Kapitel
22

»Sie kommen gerade durchs Brookhaven-Haupttor, Sir«, meldete Larsen, als Colonel Lester Fuchs die Kommando- und Kommunikationszentrale von Gruppe Sechs betrat.

Einer der zwei Dutzend Monitore, die in der Mitte des Raumes in eine enorme Konsole integriert waren, zeigte eine Kolonne aus drei Wagen, die auf dem Weg zu Gruppe Sechs gerade die ersten Forschungsgebäude Brookhavens passierte. Auf drei weiteren Monitoren mit erheblich höherer Bildqualität und besseren Darstellungsmöglichkeiten ließ sich beobachten, wie die Kolonne die insgesamt sieben Minuten lange Fahrt fortsetzte.

»Ich gehe hinunter«, sagte Fuchs und rückte sich in der Ohrmuschel einen Miniatur-Ohrhörer zurecht, über den er mit der Kommando- und Kommunikationszentrale in Verbindung blieb.

Auf dem Weg zur Tiefgarage dachte Fuchs erneut darüber nach, wie er am besten mit Joshua Wolfe umgehen sollte. Vor vier Stunden hatte er sich mit Haslanger beraten, nachdem der Doktor seine Untersuchung des Faxgeräts, das in Key West aus Harry Limes Wohnung geholt und unverzüglich zur Gruppe Sechs geflogen worden war, beendet hatte.

»Brillant«, war Haslangers wiederholter Kommentar gewesen, während er sich in seinem Privatlabor über einen mit Werkzeugen übersäten Tisch beugte. Mitten auf dem Tisch hatte das Faxgerät gestanden, dessen Rückseite abgeschraubt war. »Eindeutig brillant, genau wie ich es erwartet habe.« Er richtete den Blick auf Fuchs. »Er fehlt.«

»Wer fehlt?«

»Der Chip. Sehen Sie, Colonel, ein Faxgerät beruht auf den gleichen Prinzipien wie ein Computer. Das Gerät, das ein Fax sendet, digitalisiert die Mitteilung und schickt sie durch die Leitung zum Empfängergerät, das sie rückverwandelt und druckt. Bei diesem Apparat hat Joshua Wolfe den für die Rückverwandlung zuständigen Chip entfernt.«

»Weshalb?«

»Was habe ich Ihnen gesagt, als ich dem Gerät die Rückseite abschraubte?«

»Daß kein Papier drin ist.«

»Genau. Und weil die eingegangene Mitteilung darum nicht ausgedruckt werden konnte, ist sie im Gerät auf dem Chip gespeichert geblieben. Als der Junge den Chip entnommen hat, sind von ihm praktisch alle Faxtexte, die seit Ausgehen des Papiers eingegangen sind, entfernt worden. Wenn er also die CLAIR-Formel der Adresse in Key West zugefaxt hat, mußte er persönlich hin, um sie wieder an sich zu bringen.«

»Reichlich gewagt.«

»Die Sache war das Risiko wert, oder etwa nicht?«

Trotz Sinclairs gründlicher Suche war der Chip weder im Gepäck des Jungen noch in dem Hotelzimmer in Orlando gefunden worden. Aber das beunruhigte Fuchs nicht. Er rechnete vollauf damit, daß Joshua Wolfe, sobald er bei Gruppe Sechs eintraf, ihm das Versteck des Chips verraten würde.

»Abschaltung Sicherheitssysteme, Sir«, drang Larsens Meldung aus dem Ohrhörer, während Fuchs im Lift ins dritte Tiefgeschoß hinabfuhr. »Tor wird geöffnet.«

Kurzes Schweigen folgte.

»Zufahrtstraße beleuchtet.«

Das Abschalten der Sicherheitsanlagen erstreckte sich ausschließlich auf die schmale, zweispurige Zufahrtsstraße, die vom Elektrozaun rings um das Gruppe-Sechs-Hauptquartier bis zur Abfahrt in die Tiefgarage verlief. Auf dem übrigen Grundstück blieben alle Sicherheits- und Abwehrsysteme in Betrieb. Unter diesen Umständen war es unbedingt nötig, daß die Autokolonne sich sorgfältig zwischen den Leuchtmarkierungen beiderseits der Zufahrt hielt und auf keinen Fall davon abwich.

»Geben Sie Dr. Haslanger durch, daß es soweit ist«, befahl Fuchs, als im Tiefgaragengeschoß die Lifttür aufrollte.

Haslanger hatte die Ankunft der Wagenkolonne auf dem Monitor seines Büros mitverfolgt. Er stand beinahe im gleichen Augenblick auf, in dem Fuchs sich auf den Weg zur Garage machte. Er griff nach der Fernbedienung, um den Monitor auszuschalten, als eine Stimme hinter ihm ihn verharren ließ. »Wenn du nichts dagegen hast, möchte ich gerne zuschauen.«

Krill …

Die Stille im Zimmer und die Aufregung hatten Haslanger wahrhaftig die Anwesenheit Krills vergessen lassen.

»Nein, natürlich nicht«, gab er voller Unbehagen zur Antwort.

»Das ist das erste Mal, was?«

Haslanger drehte sich um zu Krills wuchtiger, unförmiger Silhouette, die sich vor dem matten Licht des Bildschirms nur schwach abzeichnete. »Was meinst du?«

»Daß zwei deiner Geschöpfe gleichzeitig am selben Ort sind. Ich dachte, das wäre dir klar.«

Haslanger wünschte, er wäre schon zur Tür hinaus. Auch Krill war sein Geschöpf, gewiß, aber im Vergleich mit Joshua Wolfe schnitt er schlecht ab. Immerhin war Joshua in der normalen Gesellschaft funktionsfähig. Krills Äußeres dagegen machte das unmöglich. Beinahe hätte Haslanger ihn damals eliminiert, so wie er mit der überwiegenden Mehrheit der anderen Retortenkinder kurz nach der Geburt verfahren war; erst auf den zweiten Blick hatte Krill ausreichende Eigenschaften erkennen lassen, die zumindest eine gewisse Hoffnung rechtfertigten.

Krill war nicht der einzige gewesen, der der umgehenden Eliminierung entging, jedoch der erste Sprößling, der nicht in der Kindheit mit zahllosen körperlichen Schwierigkeiten zu kämpfen gehabt hatte. Vom ersten Tag an hatte er einen hartnäckigen Willen zum Leben bewiesen und ihn beharrlich beibehalten.

Aber was Haslanger am stärksten überrascht hatte, war die Gehirnkapazität dieses Wesens. Er zeigte eine eindrucksvolle Begabung zum Lesen und begann schon als Kleinkind, Musik zu schätzen. Normaler Schulunterricht war nie für ihn geplant gewesen, doch im Laufe der vielen, langen Stunden der Einsamkeit, die das Dasein für Krill bereithielt, hatte er sich selbst enorm viel beigebracht. Er war das Produkt eines Experiments, das ihn zu einem Leben im Labor verurteilte, nachdem man die Forschung längst beendet hatte. Bei Gruppe Sechs war ihm durch Haslanger eine Unterkunft eingerichtet worden; dort saß Krill herum und las im Dunkeln. Er kam im allgemeinen nur zum Vorschein, wenn der Doktor ihn zu sich bestellte.

»Und es ist ein wirklich interessantes Ereignis«, fügte Krill hinzu. »Immerhin verkörpern dieser Junge und ich die Gesamtsumme deines Lebenswerks. Ich würde mich gerne mal mit ihm zusammensetzen und über unsere Gemeinsamkeiten diskutieren. Aber das ist sicher nicht der Grund, warum du mich von meinen Büchern weggerufen hast.«

Haslanger öffnete die Tür, schirmte jedoch mit seiner Gestalt einen Großteil des Lichts ab, das aus dem Korridor hereinfiel. »Ich habe mich über den Mann informiert, dem du bei deinem Besuch in der New Yorker Stadtbibliothek in die Arme gelaufen bist … Über diesen McCracken.«

»Ich mich auch.«

»Er ist gefährlich.«

»Ich weiß.«

»Allerdings wissen wir nicht genau, ob seine Kontaktaufnahme mit Gloria Wilkins-Tate im Zusammenhang mit mir stand.«

»Falls ja, spürt er dich auf.«

»Mich gibt es nicht mehr.«

»Das gleiche galt für Gloria Wilkins-Tate.«

»Du glaubst also, er kann mich hier bei Gruppe Sechs finden?«

»Ich bin mir sicher, daß er kommt. Es ist unabwendbar.«

Haslanger fühlte Krills Blick auf sich ruhen.

»Das war das erste Mal, daß ich bei meiner Arbeit versagt habe, Vater. Darum will ich hier sein, wenn er kommt.«

Einer der in Zivil gekleideten Sicherheitsleute Fuchs' führte Dr. Susan Lyle in die Tiefgarage.

»Ah, vielen Dank, daß Sie sich zu uns bemühen, Doktor«, begrüßte der Colonel sie geradezu überschwenglich. Offenbar fühlte er sich in seiner Galauniform richtig wohl. »Ich hoffe, es stört Sie nicht, daß ich Ihnen einen Begleiter geschickt habe, aber ich wußte nicht, ob Sie den Weg kennen.«

»Ich weiß Ihre Umsicht zu schätzen.«

Kurz nach Susan traf Haslanger ein; sie bemühte sich, ihn keines Blicks zu würdigen.

»Ich habe vor, Sie beide dem Jungen gleich vorzustellen«, erklärte der Colonel und wandte sich dann an Susan. »Es wäre sehr hilfreich, wenn Sie so tun, als gehörten Sie schon lange zu uns. Weitere Verwirrung könnte nur dazu beitragen, dem ohnehin angeschlagenen Gemüt des Jungen noch stärker zu schaden. Er braucht klare Verhältnisse, Ordnung, um sich freudig auf das einlassen zu können, was wir ihm zu bieten haben.«

»Er wird nichts anderes von mir hören«, antwortete Susan und versuchte, ihrem Tonfall die Schärfe zu nehmen.

Plötzlich hob sich ein Tor, das eigentlich ein Teil der Wand war, und das Scheinwerferlicht eines Fahrzeugs stach in den Einfahrtsbereich der Tiefgarage. Der Wagen rollte weit genug herein, um auch den beiden nachfolgenden Autos die Einfahrt zu ermöglichen. Aus dem mittleren Fahrzeug stieg niemand. Erst als die Insassen der beiden anderen Wagen herausgesprungen waren und in steifer Haltung, als müßten sie Wache stehen, Aufstellung bezogen hatten, wurde eine hintere Tür des dritten Autos geöffnet. Ein weiterer Mann schwang sich heraus, und hinter ihm folgte Joshua Wolfe.

Die Jeans und das Hemd, die er trug, unterschieden ihn nicht im geringsten von anderen Jugendlichen seiner Altersstufe; zusammen mit dem modisch-langen Haar und der weißen Holzperlenkette um seinen Hals hätte er irgendein x-beliebiger Fünfzehnjähriger sein können.

Doch er hatte nicht die Augen eines Teenagers. Da endete, erkannte Susan, jeder Vergleich. Die tiefblauen Augen hatten wegen ihrer eindringlichen Ausdruckskraft etwas nahezu Bedrohliches. Ihrer Aufmerksamkeit entging nichts. Sie kamen Susan fast frech oder arrogant vor, aber sie wußte, daß sein Blick lediglich eines der Hilfsmittel war, mit denen dieser Junge mit einem IQ von über zweihundert seinem Wunderhirn Informationen zuführte. Er saugte alles auf, was er sah, vor allem, wenn er sich in neuer Umgebung befand. Trost fand sich in Vertrautem, und eben danach war Joshua Wolfe gegenwärtig auf der Suche.

»Guten Abend, Mr. Sinclair«, empfing Fuchs den vor Joshua Wolfe aus dem Wagen gestiegenen Mann. »Ich hoffe, die Reise ist gut verlaufen.«

»Ohne besondere Vorkommnisse«, sagte der Mann und wandte nur widerwillig den Blick von dem Jungen.

Joshua Wolfe war zwischen dem Auto und dem Colonel stehengeblieben und betrachtete Fuchs nicht aufmerksamer, als er den ganzen Rest der neuen Umgebung musterte. Fuchs ging auf ihn zu und streckte ihm die Hand entgegen.

»Ich bin Colonel Lester Fuchs, Leiter von Gruppe Sechs.«

Joshua Wolfe nahm die Hand mit lockerem Griff, während sein Blick unvermindert das Umfeld erkundete. Dann besah er sich den Colonel von oben bis unten und war offenbar nicht im mindesten beeindruckt.

»Ich erinnere mich an Ihren Namen aus den Dateien, die ich mir angeschaut habe.«

»Bestimmt haben die Dateien Ihr Interesse geweckt, Josh. Ich darf Sie doch Josh nennen?«

»Klar. Auf die wirklich interessanten Sachen konnte ich aber nicht zugreifen …« Josh schwieg einen Atemzug lang. »… Lester …«

Fuchs räusperte sich unbehaglich. »Das läßt sich ändern, wenn Sie es möchten, wir können Ihnen jede Datei, jede Apparatur und jedes Laboratorium verfügbar machen, die wir hier haben.« Er drehte sich nach Susan und Haslanger um. »In diesem Zusammenhang würde ich Ihnen gerne zwei andere Personen vorstellen.« Der Blick des Jungen schwenkte in Susans und Haslangers Richtung. Joshua Wolfes Augen verengten sich.

Haslanger nickte; anscheinend faszinierte es ihn, einer Kreatur seiner Labor-Experimente zu begegnen – doch gleichzeitig wirkte er, als wäre er auf der Hut.

Susan zwang sich zu einem Lächeln und erinnerte sich an das Foto, das Blaine McCracken in Wolfes Studentenbude gefunden hatte. Obwohl es erst vor ungefähr einem Jahr aufgenommen worden war, machte Joshua Wolfe jetzt einen merklich älteren, reiferen Eindruck. Es mußte an den Augen liegen, überlegte Susan. Das bißchen Unschuld, das man ihm auf dem Foto noch hatte ansehen können, war dahin, und das weit gründlicher, als es sich durch das Verstreichen nur eines Jahrs erklären ließe. Der lächelnde Mann, der auf dem Bild neben dem Jungen stand, fiel Susan ein – der Mann, dessen Verschwinden McCracken in die Geschehnisse verwickelt hatte. Susan fragte sich, welche Ausreden Fuchs wohl für den Fall ausgebrütet haben mochte, daß Joshua Wolfe nach dem Verschwundenen fragte.

»Dr. Haslanger ist Chef der Forschungs- und Entwicklungsabteilung«, konstatierte Joshua Wolfe in sachlichem Ton. »Aber ich habe aus seiner Personaldatei nichts über seine Tätigkeit vor der Arbeitsaufnahme bei Gruppe Sechs ersehen können.« Leicht befremdet sah der Junge Susan an. »Und Ihr Name ist überhaupt nicht verzeichnet.«

»Ich bin erst jetzt hierher versetzt worden«, antwortete Susan mit Hochgenuß. Sie konnte geradezu spüren, wie Colonel Fuchs innerlich zu kochen begann.

»Von woher?«

»Vom Seuchenkontrollzentrum.«

»Ach so«, sagte der Junge und ließ ein wenig den Kopf sinken. Er hob ihn so weit wieder an, daß er scheu Susans Blick erwidern konnte. »Dann weiß ich, warum Sie hier sind. Es gibt noch keine Datei darüber, aber vermutlich dachten sie zunächst, daß … daß das, was ich angestellt habe, eine Seuche sei.«

»Unsere erste Annahme ging davon aus, ja«, bestätigte Susan. »Aber wir mußten bald umdenken.«

»Sie sind es gewesen, die herausgefunden hat, daß ich schuld bin, nicht wahr?«

»Ja.«

»Und wie? Es muß an dem Rucksack gelegen haben. Hätte ich ihn nicht verloren, wäre ich jetzt nicht hier bei Ihnen, stimmt's?«

Susan schaute Lester Fuchs an; sein Gesicht war vom Uniformkragen bis zu den Haarwurzeln rot angelaufen. »Das gilt für uns alle.«

»Aber mich haben Sie nur wegen des Rucksacks finden können. Als ich gemerkt habe, daß ich ihn nicht bei mir hatte, hätte ich umkehren sollen. Überlegt hatte ich es mir ja, aber … Na, ich habe es eben nicht getan.« Nun bekamen seine nahezu unheimlich eindringlichen Augen einen sanfteren Ausdruck und glichen zum erstenmal Kinderaugen. »Es war eben ein schwarzer Tag.«

Fuchs hatte sich an Susans Seite geschoben. »Wir wissen, was Sie dort zu leisten versucht haben, Josh«, sagte er. Susan hörte, wie die Leere der weiträumigen Tiefgarage seinen Äußerungen einen hohlen Klang verlieh. »Es war ein bewunderungswürdiges, lobenswertes Projekt.«

Blitzartig gewannen Wolfes Augen ihren genialischen Glanz zurück. »Aber es hat keinen Bezug zu dem, was Sie hier bei Gruppe Sechs tun, oder, Lester?«

»Nein, wie Ihnen genau bekannt ist, nicht.«

»Was soll dann an der Sache in Cambridge so lobenswert sein? Was ich erreichen wollte, oder was ich bewirkt habe?«

»Es liegt mir fern, den Tod unschuldiger Menschen als etwas Erstrebenswertes zu bezeichnen, aber ebensowenig halte ich es für wünschenswert, daß ihr Ableben ohne Sinn bleiben soll.« Fuchs musterte Joshua Wolfe fest. »Vor allem, junger Mann, wenn ihr Tod den Nutzen erbringen kann, in der Zukunft Abertausende von Toten zu vermeiden.«

»Ist das ein von Ihnen verfolgtes Ziel?«

»Sie haben unsere Daten gesehen. Geben Sie sich selbst die Antwort.«

»Genau darum dachte ich mir, ich frage mal lieber nach.«

Fuchs blieb ruhig. »Ja, das ist unser Ziel.«

»Und was wollen Sie in diesem Zusammenhang von mir? Was kann ich Ihrer Ansicht nach dazu beitragen?«

»Ist das nicht offensichtlich?«

»Nein.«

»Erst einmal möchten wir CLAIR in der Originalform, genauer gesagt, so wie der Organismus in der Citypassage von Cambridge freigesetzt wurde.«

»Ich bezweifle, daß Sie daraus für Ihre Arbeit einen Nutzen ziehen können.«

»Das kommt auf die Betrachtungsweise an«, erwiderte Fuchs. »Denken Sie daran, daß wir an der Entwicklung von Waffen arbeiten, deren Wirkung sich auf ein begrenztes Gebiet beschränkt.«

»Waffen, die töten.«

»Nur wenn nötig.«

»Ist es letzten Endes nicht immer nötig?«

Fuchs trat einen Schritt vor. »Nicht unbedingt. Eben deshalb möchte ich, daß Sie uns die Gelegenheit geben, Ihnen einige der Projekte zu erläutern, mit denen wir uns beschäftigen.«

»Ihnen die Gelegenheit geben? Habe ich eine Wahl?«

»Sie sind kein Gefangener, Josh. Ein Wort von Ihnen, und ich lasse Mr. Sinclair Ihre Abreise nach Cambridge arrangieren.« Der Colonel sah ihm direkt ins Gesicht. »Allerdings denke ich, daß wir nicht die einzigen sind, die an Ihnen interessiert sind. Fest steht aber, daß wir Ihnen am verständnisvollsten gegenüberstehen.«

»Und wenn ich nun dorthin will, wohin Sie Harry Lime gebracht haben?«

»Mir ist nicht recht klar, wovon Sie sprechen.«

»Sie kennen meine Akte, Lester, so wie ich Ihre kenne.«

Susan wartete nicht weniger gespannt als Josh auf Fuchs' Antwort.

»Oh, selbstverständlich weiß ich über die verdienstvolle Rolle Bescheid, die Harry Lime in den Jahren Ihres Heranwachsens hatte«, sagte der Colonel. »Aber leider weiß ich nichts über die Gründe seiner gegenwärtigen Abwesenheit. Wir haben Nachforschungen eingeleitet. Es kann sein, daß er zur Zeit einen Regierungsauftrag ausführt. Wenn dabei keine formelle Befehlserteilung erfolgt, ist so etwas sogar für uns schwer nachprüfbar.«

»Das waren heute Ihre Männer in seiner Wohnung.«

»Ja.«

»Und Sie haben ihn nie gesehen?«

»Nein.«

»Mir ist es wirklich sehr wichtig, daß Sie ihn finden, Lester.«

»Wie gesagt, wir versuchen es.«

»Ich hätte gerne, daß Sie ihn herholen, damit wir Zusammensein können.«

»Eine gute Idee. Lohnt sich ohne weiteres, darüber nachzudenken. Aber was halten Sie davon, sich erst einmal von Dr. Haslanger alles zeigen zu lassen? Wäre das ein Problem, Doktor?«

Nervös schüttelte der Alte den Kopf. »Nein.«

Joshua Wolfes Blick streifte nochmals Susan. »Und was ist mit Dr. Lyle?«

»Sie stößt später dazu, junger Freund. Ich muß vorher noch etwas mit ihr besprechen.«

»Wie lautet Ihre Einschätzung, Doktor?« fragte Fuchs, nachdem ein nervöser Haslanger den Jungen fortgeführt hatte.

»Welche Einschätzung?« stellte Susan die Gegenfrage.

»Des Jungen.«

»Ich bin Spezialistin für Infektionskrankheiten, Colonel, keine Psychologin. Ich dachte, das hätten wir geklärt.«

»Und welches Urteil geben Sie als Mensch über ihn ab?« wollte Fuchs erfahren. »Und als Frau.«

Bei der letzten Bemerkung zog Susan die Brauen hoch. »Sie sind es wohl nicht gewöhnt, mit Frauen zusammenzuarbeiten, stimmt's, Colonel?«

Fuchs zuckte mit den Schultern. »Wenn man schon so lange wie ich beim Militär ist …«

»Ich nehme an, den Umgang mit Kindern sind Sie noch weniger gewöhnt.«

»Also betrachten Sie Joshua Wolfe als ein Kind.«

»Allerdings als ein höchst außerordentliches Kind. Aber gefühlsmäßig ist er den gleichen Stimmungsschwankungen und Gemütswallungen wie alle Kinder seines Alters unterworfen.«

»Erwarten Sie, daß daraus Schwierigkeiten entstehen?«

»Ich verstehe nicht ganz, worauf Sie hinauswollen.«

Fuchs maß sie vorwurfsvollen Blicks. »Dr. Lyle, ich hatte vor, noch einmal mit Ihnen über unser gemeinsames Hauptanliegen zu sprechen. Joshua Wolfe hat etwas, das wir hier bei Gruppe Sechs haben wollen. Wir haben uns dafür entschieden, ihn nicht zu verhören, ihn zu nichts zu zwingen, überhaupt nichts gegen seinen Willen zu unternehmen. Unser Bestreben ist, daß er sich uns aus freien Stücken anschließt, und wir bauen auf Ihre Unterstützung, um ihn davon zu überzeugen, daß es so für ihn am vorteilhaftesten ist.«

»Und wie soll ich nach Ihrer Vorstellung dabei vorgehen?«

Der Colonel lächelte. Er senkte seine Stimme und schlug einen beinahe liebenswürdigen Tonfall an. »Dr. Lyle, die Gründe für Ihren Ehrgeiz, Ihre hochgesteckten Ziele und die Verzweiflung, die Sie dabei antreibt, sind mir vollkommen verständlich. Aber wie weit sind Sie noch von der Art führender Forschungsposition entfernt, die Ihnen vorschwebt? Gruppe Sechs hat in Washington einflußreiche Freunde. Wenn Sie uns in dieser Angelegenheit behilflich sind, würden wir Ihnen bestimmt unsererseits in jeder gewünschten Hinsicht weiterhelfen.«

»Ich habe nie behauptet, ich wäre dort, wo ich bisher war, unzufrieden gewesen.«

»Das hatte sich erübrigt. Mir ist gänzlich klar, daß Sie das SKZ und die Sonderabteilung Brandwacht immer nur als Sprungbrett angesehen haben. Beides die Mühe wert, versteht sich, aber kaum anspruchsvoll genug für Ihre Fähigkeiten und Ihre Zukunftsvorstellungen. Warum stufen Sie Ihren Aufenthalt bei uns nicht einfach als eine weitere, höhere Stufe Ihres Aufstiegs, einen wahren Glücksfall für Sie ein?«

Er kam Susan unangenehm nah, so daß sie am liebsten vor ihm zurückgewichen wäre. »Ich kann Ihre Wunschvorstellungen verstehen. Was die Strebsamkeit angeht, sind wir beide gar nicht so verschieden. Daß unsere Beweggründe sich unterscheiden, läßt sich nicht leugnen. Aber wir haben es beide auf höhere Positionen abgesehen, an denen wir unsere Fähigkeiten besser entfalten können. In dieser Beziehung kann Joshua Wolfe uns beiden eine Hilfe sein, Doktor, und wir können Joshua Wolfe helfen.«

»Ist es das, wovon ich ihn überzeugen soll?«

»Die Macht solcher Organisationen wie der unseren kann vieles bieten, aber einer der wertvollsten Vorteile ist ihre Schutzfunktion, der Schutz vor Mißverständnissen, Benachteiligung und vor herkömmlicher Strafverfolgung. Am Eingangstor zu Gruppe Sechs läßt ein Mensch alles zurück, was vorher gewesen ist. Von da an wird er nur noch anhand des Beitrags beurteilt, den er zur gemeinsamen Arbeit leisten kann.«

Ein paar Sekunden lang schwieg Fuchs. »Wir haben die Möglichkeit, Joshua Wolfe vor den Konsequenzen dessen zu schützen, was sich in Cambridge ereignet hat. Wir können seine Verantwortung für den Tod von über siebzehnhundert Menschen aus den Geschichtsbüchern streichen, mehr noch, wir sind dazu in der Lage, zur Beruhigung seines Gewissens dafür eine nachträgliche Rechtfertigung zu finden. Ihm muß gezeigt werden, daß zum Schluß doch immer etwas Positives herauskommt, und ich glaube, dank Ihrer Mitwirkung, Doktor, kann es uns gelingen, ihm diese Wende zum Guten zu verdeutlichen.«

In diesem Moment, als Susan Colonel Lester Fuchs' vielsagenden Blick erwiderte, begriff sie endgültig. Sie hatte es womöglich von Anfang an geahnt, gestand es sich jedoch erst jetzt unzweideutig ein: Egal, was passierte, Joshua Wolfe gehörte von nun an zur Gruppe Sechs.

Man würde sein gesamtes restliches Leben nach den Bedürfnissen dieser Organisation verplanen. Sein Genie war zu kostbar und außerdem ein zu großes Gefahrenpotential, um ihn je wieder eigene Wege gehen zu lassen. Alles andere, Susans Anwesenheit eingeschlossen, war pure Heuchelei.

Doch während Fuchs den Jungen ihrer Überzeugungskraft anvertraute, war ihm nicht bekannt, daß sie durch Blaine McCracken über die wahren Vorgänge um Harry Lime informiert war und folglich wußte, daß der Colonel vor nichts zurückschreckte, um seine Absichten zu verwirklichen. Dieser Umstand bestärkte sie in ihrer Entschlossenheit, dem Jungen wirklich zu helfen, nämlich ihn darüber aufzuklären, daß alles besser war, als den Vorschlag, bei Gruppe Sechs zu bleiben, anzunehmen.

»Ich werde sehen, was ich tun kann«, sagte Susan zu Fuchs.

In den Ozark-Bergen, im Quarantänezentrum des Seuchenkontrollzentrums im Mount Jackson, war alle Arbeit, seit Killebrew am Vortag seine bestürzende Entdeckung gemacht hatte, zum Stillstand gekommen. Er hatte beschlossen, sämtliche weiteren Untersuchungen der Opfer des Desasters in der Citypassage von Cambridge und die damit zusammenhängenden Experimente auszusetzen, bis er Susan Lyle erreicht hatte.

Killebrew empfand ebensoviel Erbitterung wie Furcht. Seine gesamten Bemühungen, Susan Lyle zu kontaktieren, waren erfolglos geblieben; er hatte lediglich erfahren, daß ein SKZ-Direktor, den er nur aus einem SKZ-Selbstdarstellungsfilm kannte, sie zur zeitweiligen Leiterin eines Forschungsprojekts ernannt hatte. Aber Killebrew wollte seine schockierende Entdeckung nicht völlig fremden Leuten anvertrauen; er wollte niemand anderem als Susan mitteilen, was er am Vortag herausgefunden hatte:

Der Organismus namens CLAIR war nicht abgestorben.