring …«

»Sie ist noch nicht beendet, Hank. Ich habe sogar den Verdacht, daß Haslanger nie damit aufgehört hat. Und daß er jetzt für Gruppe Sechs weitermacht.«

»Dieses Jüngelchen hat das Ding gedreht?«

»Genau. Und Harry Lime war bis zum vergangenen Herbst, als der Junge an der Harvard-Universität eine Tätigkeit im Rahmen des Forschungsförderungsprogramms aufnahm, sein Vormund. Alles andere ist noch reichlich schleierhaft, deutet allerdings auf Gruppe Sechs hin, denn dort steckt Haslanger heute.«

»Und der Junge?«

»Weg. Verschwunden.«

»Sie behaupten, Gruppe Sechs hätte die Schuld an dem Vorfall?«

»Falls ja, würde mir das zu einer Kontaktmöglichkeit verhelfen?«

Belgrade schüttelte den Kopf. »McBeknackt, hören Sie mir eigentlich nicht zu? Gruppe Sechs genießt die Protektion allerhöchster Kreise. Jeder Mist, den sie baut, unterliegt der strengsten Geheimhaltung. Wenn Sie also hinausposaunen, daß Sie sich mit ihr anlegen möchten, warnen Sie sie höchstens.«

»Es wäre ja denkbar, daß Haslanger allein der Schuldige ist. Wäre das ein Unterschied?«

»Ja, damit würde alles noch schlimmer. Das Pentagon hat keinen Aufwand gescheut, um Haslangers Mitarbeit zu verheimlichen. Wenn Sie nun in Ihrem typischen McBeknackt-Stil Staub aufwirbeln, hat das kein anderes Ergebnis, als daß Ihnen erst recht sämtliche Türen verschlossen bleiben.«

»Tja, ich glaube, dann muß ich mir wohl auf meine Art einen Weg zu diesen Zeitgenossen suchen, Hank.«

»An Ihrer Stelle würde ich schlicht und einfach die Finger von der Sache lassen.«

Blaines Brauen ruckten empor. »Sie sind aber nicht an meiner Stelle.«

»Ich weiß, und mir ist klar, daß Sie nie die Pfoten von irgend etwas Brandheißem lassen können. Aber wenn Sie sich in diese Scheiße hineinreiten, kennt Sie hier keiner mehr. Im guten, alten Washington haben die Leute ein kurzes Gedächtnis. Wenn Sie Gruppe Sechs an den Karren pinkeln, erinnert sich niemand mehr daran, Ihnen eine Gefälligkeit zu schulden, dann haben Sie keine Freunde mehr, das garantiere ich Ihnen.«

»Ich werde versuchen, keinem auf die Füße zu treten.«